Dtsch Med Wochenschr 2016; 141(17): 1270-1271
DOI: 10.1055/s-0042-112473
Medizin im Kontext
Medizin weltweit
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Medizinische Versorgung von Flüchtlingen

Frank Lichert
,
Gerhard Trabert
,
Martin Kalchthaler
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Publication History

Publication Date:
24 August 2016 (online)

 

Obwohl die Flüchtlingszahlen in Deutschland im Jahr 2016 gegenüber 2015 stark gesunken sind, bestehen weiterhin viele Probleme, die nach wie vor hohe Ansprüche an die Behörden und Hilfskräfte stellen. Insbesondere die medizinische Versorgung von Asylsuchenden ist nach Einschätzung vieler Ärzte bislang nicht befriedigend geregelt.


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Die medizinische Versorgung von Asylbewerbern regelt in Deutschland das Asylbewerberleistungsgesetz. Nach § 4 hat ein Flüchtling gegenüber einem gesetzlich Versicherten lediglich einen „eingeschränkten Anspruch auf medizinische Versorgung“. Ärzte sind angehalten, sich bei der medizinischen Versorgung auf akute Erkrankungen und die Behandlung von Schmerzen zu beschränken. Aber wie ist das mit den ethischen Prinzipien des Arztberufes in Einklang zu bringen? Der Präsident der Bundesärztekammer Prof. Dr. Frank Ulrich Montgomery fordert die Einführung einer Gesundheitskarte für alle Flüchtlinge, die ihnen den Zugang zur Regelversorgung erlaube. Zudem sei es notwendig, die Einschränkungen des Asylbewerberleistungsgesetzes aufzuheben.

Infektionskrankheiten vermeiden

Ausländer, die nach Deutschland kommen und in einer Aufnahmeeinrichtung oder Gemeinschaftsunterkunft leben, müssen sich laut § 62 Asylgesetz einer ärztlichen Untersuchung auf übertragbare Krankheiten unterziehen (z. B. Tuberkulose, Masern, Windpocken, Noroviren, Skabies). Um Infektionskrankheiten zu vermeiden, spricht sich das Robert Koch-Institut dafür aus, neben Vorscreening und Erstaufnahmeuntersuchung den Asylbewerbern medizinische Behandlungsangebote zu machen. Hierzu gehören beispielsweise Impfungen gegen vermeidbare Krankheiten. Letzteres ist besonders wichtig, da bei Flüchtlingen häufig der Impfschutz fehlt oder der Impfstatus unbekannt ist.


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Keine psychologische Betreuung

Nach Schätzungen der Bundespsychotherapeutenkammer sind mindestens die Hälfte aller Flüchtlinge in Deutschland psychisch krank. Zum überwiegenden Teil handelt es sich dabei um posttraumatische Belastungsstörungen und depressive Erkrankungen. In der Praxis wird eine psychologische Behandlung meist abgelehnt, weil es sich bei psychischen Erkrankungen in aller Regel um chronische Krankheiten handelt, die nach dem Asylbewerberleistungsgesetz als nicht prioritär eingestuft wurden. Dabei ist davon auszugehen, dass unbehandelte Traumata Folgeerkrankungen und aufgrund einer voraussichtlich hohen Zahl von Menschen, die dauerhaft in Deutschland bleiben, enorme Folgekosten nach sich ziehen werden.

Insgesamt wird deutlich, dass eine epochale Herausforderung wie die Bewältigung des Flüchtlingsstroms nach Deutschland von staatlichen Stellen alleine nicht zu meistern ist. Vor allem im Rahmen der medizinischen Versorgung von Flüchtlingen wurden deshalb eine Vielzahl von nicht staatlichen Initiativen ins Leben gerufen, die wertvolle Arbeit leisten. Die Interviews mit Prof. Dr. Gerhard Trabert und Dr. Martin Kalchthaler belegen dies.

Text und Interviews: Dr. Frank Lichert


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Herr Professor Trabert, Sie engagieren sich schon seit vielen Jahren für medizinisch unterversorgte Menschen und haben u. a. die „Medizinische Ambulanz ohne Grenzen“ ins Leben gerufen. Wie kam es dazu?

Im Zuge der Einführung der Agenda 2010 und den damit einhergehenden Einschnitten im Sozial- und Gesundheitswesen kamen und kommen immer mehr Menschen in unsere mobile Praxis, da sie ohne vorzeigbare und gültige Versicherungskarte nicht behandelt werden. Diesen Menschen wollten wir mit der „Medizinischen Ambulanz ohne Grenzen“ helfen.

Wer arbeitet in der Ambulanz mit?

Bei uns engagieren sich mittlerweile ca. 25 Ärztinnen und Ärzte, Sozialarbeiterinnen, Hebammen und Krankenschwestern. Diese arbeiten größtenteils ehrenamtlich, ein Teil ist aber auch fest angestellt in unserem Verein „Armut und Gesundheit in Deutschland“. Wir bieten Sprechstunden zu festen Zeiten mit Allgemeinmedizinern, aber auch mit Internisten, Kinder- und Frauenärzten usw. an. Diese Sprechstunden werden zunehmend von geflüchteten Menschen besucht.

Auf welchem Weg kommen Sie mit behandlungsbedürftigen Asylsuchenden in Kontakt?

Wir besuchen regelmäßig 6 Sammelunterkünfte der kommunalen Versorgung von geflüchteten Menschen mit unserem Arztmobil. Wir bieten ehrenamtlich eine medizinische Erstversorgung an, die in enger Kooperation mit der Sozialarbeit stattfindet. Ein großes Problem ist die Tatsache, dass Asylsuchende keine Krankenversichertenkarte besitzen. Dies ist eine große Hürde bei der medizinischen Versorgung der betroffenen Menschen. Wir sind zusammen mit Dolmetschern vor Ort und bieten unsere Hilfe an und vermitteln die Geflüchteten wieder ins bestehende Gesundheitssystem, z. B. an niedergelassene Kollegen.

Was sind Ihre Forderungen an die Politik?

Ganz klar, die Einführung einer Gesundheitskarte für jeden Asylsuchenden. Weiterhin fordern wir eine Reform der § 4 und 6 des Asylbewerberleistungsgesetzes: Die Beschränkung der medizinischen Versorgung auf akute Erkrankungen und Schmerzzustände ist nicht menschenrechtskonform. Asylbewerber sollten das gleiche Recht auf eine umfassende medizinische Versorgung erhalten, wie alle anderen Menschen in Deutschland auch. Wichtig wären auch mehr Impfaktionen, da ist einiges versäumt worden. Auch bei der Behandlung von Traumata und posttraumatischen Belastungsstörungen existiert noch kein funktionierendes Konzept.

Was ist Ihre Motivation bei der Arbeit mit geflüchteten Menschen?

Den Menschen mit Würde und Respekt zu begegnen. Und damit Ihnen eine, auf ihrer langen Flucht häufig verlorengegangenen Würde, wieder zurückzugeben. Und die europäische Flüchtlingspolitik, die meines Erachtens nicht mit den Menschenrechten vereinbar ist, nachhaltig zu kritisieren. Die Schließung der Balkanroute führt dazu, dass wieder mehr Menschen über das Mittelmeer flüchten und dabei sterben. Das ist nicht akzeptabel. Es müssen legale und sichere Zugangswege geschaffen werden.

Lassen Sie persönliche Schicksale an sich heran?

Wenn mir ein Vater, der selber von Granatsplittern verletzt wurde, eine Schussverletzung bei seinem Sohn zeigt und berichtet, dass dieser seit Monaten unter Alpträumen leidet und nicht durchschlafen kann, dann fühlt man sich manchmal sehr hilflos. Die große Dankbarkeit der Menschen uns gegenüber ist für mich beschämend, denn wir leisten nichts Besonderes, sondern etwas normales, etwas selbstverständliches.

Prof. Dr. Gerhard Trabert arbeitet als Arzt und Sozialarbeiter beim Verein Armut und Gesundheit in Deutschland in Mainz.

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Herr Dr. Kalchthaler, Sie haben in Breisach ein Modell zur medizinischen Versorgung von Flüchtlingen auf den Weg gebracht, bei dem niedergelassene Ärzte eine zentrale Rolle spielen. Wie sieht dieses Konzept genau aus?

Wir verfolgen das Ziel, Asylsuchende besser in die Gesellschaft zu integrieren, indem wir diesen Menschen das Gesundheitssystem so darbieten, wie es ist. Wir haben es geschafft, dass 90 % der niedergelassenen Allgemeinärzte und Fachärzte in Breisach an der medizinischen Versorgung von Flüchtlingen mitwirken.

Wie funktioniert Ihr Modell in der Praxis und wer ist außer den Ärzten noch beteiligt?

Getragen wird unser Modell durch eine enge Kooperation zwischen den Ärzten vor Ort, dem „Runden Tisch für Mitmenschlichkeit e. V.“, hier ist insbesondere der Helferkreis Breisach zu nennen, dem Gesundheitsamt und der Stadtverwaltung. In Breisach sind derzeit etwa 400 Flüchtlinge untergebracht. In der Behelfsunterkunft steht zu bestimmten Tageszeiten eine Krankenschwester bereit, die sich um die Menschen kümmert und eine erste medizinische Begutachtung durchführt. Von hier aus werden die Patienten dann direkt zu einem Hausarzt oder auch zu einem Facharzt weitervermittelt. Auf diese Weise soll eine schnellere und bessere Integration der schutzsuchenden Menschen in die deutsche Gesellschaft erreicht werden.

Wie gelingt die Kommunikation mit den geflüchteten Menschen?

Wir können auf zahlreiche ehrenamtliche Dolmetscher zurückgreifen, außerdem setzen wir Anamnesebögen in verschiedenen Sprachen ein. Innerhalb des Helferkreises gibt es verschiedene Untergruppen. Die Sprachengruppe bietet ehrenamtliche Sprachförderung für Flüchtlinge an, es gibt ein Kochprojekt, eine Sachspendengruppe und viele andere Initiativen. Eine Gruppe von Helfern begleitet Flüchtlinge bei Arzt- und Behördengängen. In den Wintermonaten gab es darüber hinaus eine ehrenamtliche Fahrbereitschaft für erkrankte Kinder, die am Wochenende die Kinder- und Jugendnotfallpraxis in Freiburg aufsuchen mussten, wenn ihnen die Fahrt in den öffentlichen Verkehrsmitteln nicht zuzumuten war – beispielsweise bei hohem Fieber oder Magen-Darm-Erkrankungen. Bei Verständigungsproblemen muss gegebenenfalls improvisiert werden. Bisher hat das sehr gut funktioniert.

Dr. Martin Kalchthaler ist Urologe in Breisach. Er ist maßgeblicher Initiator des Modells zur medizinischen Versorgung von Flüchtlingen durch niedergelassene Ärzte.


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