physioscience 2015; 11(01): 1
DOI: 10.1055/s-0034-1398923
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Editorial

K. Lüdtke
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Publication Date:
17 February 2015 (online)

In dieser Ausgabe der physioscience findet sich – neben vielen anderen interessanten Beiträgen – auch ein Artikel in einem Format, das ich an dieser Stelle gerne ein wenig bewerben möchte. Es ist ein „Overview of Reviews“, also eine Übersichtsarbeit, die systematische Literaturübersichten zusammenfasst.

Ein bekanntes, aber weitestgehend unbeachtetes Phänomen ist, dass es zu den meisten Themen deutlich mehr Literaturübersichten als experimentelle Studien gibt. Aus persönlichem Interesse hier ein Beispiel aus der nicht invasiven Hirnstimulation: Eine nicht näher eingegrenzte Suche in Medline ergibt 40 Literaturübersichten, die über transkranielle Gleichstromtherapie bei Schmerzen berichten. Bei Einschränkung der Suche auf klinische Studien finden sich dagegen nur 35 Artikel.

Eine noch dramatischere Diskrepanz zeigt sich bei einer Suche nach Publikationen zu Physiotherapie bei Kopfschmerzen: 179 klinische Studien stehen 290 Literaturübersichten gegenüber. Dabei werden nicht selten exakt dieselben klinischen Studien in mehreren Literaturübersichten berücksichtigt. Was geschieht also mit der Evidenz aus diesen Literaturübersichten? Sind sie der Gipfel der Evidenzpyramide?

Besser wäre doch, wenn Autoren einer potenziellen neuen Literaturübersicht kurz innehalten und zunächst überprüfen würden, ob es zu ihrem gewählten Thema bereits aktuelle Übersichtsarbeiten gibt. Ist dies der Fall, kann es sehr lohnend sein, zunächst deren methodische Qualität zu bewerten.

Ein geeignetes Instrument zu Bewertung von systematischen Literaturübersichten ist z. B. AMSTAR [4]. Stellt man dabei fest, dass mehr als eine Literaturübersicht von akzeptabler Qualität vorhanden ist, würden Kliniker und Wissenschaftler unter Umständen deutlich mehr davon profitieren, diese zunächst in zusammengefasster Form lesen zu können, anstatt eine weitere Literaturübersicht zur Auswahl zu haben.

Schlussfolgerungen von Literaturübersichten können auch kontroverse Ergebnisse haben, selbst wenn vergleichbare Studien eingeschlossen wurden. Dabei spielen der Fokus der Arbeit, aber auch die Überzeugungen der Autoren eine Rolle. Gerade in diesen Fällen wäre es hilfreich zu erfahren, welche Arbeit die bessere methodische Qualität aufweist und welchen Ergebnissen somit eher Glauben zu schenken ist.

Das Cochrane Handbuch liefert eine detaillierte Anweisung, wie Overviews of Reviews zu erstellen sind [1]. Das Prinzip ist ähnlich wie bei systematischen Reviews, jedoch wird nicht weiter auf die Qualität der in den Reviews eingeschlossenen Einzelstudien eingegangen. Den Abschluss eines Overviews of Reviews bildet eine Einschätzung des vorhandenen Evidenzlevels.

Dieses Editorial soll aber niemanden entmutigen, systematische Übersichtsarbeiten zu erstellen! Wenn vorliegende Literaturübersichten veraltet sind, eine mangelhafte methodische Qualität aufweisen oder von der eigenen Fragestellung abweichen, dann ist eine neue systematische Literaturübersicht unbedingt erforderlich – am besten nach den Vorgaben des PRISMA Statements [3] und des Cochrane Handbuchs [2].

 
  • Literatur

  • 1 Becker LA, Oxman AD. Chapter 22: Overviews of Reviews. In: Higgins JPT, Green S, (eds) Cochrane Handbook for Systematic Reviews of Interventions. Chichester: Wiley; 2008
  • 2 Higgins JG, Green S (eds). Cochrane Handbook for Systematic Reviews of Interventions. Chichester: Wiley; 2008
  • 3 Liberati A, Altman DG, Tetzlaff J et al. The PRISMA statement for reporting systematic reviews and meta-analyses of studies that evaluate health care interventions: explanation and elaboration. PLoS Med 2009; 6: e1000100
  • 4 Shea BJ, Grimshaw JM, Wells GA et al. Development of AMSTAR: a measurement tool to assess the methodological quality of systematic reviews. BMC Med Res Methodol 2007; 7: 10