Sprache · Stimme · Gehör 2014; 38(04): 158-162
DOI: 10.1055/s-0034-1395632
Schwerpunktthema
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Frühe sprachliche Bildung beobachten und begleiten

Sprachförderung und Sprachtherapie bei mehr- und einsprachigen Kindern unter 3 JahrenObserving and Assisting Early Language DevelopmentLanguage Support and Language Therapy in Multi- and Monolingual Children under the Age of 3
I. Füssenich
1   Fakultät für Sonderpädagogik, Pädagogische Hochschule Ludwigsburg
› Author Affiliations
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Korrespondenzadresse

Prof. Dr. phil. habil. Iris Füssenich
Fakultät für Sonderpädagogik
Pädagogische Hochschule Ludwigsburg
Pestalozzistraße 53
72762 Reutlingen

Publication History

Publication Date:
09 January 2015 (online)

 

Zusammenfassung

Die Beobachtung und Dokumentation der frühen sprachlichen Bildung bei Kindern eröffnet die Chance, möglichst frühzeitig Kinder zu erkennen, die eine intensive Unterstützung benötigen. „Late Talker“ gelten als Risikogruppe.

Diese Kinder sprechen mit 2 Jahren weniger als 50 Wörter. Doch ein Blick auf die Definition und die Ausschlusskriterien von „Late Talker“ zeigt, dass 2-jährige Kinder keine homogene Gruppe darstellen. Außerdem ist der Erwerb der ersten Wörter das Endresultat eines psychologischen Prozesses, an dem die Bezugspersonen der Kinder ebenso beteiligt sind wie die Kinder. Diese frühen Meilensteine der sprachlichen Bildung zu beobachten und zu begleiten ist Aufgabe von pädagogischen Fachkräften und Sprachtherapeuten und lässt sich nicht auf die Anzahl von Wörtern reduzieren. Vielmehr ist es bedeutsamer, auf die Meilensteine der frühkindlichen Bildung zu blicken, die Kinder durchlaufen, bis sie erste Wörter äußern. Weiterhin ist das sprachliche Handeln von Bezugspersonen bedeutsam.

Andererseits gibt es Kinder, die nach dem Erwerb der ersten 50 Wörter zeigen, dass sie beim Erwerb der Regeln von Aussprache und Grammatik den üblichen Meilensteinen der sprachlichen Bildung nicht folgen. Diese Kinder zu erkennen ist ebenfalls ein wichtiger Beitrag zur Früherkennung von Schwierigkeiten bei der sprachlichen Bildung.


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Abstract

Observing and assisting the early development of language abilities in children, along with study and documentation of their emerging language processes, opens up the chance to recognize children who are in need of intensive support as soon as possible. „Late talkers“ are regarded as a group at risk.

These children communicate at 2 years of age with less than 50 words. However, a look at the definition and exclusion criteria for „late talkers“ shows that 2-year-old children do not by any means constitute a homogeneous group. The acquisition of first words is the upshot of a psychological process in which the reference persons of the children are likewise involved. Closely observing and providing assistance at these early milestones of language development is the task of trained pedagogic professionals and language therapists and cannot be reduced to the number of words. Rather, it is much more to the point to look at the milestones of development passed by the children in their earliest years until they utter their first words. In addition, the linguistic activity of reference persons is significant.

On the other hand, some children show after acquiring their first 50 words that their path does not follow the normal milestones of language development as they absorb the rules of pronunciation and grammar. Recognition of these children is also and likewise a contribution to early recognition of difficulties in linguistic development.


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Lernziel

Die Beobachtung der frühen sprachlichen Bildung von mehr- und einsprachigen Kindern zeigt, ob Kinder ihre Fähigkeiten weiterentwickeln oder ob sie Unterstützung benötigen.

Beispiel Louisa und Laura

In einer Fortbildung für pädagogische Fachkräfte stellte eine Teilnehmerin das Kind Louisa (2;7 Jahre, simultan zweisprachig aufwachsend) vor. Sie notierte folgende Äußerungen: „Wus“ (Wurst), „Bei“ (Bär), „Of“ (Ofen) „Nona“ (Jona). Auch einzelne Mehrwortäußerungen konnte sie beobachten: „Mama Mich“ (Milch)“, „Teller tehn“ und „Papa au“. Die pädagogische Fachkraft verdeutlichte in ihren Schilderungen die Ratlosigkeit der Eltern und pädagogischen Fachkräfte sowie deren Befürchtungen, dass die sprachliche Bildung von Louisa stagniere. Der Kinderarzt wurde einbezogen und versuchte, die Eltern zu beruhigen: Manche Kinder bräuchten mehr Zeit als andere. Bei den Vorsorgeuntersuchungen seien ansonsten keine Auffälligkeiten feststellbar. In der Krippe würde Louisa häufig lächeln und sei interessiert an anderen Kindern; gemeinsame Spielformate seien jedoch nicht möglich. Nun müsse sie bald in einen Kindergarten wechseln und man habe die Befürchtung, dass sie sich dann noch weniger verbal äußere.

Laura (2;6 Jahre, Deutsch als Erstsprache) wird ebenfalls von einer pädagogischen Fachkraft vorgestellt. Ihre Äußerungen sind im Handlungskontext kaum verständlich: „Gume“ (Blume), „Guhl“ (Stuhl), „Kerken“ (Kerzen), „harm“ (warm), „angaggen“ (anfassen), „gümmen“ (schwimmen), „Belle“ (Libelle). Auch Mehrwortäußerungen wurden notiert: „Gagga auch ham wolln“ (Ich will auch Wasser haben), „Pipi magen“ (Pipi machen).

Louisa hat im Alter von 2 Jahren vermutlich weniger als 50 Wörter gesprochen und auch keine Mehrwortäußerungen geäußert. Gehörte dieses Mädchen mit 2 Jahren zu den Late Talkers? Allerdings wächst sie simultan zweisprachig auf. Gehörte Laura im Alter von 2 Jahren zu den Late Talkers?


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Late Talker – ein Indiz für Schwierigkeiten bei der sprachlichen Bildung?

Definition Late Talker

Als Late Talker werden 2-jährige Kinder bezeichnet, die über einen unterdurchschnittlich geringen Wortschatzumfang verfügen. Als grober Richtwert gilt der Wortschatzumfang von 50 aktiv gebrauchten Wörtern im Alter von 24 Monaten (…)“ ([1], S. 18)[1]. Oder es sind Kinder, bei denen in diesem Alter noch keine Mehrwortäußerungen auftreten. In jüngster Zeit gibt es umfangreiche Studien zum Thema Late Talker. Im Rahmen dieser Studien wird oftmals hervorgehoben, dass bei einem Teil der Kinder später eine Spezifische Sprachentwicklungsstörung auftreten würde [1], die erst mit 4 Jahren diagnostiziert werden könne ([2], S. 178).

2-jährige Kinder mit einem Wortschatzumfang von nicht mehr als 50 aktiv gebrauchten Wörtern oder Kinder, bei denen in diesem Alter noch keine Mehrwortäußerungen auftreten, werden als Late Talker bezeichnet.


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Spezifische Sprachentwicklungsstörung

Die Spezifische Sprachentwicklungsstörung ist eine sprachspezifische Entwicklungsstörung, bei der keine Primärbeeinträchtigungen vorliegen, die ausreichend wären, das Vorhandensein, die Art und das Ausmaß der sprachlichen Probleme zu erklären. Dabei finden definierte Ausschlusskriterien Berücksichtigung: Die Spezifische Sprachentwicklungsstörung ist ein eigenständiges Störungsbild, und die nonverbale Testintelligenz der Kinder liegt im Normalbereich. Es sind nichtsprachliche Ausschlusskriterien vorhanden: Es liegen weder sensorische noch schwerwiegende neurologische oder emotionale Beeinträchtigungen oder geistige Behinderungen vor ([3], S. 119, auch [4]). Als charakteristisch wird angesehen:

  • verspäteter Sprechbeginn,

  • verlangsamter Spracherwerb mit möglicher Plateaubildung,

  • Sprachverständnis ist größer als die Sprachproduktion.

  • Formale Merkmale wie Syntax und Morphologie sind auffälliger als pragmatische und semantische Schwierigkeiten.

Da ein Merkmal einer Spezifischen Sprachentwicklungsstörung der verspätete Sprechbeginn ist, liegt es nahe, im Sinne einer Prävention diese Kinder möglichst früh zu diagnostizieren. Diese Gruppe von Kindern wird als „Late Talker“ bezeichnet. Wie bei einer Spezifischen Sprachentwicklungsstörung sind deutliche kognitive Einschränkungen in der Definition ausgeschlossen. Weiterhin dürfen keine Hörschädigungen und andere sensorische und körperliche Beeinträchtigungen sowie keine sozialen und emotionalen Beeinträchtigung vorhanden sein.

Bei der spezifischen Sprachentwicklungsstörung liegen weder sensorische noch schwerwiegende neurologische oder emotionale Beeinträchtigungen oder geistige Behinderungen vor. Charakteristisch sind ein verspäteter Sprechbeginn und ein verlangsamter Spracherwerb. Das Sprachverständnis ist größer als die Sprachproduktion und formale Merkmale wie Syntax und Morphologie sind eher auffällig als die Pragmatik und Semantik.


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Probleme bei Untersuchungen

Der Begriff Spezifische Sprachentwicklungsstörung ist umstritten ([5], S. 193, [6] [7]). Die genannten Ausschlusskriterien sind in der Realität nicht leicht zu erheben ([8], S. 115). Um in Untersuchungen Kinder vergleichen zu können, werden möglichst homogene Kindergruppe ausgewählt, die diesen Kriterien entsprechen. In zahlreichen Untersuchungen und Veröffentlichungen gibt es kaum Aussagen darüber, wie diese Ausschlusskriterien erhoben werden. Außerdem wird von unterschiedlichen Ausschlusskriterien ausgegangen ([6], S. 59f). Die sprachliche Bildung und der Zusammenhang zu außersprachlichen Fähigkeiten und ggf. Schwierigkeiten ist heterogener.

In der Regel treten bei Kindern mit entwicklungsbedingten Sprachstörungen auch außersprachliche Probleme auf, z. B. entziehen sie sich Alltags- und Spielformaten. Dabei ist oft nicht zu unterscheiden, ob diese Schwierigkeiten zur Primär- oder zur Sekundärproblematik gehören.


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Laura

Laura z. B. kam mit 10 Monaten in die Krippe. Im Alter von 2;6 Jahren sprach sie sehr unverständlich, sodass Kinder und pädagogische Fachkräfte Schwierigkeiten hatten, sie zu verstehen. Dies lag vor allem an der Aussprache des Kindes. Sie spielte vorwiegend mit jüngeren Kindern und hatte keine festen Spielpartner. Ältere Kinder korrigierten Laura. Sie sagten z. B.: „Das heißt nicht ‚Gagga’, das heißt ‚Wasser’.“ Laura schaute gerne Bilderbücher an und zeigte großes Interesse an Puzzles. Sprachliche Anweisungen konnte sie korrekt ausführen, was auf ein angemessenes Sprachverständnis hindeutet. Den Eltern schienen die Schwierigkeiten nicht aufzufallen, denn Laura hat Kontakt mit der englischen Sprache, seit sie die Kindertageseinrichtung besucht. Die Eltern waren stolz, dass sie sich bereits alleine an- und ausziehen kann.

Doch reicht der Blick nur auf die Sprache eines Kindes aus um festzustellen, ob eine frühe Unterstützung notwendig ist?


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Sprachliche Bildung ist ein dialogischer Prozess

Die sprachliche Bildung ist nicht die alleinige Leistung von Kindern, sondern ein dialogischer Prozess, an dem Kinder und die Bezugspersonen gleichermaßen beteiligt sind. Bruner [9] und andere Autoren zeigen, dass das erste Wort von Kindern das Endresultat eines langen Entwicklungsprozesses ist. Die frühkindliche Kommunikation setzt gemeinsame Handlungen voraus, in denen Kinder und ihre Bezugspersonen kommunikative Absichten einbringen. Das kommunikative Handeln zwischen Kind und den Bezugspersonen bildet den Ausgangspunkt für die sprachliche Bildung, wobei Bruner [9] eine Kontinuität zwischen dieser frühen Kommunikation und späteren sprachlichen Fähigkeiten sieht. Dabei passen die Bezugspersonen ihr kommunikatives Handeln an die Fähigkeiten von Kindern an, was in zur Routine gewordenen Alltagssituationen möglich ist, in denen Kinder mit ihren noch begrenzten Fähigkeiten den Handlungsablauf verstehen und gestalten. Diese frühe Kommunikation setzt einen gemeinsamen vertrauten Kontext voraus, den Bruner Formate nennt, auf dessen Hintergrund die Partner ihre kommunikativen Absichten mitteilen. Diese strukturierten, routinemäßigen Abläufe nennt Bruner das Hilfssystem der sprachlichen Bildung. In Ergänzung zu den angeborenen Fähigkeiten, Sprache zu erwerben, steuert dieses Hilfssystem die sprachliche Bildung.

Handeln in Formaten

Bereits im Kleinkindalter handeln Kind und Bezugsperson in Formaten, innerhalb welcher Sprach- und Spielelemente gleichermaßen integriert sind. Als Beispiele werden das Wickeln, Baden oder Füttern genannt. In diesen immer wiederkehrenden Handlungen findet eine Feinabstimmung zwischen Kind und Bezugspersonen statt: Zunächst haben Erwachsene den vermeintlich aktiveren Part an Handlung und Sprache inne, aber nach und nach übernehmen Kinder immer größere Anteile. Auch in der fortschreitenden Entwicklung des Kindes existiert weiterhin eine Vielzahl routinierter Alltagsinteraktionen, welche den Kindern Orientierung geben, ihnen vertraut sind und große Freude bereiten (z. B., Rituale beim Essen oder Einschlafen, wie das Vorlesen einer Gute-Nacht-Geschichte oder das gemeinsame Anschauen von Bilderbüchern).

Diese interaktionistische Sicht von der sprachlichen Bildung blickt nicht nur auf Fähigkeiten und mögliche Schwierigkeiten von Kindern, sondern auch auf das sprachliche Handeln von Bezugspersonen, das förderlich oder weniger förderlich sein kann ([7], S. 85–87). Außerdem wird die sprachliche Bildung im Kontext der Erweiterung von Alltags- und Spielformaten betrachtet und nicht nur an der Anzahl von Wörtern festgemacht.


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Steuerungsfunktion der Sprache

Um sprachliche Fähigkeiten und mögliche Schwierigkeiten zu erfassen, sind diese ersten frühen Meilensteine der sprachlichen Bildung bedeutsam. Ein grundlegender Meilenstein bei der sprachlichen Bildung sind gemeinsame Handlungen zwischen Kindern und ihren Bezugspersonen. Bereits ein Säugling erlebt, dass seine mimischen Äußerungen zu Reaktionen bei den Bezugspersonen führen. So lernt er, diese zielgerichtet einzusetzen, wodurch gemeinsame Handlungskontexte entstehen, wie Füttern, Baden oder einen Turm bauen, die auf der Grundlage eines gemeinsamen Hintergrundwissens entstehen [9]. Die Steuerung der gemeinsamen Aufmerksamkeit geschieht durch die Fähigkeit zum triangulären Blickkontakt. Kinder sind dann in der Lage die Aufmerksamkeit zwischen sich, einem Gegenstand und den Bezugspersonen zu steuern [10]. Ebenso sind Objektpermanenz und Referenzbezüge bedeutsam für die weitere sprachliche Bildung. Mit der Objektpermanenz ist das Wissen gemeint, dass Objekte und Personen auch außerhalb der Wahrnehmung vorhanden sind und auch dass sie benannt werden können. Kinder erwerben somit die Symbolfunktion von Sprache. Bei Kleinkindern geschieht das Herstellen von Referenzbezügen zunächst durch Blickkontakt und durch Greifen. Danach beginnen Kinder auf Dinge zu zeigen. Sie haben verstanden, dass ihre Bezugspersonen handelnde Akteure sind und sie ihre Aufmerksamkeit steuern können.

Nach dem Zeigen verwenden Kinder zunächst erste deiktische Ausdrücke (dort, hier, da,..), bevor sie schließlich Gegenstände, Personen oder Situationen benennen. So erwerben Kinder erste Wörter und speichern sie ab. Kinder haben nun begriffen, dass sie durch ihr Handeln andere dazu bringen können, die Aufmerksamkeit auf etwas zu richten oder eine Handlung auszuführen. Sie haben somit die Steuerungsfunktion von Sprache erworben.


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Frühe sprachliche Bildung beobachten und begleiten

Um Fähigkeiten und auch mögliche Schwierigkeiten bei der sprachlichen Bildung einschätzen zu können, ist ein Blick auf diese frühen sprachlichen Bildungsprozesse erforderlich. Der Beobachtungbogen zur frühen sprachlichen Bildung von Iris Füssenich und Mathias Menz ([7], S. 94f) legt den Schwerpunkt auf diese Meilensteine der sprachlichen Bildung. Dabei werden folgende Meilensteine erfasst:

  • Erwirbt das Kind weitere Formate?

  • Hat das Kind die Fähigkeit zur Objektpermanenz?

  • Kann das Kind einen triangulären Blickkontakt herstellen?

  • Kann das Kind einen Referenzbezug herstellen?

  • Kann das Kind Äußerungen vom Hier und Jetzt loslösen?

Beobachtungen zu den oben aufgeführten frühen Meilensteinen der sprachlichen Bildung werden zu 2 unterschiedlichen Zeitpunkten notiert und mit Ja/Nein angekreuzt. Außerdem werden kindliche Äußerungen eingetragen. Es wird somit erfasst, ob Kinder ihre frühen sprachlichen Fähigkeiten erweitern. Das entscheidende Kriterium ist die Weiterentwicklung oder Stagnation bei der sprachlichen Bildung und nicht so sehr das Alter von Kindern, das nur eine grobe Orientierung sein kann. Bei mehrsprachigen Kindern kann das Alter auch nicht die alleinige Vergleichsnorm sein. Kontaktdauer mit der deutschen Sprache zu erfassen ist wichtig. Dabei muss jedoch auch berücksichtigt werden, unter welchen Bedingungen die Kinder die deutsche Sprache erwerben und ihre Erstsprache weiterentwickeln können. Kindliche Äußerungen werden in dem Beobachtungsbogen von Iris Füssenich und Mathias Menz [7] außerdem in verschiedenen Formaten erhoben und nicht nur in einer Situation. Es lassen sich weiterhin von diesen Daten Konsequenzen für die Förderung und ggf. Therapie ableiten.

Louisa

Louisa beherrschte am ersten Erhebungszeitraum Alltagsformate, wie An- und Ausziehen. Spielformate mit anderen Kindern wurden von ihr noch nicht gestaltet. Sie war zur Objektpermanenz fähig und stellte Referenzbezüge her. In der Kindertageseinrichtung entstanden keine triangulären Blickkontakte. Ausgangspunkt der Sprachförderung bildeten zunächst vor allem Einzelsituationen. Dort wurde auf die Erweiterung von Alltags- und Spielformaten ein Schwerpunkt gelegt und das eigene sprachliche Handeln an die Fähigkeiten des Kindes angepasst. Darüber hinaus erhielt das Mädchen in Spielformaten mit anderen Kindern Unterstützung, sodass gemeinsame Spielsituationen möglich wurden. Dies verdeutlichen folgende Äußerungen:„Du Dach baun“. „Desta mir des Auto“. „Du auch Saufel und du einkaufen.“


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Sprachentwicklungsverzögerungen oder Sprachentwicklungsstörungen

Bei einer Spezifischen Sprachentwicklungsstörung wird von einer verzögerten Sprachentwicklung ausgegangen, die sich bei der lexikalischen und/oder syntaktischen Entwicklung und beim Sprachverstehen zeigt. Ebenso sind ein reduziertes Phoninventar sowie reduzierte Silbenstrukturen vorhanden [2].

Bereits 1970 weist Scholz [11] auf die Unterscheidung zwischen Sprachentwicklungsverzögerung und Sprachentwicklungsstörung hin: Entwicklungsverzögerungen sind vorhanden, wenn Phasen der sprachlichen Bildung zeitlich verzögert erworben werden. Bei einer Sprachentwicklungsstörung erwerben Kinder Sprache oder Fähigkeiten auf einzelnen Sprachebenen in einer anderen Reihenfolge oder zeigen eine unausbalancierte Entwicklung, indem sie in einigen Bereichen der sprachlichen Bildung übliche Erwerbsphasen durchlaufen, aber in anderen stagnieren oder ungewöhnliche Prozesse zeigen. Dies verdeutlicht Hacker [12] am Beispiel der Aussprache.

Laura

Lauras Sprache ist vor allem deshalb unverständlich, weil in der Aussprache phonologische Prozesse auftreten, die auf phonologische Störungen hinweisen, z. B.,

  • Velarisierung bzw. Lautpräferenz: Zahlreiche Laute werden durch [g] oder [k] ersetzt: „Göggel“ (Löffel), „Goo“ (Zoo), „Gagga“ (Wasser), „aufekken“ (aufessen), „angaggen“ (anfassen), „geint“ (scheint),

  • Mehrfachkonsonanten werden ebenfalls häufig rückverlagert und auf den Konsonanten [g] reduziert: „Gume“ (Blume), „Gulli“ (Schnuller), „Gook“ (Brot),

  • Prozess der Öffnung: „harm“ (warm).

Dass vermutlich auch der Erwerb von Syntax und Morphologie nicht den Phasen der sprachlichen Bildung entspricht, zeigt z. B., die Mehrwortäußerung: „Gagga auch ham wolln“. (Ich will auch Wasser haben). Laura verwendet schon Modalverben („wolln“), obwohl sie Verben noch an das Satzende stellt. Weiterhin lässt sich anhand der notierten Äußerungen vermuten, dass sie über einen ausreichenden Wortschatz verfügt. Sie verwendet zahlreiche Verben, wie schwimmen, aufessen, scheinen, anfassen und unterschiedliche Nomen. In der Krippe habe man darüber hinaus den Eindruck, sie würde Anweisungen verstehen.

Auch wenn eine umfangreichere Diagnose erforderlich wäre, lässt sich anhand dieser wenigen Äußerungen vermuten, dass Laura, sofern sie keine sprachtherapeutische Unterstützung erhält, die sprachlichen Symptome einer Spezifischen Sprachentwicklungsstörungen zeigt, bei der die Symptome stärker auf den Sprachebenen der Aussprache und der Grammatik liegen als auf dem Erwerb semantischer Fähigkeiten. Jedoch nach der Definition der Spezifischen Sprachentwicklungsstörungen könne sie erst ab dem 4. Lebensalter diagnostiziert werden. Kinder wie Laura zeigen jedoch, dass diese Schwierigkeiten beim Erwerb der Sprache bereits bedeutend früher erkennbar sind.


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Fazit

Kinder erweitern ihre sprachlichen Fähigkeiten im Kontext von Alltags- und Spielformaten sowie in der Interaktion mit ihren Bezugspersonen, zu denen auch andere Kinder gehören. Um Weiterentwicklung bei der sprachlichen Bildung und ggf. mögliche Schwierigkeiten von Kindern zu erkennen, ist die Analyse von freien Sprachproben erforderlich. Eine alltagsintegrierte Sprachförderung und eine entwicklungsproximale Sprachtherapie knüpfen an diese alltagsintegrierten Beobachtungen von kindlichen Fähigkeiten und ggf. Schwierigkeiten im Kontext von Alltags- und Spielformaten an. Dies setzt voraus, dass pädagogische Fachkräfte und Sprachtherapeutinnen Meilensteine der sprachlichen Bildung und mögliche Schwierigkeiten von mehr- und einsprachigen Kindern erkennen. Weiterhin ist eine Reflexion des Handelns von Erwachsenen erforderlich. Die Beobachtung und Dokumentation dieser frühen sprachlichen Bildung eröffnet die Chance, möglichst frühzeitig Kinder zu erkennen, die eine intensive Unterstützung benötigen.


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Zur Person

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Prof. Dr. phil. habil. Iris Füssenich, Professorin für den Förderschwerpunkt Sprache und Kommunikation an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg. Forschungsschwerpunkte: sprachliche Bildung, Sprachförderung und Sprachtherapie im Elementarbereich, Analphabetismus und Prävention von Analphabetismus. Praxis: Sprachtherapeutin, Lehrerin und Dozentin in Alphabetisierungskursen

Interessenkonflikt:

Die Autorin gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Danksagung

Herzlichen Dank an Gabriele Finkbeiner, Michael Gunzenhauser, Mathias Menz, Britta Romann, Kristina Singer und Stefanie Wannenmacher für die konstruktiven Anmerkungen zum Manuskript.

1 Dass Kinder zunächst Morpheme und keine Wörter erwerben, wird im Folgenden nicht berücksichtigt.


  • Literatur

  • 1 Schlesinger C, Mühlhaus M. Late Talker. Späte Sprecher – Wenn zweijährige Kinder noch nicht sprechen. Ein Ratgeber. Schulz-Kirchner: Idstein 2011;
  • 2 Schulz P. Verzögerte Sprachentwicklung: Zum Zusammenhang zwischen Late Talker, Late Bloomer und Spezifischer Sprachentwicklungsstörung. In: Schöler H, Welling A. Hrsg Sonderpädagogik der Sprache. Band 1: Handbuch der Sonderpädagogik. Göttingen: Hogrefe; 2007: 178-189
  • 3 Dannenbauer FM.. Grammatik. In: Baumgartner S, Füssenich I. Hrsg Sprachtherapie mit Kindern. 5. völlig überarb. und erw. Aufl München: UTB/Reinhardt; 2002: 105-161
  • 4 Grimm H. Störungen der Sprachentwicklung. Grundlagen – Ursachen – Diagnose – Intervention – Prävention. 3. überarb. Auflage Göttingen: Hogrefe; 2012
  • 5 Schecker M, Henninghausen K, Christmann G et al. Spezifische Sprachentwicklungsstörungen. In: Schöler H, Welling A. Hrsg Sonderpädagogik der Sprache. Band 1: Handbuch der Sonderpädagogik. Göttingen: Hogrefe; 2007: 190-212
  • 6 Schlesinger C. Sprachtherapeutische Frühintervention für Late Talkers. Eine randomisierte und kontrollierte Studie zur Effektivität eines direkten und kindzentrierten Konzeptes. Schulz-Kirchner: Idstein 2009;
  • 7 Füssenich I, Menz M. Sprachliche Bildung. Sprachförderung. Sprachtherapie. Grundlagen und Praxisanregungen für pädagogische Fachkräfte in Kitas. Berlin: Cornelsen; 2014
  • 8 Hachul C. Effektivität von Sprachtherapie und Sprachförderung für Late Talker. Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiet (VHN) 2013; 82: 114-124
  • 9 Bruner J. Wie das Kind sprechen lernt. 2. ergänzte Aufl Bern: Huber; 2002
  • 10 Tomasello M. Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens. Berlin: Suhrkamp; 2011
  • 11 Scholz HJ. Von der Notwendigkeit linguodiagnostischer Verfahren für die Zeit der Sprachentwicklung. Die Sprachheilarbeit 1970; 15: 97-103
  • 12 Hacker D. Phonologie. In: Baumgartner S, Füssenich I. Hrsg Sprachtherapie mit Kindern. 5. völlig überarb. und erw. Aufl München: UTB/Reinhardt; 2002: 13-62

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. phil. habil. Iris Füssenich
Fakultät für Sonderpädagogik
Pädagogische Hochschule Ludwigsburg
Pestalozzistraße 53
72762 Reutlingen

  • Literatur

  • 1 Schlesinger C, Mühlhaus M. Late Talker. Späte Sprecher – Wenn zweijährige Kinder noch nicht sprechen. Ein Ratgeber. Schulz-Kirchner: Idstein 2011;
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  • 3 Dannenbauer FM.. Grammatik. In: Baumgartner S, Füssenich I. Hrsg Sprachtherapie mit Kindern. 5. völlig überarb. und erw. Aufl München: UTB/Reinhardt; 2002: 105-161
  • 4 Grimm H. Störungen der Sprachentwicklung. Grundlagen – Ursachen – Diagnose – Intervention – Prävention. 3. überarb. Auflage Göttingen: Hogrefe; 2012
  • 5 Schecker M, Henninghausen K, Christmann G et al. Spezifische Sprachentwicklungsstörungen. In: Schöler H, Welling A. Hrsg Sonderpädagogik der Sprache. Band 1: Handbuch der Sonderpädagogik. Göttingen: Hogrefe; 2007: 190-212
  • 6 Schlesinger C. Sprachtherapeutische Frühintervention für Late Talkers. Eine randomisierte und kontrollierte Studie zur Effektivität eines direkten und kindzentrierten Konzeptes. Schulz-Kirchner: Idstein 2009;
  • 7 Füssenich I, Menz M. Sprachliche Bildung. Sprachförderung. Sprachtherapie. Grundlagen und Praxisanregungen für pädagogische Fachkräfte in Kitas. Berlin: Cornelsen; 2014
  • 8 Hachul C. Effektivität von Sprachtherapie und Sprachförderung für Late Talker. Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiet (VHN) 2013; 82: 114-124
  • 9 Bruner J. Wie das Kind sprechen lernt. 2. ergänzte Aufl Bern: Huber; 2002
  • 10 Tomasello M. Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens. Berlin: Suhrkamp; 2011
  • 11 Scholz HJ. Von der Notwendigkeit linguodiagnostischer Verfahren für die Zeit der Sprachentwicklung. Die Sprachheilarbeit 1970; 15: 97-103
  • 12 Hacker D. Phonologie. In: Baumgartner S, Füssenich I. Hrsg Sprachtherapie mit Kindern. 5. völlig überarb. und erw. Aufl München: UTB/Reinhardt; 2002: 13-62

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