physioscience 2013; 9(1): 1-2
DOI: 10.1055/s-0032-1330654
Editorial
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Freie Marktwirtschaft

D. Brötz
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Publication Date:
26 February 2013 (online)

In Deutschland sind die Kosten im Gesundheitswesen ein Dauerthema in den Medien. Alle Gedanken dazu sind ausgetauscht – sollte man meinen. In Fernsehdiskussionen sitzen sich Vertreter der Ärzteverbände und der Krankenkassen gegenüber. Die einen klagen, dass sie zu wenig Geld für ihre Leistungen bekommen, die anderen, dass zu viele unnötige Untersuchungen und Behandlungen durchgeführt werden und dies alles zu viel Geld koste.

Fällt Ihnen etwas auf? Der Patient fehlt in der Diskussion!

Auf einer Konferenz zum wissenschaftlichen Diskurs in der Physiotherapie stellte eine Kollegin die Vorteile des Studiums der Physiotherapie vor. Auf sorgfältig vorbereiteten Powerpoint-Folien trug sie Spiegelstrich für Spiegelstrich vor. Zusammen mit einem Kollegen wartete ich gespannt darauf, das Wort Patient zu lesen und zu hören – vergebens, das Wort kam nicht vor; Leitung, Position, Verdienst, Betriebswirtschaft und Forschung, aber kein Patient.

Die Situation ist absurd ([Tab. 1]): Die Dienstleister im Gesundheitswesen fühlen sich unter Druck, mehr Patientenuntersuchungen und Behandlungen durchzuführen, um wirtschaftlich zu arbeiten, und die Krankenversicherungen wollen möglichst wenig bezahlen. Das System wird durch betriebswirtschaftlich agierende Finanzsysteme gesteuert, die vom Wohl und Leid der Patienten weit entfernt sind. Die die Leistung „Gesundheitsfürsorge“ in Anspruch nehmenden Personen sind in die Verhandlung darüber, ob und wie diese durchgeführt und finanziert wird, nicht einbezogen. Durch regelmäßige Zahlungen an die Institution Krankenversicherung haben die Patienten ihr Mitspracherecht und die Mitverantwortung an ihrer Gesundheitsfürsorge scheinbar verloren.

Tab. 1

Zeitungsausschnitte Schwäbisches Tagblatt.

Bericht Schwäbisches Tagblatt vom 06.12.2012 [1]:

„Das Uniklinikum ist auf dem Weg der Besserung – sowohl medizinisch wie wirtschaftlich.“ Für 2013 wird ein ausgeglichener Haushalt angepeilt. […] Gerade der Herzbereich sei wirtschaftlich bedeutsam. […] Die Patientenzahlen steigen rasant. […] „Wir haben nur eine Chance auf einen ausgeglichenen Haushalt, wenn wir die Leistungen weiter steigern.“ […] „Zum Beispiel bei den vollstationären Fällen verzeichnet die Klinik seit Jahren ein Wachstum.“

Bericht Schwäbisches Tagblatt vom 08.12.2012 [2]:

„AOK: Zu viele Operationen – lukrative Eingriffe nehmen zu.“ […] „Werden Patienten in Deutschland ohne Not aus wirtschaftlichem Interesse operiert?“ […] „Deutsche Kliniken haben im vergangenen Jahr so viele Patienten wie noch nie behandelt.“ […] „Nur jeder dritte der zusätzlichen Fälle ist durch das Älterwerden erklärbar.“ […] „Es gibt besonders dort starke Zuwächse, wo die Eingriffe Gewinn versprechen.“ […] „Den ökonomischen Fehlanreizen kommt eine ganz gewichtige Rolle zu.“

Das Wohl und die Finanzlage der Allgemeinheit sind ebenfalls nicht Antriebsfeder der Handelnden im Gesundheitssystem, denn ein Kranker, der nicht optimal, sondern lukrativ behandelt wird, ist gegebenenfalls länger arbeitsunfähig, mehr auf Hilfe angewiesen und verursacht für die Allgemeinheit mehr Kosten.

Physiotherapeuten sind in dieses System eingebunden. Im Krankenhaus muss den Vorgaben der Arbeitgeber gefolgt werden. Bei den ambulanten Behandlungen besteht eine Abhängigkeit von Verordnungen der Ärzte und von Vorgaben der Krankenkassen. Budgetängste der Ärzte können dazu führen, dass sie offensichtlich notwendige Behandlungen nicht verordnen. Krankenkassen bezahlen 15 Minuten Behandlungszeit für Physiotherapie, obwohl in dieser Zeit eine sorgfältige Untersuchung, Behandlung und Instruktion nicht möglich ist. Wissenschaftliche Erkenntnisse zu wirksamen Therapieeinheiten spiegeln sich in den Zahlungsgepflogenheiten der Krankenkassen nicht wider. Aus Gründen der Werbewirksamkeit können aber nicht fundierte Leistungen, die gerade so modern sind, wie z. B. Osteopathie, bezahlt werden.

Patienten gehen davon aus, dass sie mit der Bezahlung ihrer Krankenversicherungsbeiträge bei Krankheit einen Anspruch auf eine optimale Diagnostik und Behandlung erworben haben. Geld spielt dabei keine Rolle, darum kümmern sich andere. Offenlegung von Nutzen und Kosten jeder Gesundheitsleistung und eine direkte finanzielle Beteiligung würden den Patienten Mitbestimmung und Mitverantwortung bringen.

Ein Vergleich: Jeder mündige Bürger macht sich vor einem Autokauf Gedanken über seine Ansprüche an das Fahrzeug, informiert sich über das Preis-Leistungs-Verhältnis und wählt dann gezielt ein Auto und einen vertrauenerweckenden Händler samt Werkstatt aus. Genauso müssen sich Patienten über die Qualifikation ihrer Behandelnden informieren, die ihnen vorgeschlagenen Untersuchungen und Behandlungen hinterfragen, ihre Ansprüche festlegen, das Preis-Leistungs-Verhältnis abwägen und die Maßnahmen in Anspruch nehmen, die nachvollziehbar erklärt wurden und effektiv sind. Häufig ist es dann notwendig, dass die Patienten Leistungen selbst bezahlen, da die Kassen nur kurze Behandlungszeiten vergüten und neue Erkenntnisse erst nach vielen Jahren Einzug in den Heilmittelkatalog finden. Das ist bei hohen regelmäßigen Zahlungen an die Krankenversicherung oft schwer verständlich. Patienten, die eine solche Leistung in Anspruch genommen und einen Nutzen für ihre Gesundheit festgestellt haben, sollten diese Information an ihre Ärzte und Krankenkassen weitergeben und die Erstattung des zugezahlten Betrags erbitten. Durch wiederholte Äußerung ihrer Bedürfnisse, Erfahrungen und Forderung nach optimaler Fürsorge können Patienten bei den Entscheidungsträgern ein Denken und Handeln in ihrem Sinne fördern. Physiotherapeuten können das System positiv beeinflussen, indem sie das Wohl ihrer Patienten in den Mittelpunkt ihres Handelns stellen und sie dabei unterstützen, ihre Interessen zu vertreten.