Für Patienten mit Claudicatio intermittens (CI) und peripherer arterieller Verschlusskrankheit
(PAVK) in den Fontaine-Stadien I und II ist strukturierter Gefäßsport empfehlenswert, soweit sie
dazu in der Lage sind. Dies sagt in Deutschland die entsprechende S3-Leitline, die europäische
Fachgesellschaft European Society of Cardiology (ESC) bezieht die gleiche Position. Das Training
soll mindestens dreimal wöchentlich in Übungseinheiten von 30 bis 60 Minuten über einen Zeitraum von
mindestens drei Monaten erfolgen; ideal wäre, es lebenslang fortzuführen, sofern sich die PAVK nicht
verschlechtert.
Studiendaten belegen Nutzen
Grundlage der evidenzbasierten Empfehlungen mit dem Empfehlungsgrad A Level 1 sowohl der
deutschen Fachgesellschaft DGA von 2009, der europäischen Fachgesellschaft ESC von 2012 als auch der
amerikanischen Fachgesellschaft AHA/ACC (2005) bilden zahlreiche Studien, in denen nachgewiesen
werden konnte, dass supervidiertes Gehtraining über mindestens 12 Wochen dreimal wöchentlich für
30–60 min die Gehstrecke signifikant verlängerte – je nach Arbeit zwischen 150% und 246% im
Vergleich zum Ausgangswert. Darüber hinaus konnte nachgewiesen werden, dass regelmäßiges Gehtraining
bei Patienten mit PAVK die Mortalität senkt (Circulation 2006, 114: 242-248, Circulation 2011,
123: 89-97, Circulation 2011, 123: 491-498). Somit ist neben einer lokalen Wirkung auf die
Atherosklerose im Bereich der Beingefäße auch eine übergreifende Wirkung auf die kardiovaskuläre
Mortalität zu verzeichnen.
Spazierengehen reicht nicht aus
Dr. med. Gesine Dörr, Fachärztin für Innere Medizin mit der Spezialisierung
Kardiologie/Angiologie ist Chefärztin der Wolletzsee-Klinik, einer Reha-Einrichtung der GLG
Gesellschaft für Leben und Gesundheit mbH mit dem Schwerpunkt auf angiologische und neurologische
Rehabilitation. Die Landschaft um den malerischen Wolletzsee verlockt zu ausgedehnten Spaziergängen.
„Nicht überwachtes, individuelles Gehen ist aber deutlich weniger effektiv als ein strukturiertes
Trainingsprogramm“, betont Dörr. Es sei auch wichtig, dass die Trainingsintensität bis zum
Belastungsschmerz ausgedehnt wird. „Wir vermitteln unseren Patienten daher, dass Gehtraining nicht
etwa ,gemütliches Schlendern‘ bedeutet, sondern zügiges Gehen mit durchschnittlich 100 Schritten pro
Minute, bis leichte Schmerzen zu spüren sind. Dann wird eine Pause eingelegt, bis diese abgeklungen
sind. Dies wird mehrmals wiederholt. Wir stimmen das Pensum genau auf das Erkrankungsstadium und die
Kondition unserer Patienten ab.“
„Bevor das eigentliche Training beginnen kann, vermitteln wir unseren Patienten die richtigen
Fußbewegungen und Abrolltechniken“, erläutert Sporttherapeut Christian Brückner, der Dörr bei
der Ausarbeitung des Trainingsprogramms unterstützt. „Denn viele Patienten mit
Durchblutungsstörungen haben sich Fehlhaltungen angewöhnt, um die Schmerzen beim Gehen zu
verringern, diese behindern ein effektives Training.“ Auch die richtige Armhaltung sei für das Gehen
sehr wichtig und werde geübt. Desweiteren helfen Kraft- und Koordinationsübungen, bisher wenig
genutzte Beinmuskeln zu kräftigen. „Je koordinierter die Muskelgruppen zusammenarbeiten, umso
kraftsparender wird das Gehen“, erklärt Brückner. Auch Dehnungsübungen, „Muskelpflege“ genannt,
gehören zum Gefäßsport dazu. Nach der Trainingsstunde wird die erreichte Strecke in das persönliche
Therapieheft eingetragen. „Für die Patienten ist es eine große Motivation zu sehen, wie die
sportliche Betätigung ihre Gehstrecke nach und nach verlängert“, berichtet Brückner, der eine
Zusatzausbildung zum Gefäßtrainer absolviert hat.
Doch die Verlängerung der Gehstrecke ist nicht der einzige Erfolg, den die Patienten verbuchen
können. „Untersuchungen haben gezeigt, dass regelmäßiges Gehtraining das Risiko senkt, an einer
Durchblutungsstörungen frühzeitig zu sterben“, erklärt Dörr. Dr. med. Clemens Fahrig,
Chefarzt der Inneren Abteilung und Ärztlicher Direktor des Evangelischen Krankenhaus Hubertus in
Berlin sowie Leiter des Gefäßzentrums Berlin-Brandenburg, kann dies nur bestätigen: „Gefäßsport ist
eine sehr wirkungsvolle Therapie bei Oberschenkelarterienverschlüssen, um die Kollateralisierung der
Beinarterien in Schwung zu bringen. Aber es geht nicht nur um die Kollateralen; die
Bewegungstherapie hat eine Vielzahl von positiven Effekten auf den gesamten Organismus: Sie
verbessert die Sauerstoffutilisation, die kardiale Leistung, kräftigt die Muskulatur. Die Gelenke
werden wieder beweglicher, die Koordination verbessert sich, und letztendlich führt dies zu einer
Erhöhung der Lebensqualität.“
Angebot an Gefäßsport zu gering
Um allen infrage kommenden Patienten Gefäßsport anbieten zu können, wäre ein flächendeckendes
Netz an Gefäßsportgruppen wünschenswert. Dörr hat Anfang des Jahres eine ambulante Gefäßsportgruppe
für die Region Barnim und Uckermark gegründet – eine Seltenheit im Bundesland Brandenburg. „Von
einem flächendeckenden Netz sind wir weit entfernt“, bestätigt Fahrig. „Selbst in Berlin gibt es
Stadtteile ohne eine einzige Gefäßsportgruppe, z.B. im Südwesten und Nordosten der Hauptstadt. In
vielen anderen Großstädten existiert kein einziges Angebot. In ländlichen Gebieten sind
Gefäßsportgruppen wegen der langen Anfahrtswege schwer durchführbar. Wir versuchen allerdings auch
für diese Patienten etwas zu tun, indem wir ihnen Taktmeter mit ihrer individuellen Schrittfrequenz
und ein Übungsprogramm mit nach Hause geben.“ In Berlin hat Fahrig gute Erfahrungen damit gemacht,
auf die Sportvereine zuzugehen. Diese hätten ein Interesse, solche Gruppen anzubieten, da sie auch
Fördermittel dafür bekommen können. „Mittlerweile gibt es berlinweit in verschiedenen Sportvereinen
ca. 500 Gefäßsportler“, so Fahrig. Für sie wird der Gefäßsport von den Krankenkassen entweder
komplett oder teilweise bezuschusst. In einem Berliner Sportverein bezahlt der Patient
beispielsweise für die Teilnahme an der Gefäßsportgruppe 28 Euro, davon bekommt er bei regelmäßiger
Teilnahme fast 20 Euro von seiner Krankenkasse zurück.Um in der Wolletzer Gefäßsportgruppe mitmachen
zu können, empfiehlt Dörr ihren Patienten, sich an den Hausarzt zu wenden, der für die Krankenkasse
einen Antrag auf Kostenübernahme ausfüllt. Je nach Stadium der Krankheit bezahlt die Kasse bis zu
zwei Jahren Reha-Sport, bei Bedarf auch länger
„Reparaturmedizin“ hat Vorrang
Bei derart niedrigen Kosten verwundert die geringe Umsetzung der Leitlinien-Empfehlungen umso
mehr. „Eine Stent- oder Bypass-OP kostet die Krankenkasse mehrere Tausend Euro, und es fragt niemand
danach, ob durch Gefäßsport dieser Eingriff vielleicht hätte verhindert werden können“, kritisiert
Fahrig. „Das Problem ist, dass alle Krankenhäuser unter einem hohen Leistungsdruck stehen. Durch den
Aufbau und die Betreuung von Gefäßsportgruppen wird man nicht reich und kann sich nicht finanzieren,
im Gegenteil: Es kostet viel Arbeit und Engagement. Das ist aus meiner Sicht eine sehr gefährliche
Entwicklung. Die Empfehlung zum Gefäßsport halte ich für eine der am meisten missachteten
Leitlinienempfehlungen.“ Paradoxerweise schreite diese Entwicklung voran, obwohl die Härte der
Empfehlung zum Gefäßsport in den Leitlinien zunehme. „Das ist ein eindeutiges Missverhältnis!“,
stellt Fahrig fest. „In Berlin werden pro Jahr mehr als 15 000 Gefäß-PTA durchgeführt, aber es sind
nicht mal 1000 Gefäßsportler unterwegs. Dabei schließt eine Therapie die andere ja nicht aus. So ist
beispielsweise im Beckenbereich eine Dilatation oder Operation unumgänglich, weil sich dort keine
Umgehungskreisläufe bilden können. Aber auch in der Sekundärprävention nach Stenteinsatz oder
Operation sollte dem Patienten Gefäßsport angeboten werden.“
Ausschlusskriterien für den Gefäßsport
Doch nicht alle Patienten mit Durchblutungsstörungen der Beine können mit Gefäßsport therapiert
werden: Zur Behandlung der kritischen Ischämie (Fontaine-Stadien III und IV) ist Gehtraining nicht
geeignet. Auch Patienten mit Beckenarterienstenosen und -verschlüssen sowie Stenosen der A. profunda
femoris und Verschlüssen der ipsilateralen A. femoris superficialis profitieren nicht. Laut
S3-Leitlinie sollte in diesen Fällen zunächst eine Gefäßrekanalisation erfolgen, bevor ein
Gehtraining im Anschluss als Basisbehandlung eingeleitet wird. Auch orthopädische und/oder
neurologische Begleiterkrankungen oder kardiopulmonale Funktionsdefizite können das Gehtraining
erschweren, hier wird ebenfalls eine Abklärung empfohlen. „Besonders sorgfältig müssen auch
Diabetiker untersucht werden, da sie wegen ihrer Polyneuropathie ein geringeres Schmerzempfinden
haben. Bestehen beispielsweise bei einem Diabetiker im Stadium II Zweifel, ob dieses Stadium
tatsächlich vorliegt, führen wir als Zusatzuntersuchung eine transkutane
Sauerstoffpartialdruckmessung durch, mit der man eine kritische Ischämie sicher ausschließen kann“,
berichtet Fahrig.
Motivation der Ärzte steigern
Ärgerlich findet Fahrig die Aussage, dass die Motivation vieler Patienten zum Gefäßsport gering
sei. „Es liegt vor allem an der Motivation der Ärzte! Wir sagen dem Patienten: Sie können dem Ballon
oder dem Bypass weglaufen! Wenn man den Patienten alle Zusammenhänge genau erklärt, ihnen
verdeutlicht, dass immer noch operiert oder dilatiert werden kann, wenn der Gefäßsport nicht
ausreicht – dann sind mehr als 50% von ihnen zum Training bereit. Einen Flyer in die Hand drücken
reicht nicht!“ Wichtig ist nach Fahrigs Ansicht auch, auf eine Altershomogenität der Gruppe zu
achten, da die soziale Komponente eine Rolle spielt: „Wenn man das alles beachtet, wenn eine
Gefäßsportgruppe so gut strukturiert und durchdacht ist wie ein Dilatation oder eine OP, dann wird
der Erfolg nicht ausbleiben!“