Sprache · Stimme · Gehör 2012; 36(02): 49
DOI: 10.1055/s-0032-1322327
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Cochlea-Implantation – Vielseitige Verbesserungen bei älteren Menschen

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Publication Date:
04 July 2012 (online)

 

Zum Thema Cochlea-Implantat im Alter gibt es schon viele (befürwortende) Arbeiten. Die hier besprochene ist daher nur eine von vielen. Aber sie ist brandaktuell und sie kommt aus Deutschland – einem Land, in dem man sich die Behandlung von alten Menschen besonders viel kosten lässt. Schließlich ist jeder von uns in Zukunft vom "Hören im Alter” betroffen.
Laryngoscope 2012; 122: 196—203

Grob gepeilt und nicht genau gezählt ist nur bei der Hälfte der in meiner Abteilung (inzwischen mit "Hörzentrum Lübeck") zur Cochlea-Implantation vorgestellten Patienten wirklich die Indikation dafür zu stellen. Der "anderen" Hälfte ist mit einer besseren konventionellen Hörgeräteversorgung zu helfen, oder – noch viel einfacher – mit einer Neueinstellung der schon vorhandenen Hörgeräte. (Päd-)Audiologie ist alles in allem eine preiswerte Behandlung. Betrachten wir nur die Patienten mit Bedarf für ein Cochlea-Implantat (CI), dann zähle ich ganz grob ein Drittel der Patienten mit einem Alter bis 6 Jahren, ein Drittel mit einem Alter von 6–60 Jahren und ein Drittel mit einem Alter oberhalb 60 Jahre. Die Hälfte des Klientels oberhalb 60 Jahre ist sogar älter als 70 Jahre. Das wären in meiner "Milchmädchenrechnung" (dafür aber gut zu merken) ein Sechstel des gesamten Klientels. Und um die geht es jetzt, vielmehr um die Frage, ob sich denn dann ein CI noch "lohnt". Klar soweit?

In Deutschland und Nordamerika heißt es spontan: "Na, da regt mich ja die Frage schon auf…!", in anderen Ländern dagegen: "Welch eine Frage – natürlich nicht!" Aber wir werden nun mal immer älter und haben "im Alter" immer mehr vor. Der Trend geht weg vom Wohnen im "Seniorenheim" und hin zur selbständigen Lebensführung in den "eigenen viel Wänden", unterstützt durch Technik, Telemetrie, Automation, künstliche Intelligenz u.v.m, und das nicht nur im Haushalt, sondern auch beim Autofahren. Neue Autos halten die Fahrspur "von selbst" – wie von Geisterhand, sagte man einst. Mein Großvater gab mit 75 freiwillig seinen Führerschein ab und kündigte sein Abo im Staatstheater – er wurde "im Alter" hochgradig schwerhörig und kam mit Hörgeräten nicht zurecht – das war in den 80er Jahren.

Meine Mutter fährt mit 83 Jahren weite Strecken mit dem Auto und hat ihr Abo behalten. Dort trifft sie nicht nur gleichgesinnte junge Leute, sondern auch "Alte", die so selbständig sind wie sie selbst. Gut betuchte 70-jährige kaufen heute ihren ersten "GTI", "SLK", "M3", "S3", "Boxter" oder wie sie alle heißen, während die Enkel vor Neid erblassen, und bezahlen oft mehr 5000 Euro für "unsichtbare Hörgeräte" und sonstigen Schnickschnack dazu – pro Seite, versteht sich. Noch Fragen?

Vor CIs schrecken rüstige Menschen über 70 Jahren auch nicht mehr zurück, haben sie doch kürzlich in der Kardiologie schon weit Schlimmeres als eine Implantation durchgemacht. Da haben wir‘s wieder: Das subjektive Erleben – nicht die Kosten und Fakten – sind beim Pro und Contra entscheidend. Das subjektive Erleben steht auch beim Erfolg im Vordergrund. Und dafür gibt es heute Fragebogentests. Sie wollen nicht die aufwendigen audiometrischen und sprachbefundlichen Tests ersetzen, sondern verdeutlichen, wie man audiometrische und sprachbefundliche Erfolge im Alltag wirklich erlebt.

Olze et al. verglichen 20 ertaubte Patienten im Alter ≥ 70 Jahren mit 35 Patienten unter 70 Jahren, die ein Mehrkanal-CI verschiedener Hersteller erhielten, hinsichtlich der Ergebnisse beim Sprachverstehen und bei Fragebogentests, d. h. in der deutschen Version des Nijmegen-CI-Questionnaire (Quality of life), des Tinnitus-Questionnaire, des Perceived-Stress-Questionnaire und des Brief-COPE, einem Fragebogen zur Krankheitsbewältigung. Die Ergebnisse kann ich ausnahmeweise mal kurz fassen: beide Gruppen, <70 und ≥70 Jahre zeigten in allen Tests vielfach bessere Ergebnisse nach CI und der entsprechenden Nachbehandlung. Das verwundert nicht und entspricht den Ergebnissen aller anderen Altersgruppen. Doch nun kommt’s: die Gruppe ≥70 Jahre profitierte in allen Untersuchungen signifikant mehr als die Gruppe <70 Jahre. Die Unterschiede sind in fast allen Tests so groß, dass man die Signifikanz in den Abbildungen mit bloßem Auge und schon ohne statistischen Test klar erkennt. Ausnahmen: physische Komponenten wie "physical functioning" und "Schmerzen" waren in der Gruppe ≥70 Jahren schlechter als in der Gruppe <70 Jahren und der Zuwachs des Sprachverstehens im Störschall war in beiden Gruppen nur "gleich gut" – trotzdem war der "Glückszuwachs" bei den "Älteren" größer! Na also, man wird sich doch wohl noch als älterer Mensch über "etwas" freuen dürfen, oder?! Zum Vergleich: Wie glücklich machen Großeltern kleine Geschenke, Gesten, oder etwas Zeit von Enkeln!

Fazit

Im Alter kann man den Effekt von CIs nicht mehr nur mit "dB" und "% Sprachverstehen" erfassen. CIs bei Älteren sind viel "lohnenswerter" als "dB" und "% Sprachverstehen" vermuten lassen. Der Grund: sie verbessern nicht nur das Verstehen, sondern auch die Selbständigkeit, die Zufriedenheit, den quälenden Tinnitus und den Stress mit den Liebsten. Das läßt sich mit Geld nicht aufwiegen. Natürlich sind die Grenzen der Indikation bei feinmotorischen Problemen oder bei Demenzen zu beachten. Doch für viele, noch "fitte", ältere Patienten kann ein CI ein "Jungbrunnen" werden. Und wenn man für mehr als 50 000 Euro das Herz "auf Vordermann" bringt, darf man ca. 30 000 Euro für ein Cochlea-Implantat samt Nachbehandlung nicht scheuen. Wer A sagt…

Prof. Dr. med. Rainer Schönweiler, Lübeck