physioscience 2012; 8(3): 89-90
DOI: 10.1055/s-0032-1313163
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Was braucht man als First Contact Practitioner?

U. Wolf
Further Information

Publication History

Publication Date:
17 August 2012 (online)

Im Grunde genommen ist man sich doch einig: Der Primärkontakt für Physiotherapeuten ist eine gute Sache und auch in Deutschland realisierbar. Die positiven Erfahrungen in den Ländern, die dies bereits erprobt und umgesetzt haben, unterstreichen die Sinnhaftigkeit von Neuregelungen der Tätigkeit im Sinne eines First Contact Practitioners (FCP) für Angehörige der Gesundheitsberufe. Darüber, dass eine Nachqualifikation stattfinden muss, besteht ebenfalls Konsens. Bezüglich Art, Inhalt und Umfang diesbezüglicher Qualifizierungsmaßnahmen gehen die Vorstellungen jedoch weit auseinander. Sie reichen von „Red-Flags-Kursen“ bis hin zu einem Hochschulabschluss mit klar definiertem medizinischen Schwerpunkt.

Was brauchen die Kollegen aber wirklich, um der mit einer Tätigkeit als FCP verbundenen Verantwortung auch gerecht werden zu können? Spezialisierte Physiotherapeuten, die aufgrund enger und vertrauensvoller Zusammenarbeit mit ärztlichen Kollegen bereits einen „Quasi-Primärkontakt“ praktizieren, können dies klar benennen: Es fehlt vor allem an medizinischem Grundlagenwissen! Dies gilt auch für die Bachelor-Absolventen der Fachhochschulen. Neben vertieften Kenntnissen in den vorklinischen Fächern (insbesondere Biochemie, Zellbiologie und Pathophysiologie) wird vor allem differenzialdiagnostisches Wissen in den klinischen Fächern benötigt, das die oft durch das exzessive Konsumieren physiotherapeutischer Weiterbildungen entstandenen Scheuklappen und damit die Fokussierung auf den eigenen Tätigkeitsschwerpunkt wieder aufbiegt. Auf die Behandlung von Erkrankungen des Bewegungsapparats spezialisierte Physiotherapeuten müssen z. B. auch die neurologischen und internistischen Differenzialdiagnosen kennen und die Wahrscheinlichkeit für deren Ausschluss zuverlässig beurteilen können. Untersuchen sie im Rahmen eines FCP Patienten mit Wirbelsäulenerkrankungen, so wird spätestens beim Verdacht auf eine vorliegende rheumatische Erkrankung deutlich, dass auch in der Radiologie, Labormedizin, Pathologie und Pharmakologie Nachholbedarf besteht. Um diese Lehrinhalte adäquat vermitteln zu können, ist eine enge Kooperation und Anbindung an die medizinischen Fakultäten notwendig.

Das viel zitierte Gutachten des Sachverständigenrates aus dem Jahr 2007 [2] betont diese Notwendigkeit ebenfalls. Die dort formulierte Aussage „die medizinischen Fakultäten der Universitäten sollten […] die Konsequenz ziehen, Ausbildungsverantwortung für alle, auch neue berufliche Zweige, die zur Heilkunde gehören, zu übernehmen“ wird im Gesamtkontext des Gutachtens zwar positiv gesehen, verursachte bei manchem Kollegen aber auch Bauchschmerzen –, hatte man sich doch zumindest im Bereich der Lehre die Autonomie der Gesundheitsberufe hart erkämpfen müssen.

Die vor 2 Wochen veröffentlichten Empfehlungen des Wissenschaftsrates [3] unterstreichen erneut die Notwenigkeit einer engeren Zusammenarbeit zwischen der Medizin und den Gesundheitsberufen, schlagen aber auch Modelle für diese Zusammenarbeit vor: Die Integration der Gesundheitsberufe in die Universitäten oder die Kooperation im Sinne eines Gesundheitscampus. Der Wissenschaftsrat begründet dies mit der Notwendigkeit, die „methodischen, inhaltlichen und theoretischen Grundlagen der Universitätsmedizin und anderer relevanter Fächer“ für eine „umfassende Akademisierung“ zu nutzen. Im Rahmen des integrativen Modells empfiehlt er, dass die medizinischen Fakultäten „um ein universitätsmedizinisches Department für Gesundheitswissenschaften ergänzt werden, das über eine funktionale und inhaltliche Eigenständigkeit gegenüber den genuin medizinischen Departments und Instituten verfügt“. Für das Modell des Gesundheitscampus empfiehlt er, dass sich die Leitung gleichermaßen aus Mitgliedern beider Hochschulen bzw. Fakultäten zusammensetzt. Insofern dürften die Bedenken gegen eine engere Anbindung an die Medizin zunächst weitestgehend entkräftet sein.

Allerdings steht da natürlich noch die Frage der Finanzierung im Raum. Die mit der Schaffung weiterer primärqualifizierender Studienplätze und deren institutioneller Rahmenbedingungen unausweichlich entstehenden Mehrkosten sollen nach der Vorstellung des Wissenschaftsrates die Länder tragen, da die Mittel des Hochschulpakts alleine hierfür als nicht ausreichend erachtet werden. In jedem Falle muss für die medizinischen Fakultäten ein Anreiz für das Engagement im Bereich der Gesundheitswissenschaften geschaffen werden. Dass eine Finanzierung von Mehrleistungen der Fakultäten ohne zusätzliche Mittelzuweisung nicht möglich ist, belegen nicht nur das Scheitern der physiotherapeutischen Studiengänge an der medizinischen Fakultät in Marburg und die Diskussionen in Mainz. Der Bund und die Länder sind erneut gefragt, um die Finanzierung sicherzustellen. Nordrhein-Westfalen (NRW) hat sich bereits klar positioniert und auf dem Gesundheitscampus NRW eine gesundheitswissenschaftliche Hochschule gegründet. In den übrigen Bundesländern beginnen die Diskussionen gerade erst.

Die Diskussion um den Primärkontakt zeigt aber auch, dass insbesondere die Forderungen nach der Reform der physiotherapeutischen Ausbildung und Berufsausübung bei Medizinern einen empfindlichen Nerv treffen. Unklar bleibt dabei jedoch, warum man eigentlich befürchtet, dass sich eine derartige Reform in Deutschland anders auswirken würde als in anderen Ländern? In den Niederlanden, Australien und den USA ist sie bereits umgesetzt. In England und Schottland haben nach der Einführung des FCP in mehreren Landesregionen die Allgemeinärzte jedenfalls bereits eine äußerst positive Bewertung darüber abgegeben [1].

Auch wenn auf landes- und hochschulpolitischer Ebene noch viele Probleme zu lösen sind, so wäre doch die sachliche Auseinandersetzung mit inhaltlichen Aspekten der Zusammenarbeit zwischen der Medizin und den Gesundheitswissenschaften ein wichtiger erster Schritt. Die kooperative Entwicklung von Curricula für grundständige Studiengänge, die in Kooperation mit den medizinischen Fakultäten angeboten werden und die fachliche Qualifikation zum FCP vermitteln, sollte zeitnah in Angriff genommen werden, um die Empfehlungen des Wissenschaftsrates bei der Reakkreditierung bestehender und der Akkreditierung neuer Studienangebote bereits umzusetzen.

Ich habe vor kurzem gewettet, dass es für Patienten in 5 Jahren möglich sein wird, ohne ärztliche Verordnung direkt den Physiotherapeuten zur Behandlung aufzusuchen. Seit der Veröffentlichung der Empfehlungen des Wissenschaftsrates vom 23. Juli dieses Jahres glaube ich wirklich daran!