physioscience 2011; 7(3): 126-127
DOI: 10.1055/s-0031-1281655
Kommentar/Invited Commentary

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Kommentar zum Artikel Rajadurai V. Wirksamkeitsvergleich einer kaudalen Gleitmobilisationstechnik in endgradiger und mittelgradiger Schulterabduktion bei Capsulitis adhaesiva (Schultersteife)

K. Lüdtke1
  • 1Rückenzentrum am Michel Prävention GmbH, Hamburg
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Publication Date:
07 September 2011 (online)

Dem Artikel Wirksamkeitsvergleich einer kaudalen Gleitmobilisationstechnik in endgradiger und mittelgradiger Schulterabduktion bei Capsulitis adhaesiva (Schultersteife) von Viswas Rajadurai liegt die klassische klinische Frage zugrunde: Welche Technik hilft eigentlich meinem Patienten – in diesem Fall einem mit adhäsiver Schulterkapsulitis – am besten? Soll Kaudalgleiten am Ende der möglichen Abduktionsbewegung oder in einer mittleren Abduktionsstellung durchgeführt werden, um Schmerz und Bewegungseinschränkung zu verbessern? Diese und ähnliche Fragen stellen sich dem Klinker täglich viele Male und weil er evidenzbasiert handeln möchte, sucht er nach wissenschaftlichen Nachweisen für die jeweils infrage kommende Technik. Oft endet diese Suche ergebnislos, denn Arbeiten wie diese, die versuchen, 2 Techniken möglichst standardisiert zu vergleichen, sind selten.

In dieser Arbeit ist die endgradige der mittelgradigen Schulterabduktion scheinbar überlegen. Bei genauerer Untersuchung der Methoden und Ergebnisse zeigt sich allerdings, dass trotz statistischer Signifikanz keine tatsächliche Überlegenheit vorliegt: Zunächst ist die Gruppengröße von jeweils 10 Patienten nicht groß genug für eine so variable Messtechnik wie der Goniometeruntersuchung. Auch für die Messung von Schmerz ist die Studienpopulation zu klein. Je kleiner die Gruppengröße, desto leichter kommt es zu einer Überschätzung des Effekts [3] weil Ausreißer (z. B. Patienten, die eine überdurchschnittliche Verbesserung der Abduktion zeigen) einen großen Einfluss auf das Gesamtergebnis haben.

Der Unterschied der Mittelwerte zwischen endgradiger und mittelgradiger Schulterabduktion beträgt 14,9°. Die endgradige Schulterabduktion führt also im Mittel zu 14,9° mehr Bewegungsausmaß. Im Methodikteil beschreibt der Autor jedoch, dass die Goniometermessung immer auf die nächsten 5° aufgerundet wurde. Die Interrater-Reliabilität von Goniometermessungen der Schulterabduktion ist zweifelhaft [1], besonders, wenn es um kleinere Unterschiede geht. Wenn man Spielraum für den Messfehler dieser Technik erlaubt, ist die statistische Signifikanz wenig überzeugend.

Der Unterschied der Mittelwerte für die Schmerzstärke liegt auf der visuellen Analogskala von 1-10 bei 1,1 Punkten. Auch diesen Unterschied bezeichnet der Autor als signifikant. Die minimale Verbesserung, die von Schulterpatienten als klinisch relevant berichtet wurde, liegt jedoch bei 1,4 Punkten [4].

Somit führen beide Behandlungstechniken bei genauerer Betrachtung zu ähnlichen Ergebnissen, zudem ja auch verschiedene Therapeuten die Techniken durchführten. Wurde am Ende eventuell nur der Unterschied zwischen den beiden Therapeuten gemessen?

Wie ist das mit der doppelten Verblindung gemeint? Die Patienten kannten ihre Gruppenzugehörigkeit nicht. Das setzt voraus, dass sie nicht miteinander kommunizierten. Die Therapeuten konnten nicht verblindet sein, da sie wissen mussten, welche Technik sie durchführen sollten. Offen bleibt, wer die Messungen des Bewegungsausmaßes und der Schmerzintensität vornahm und wer die Daten analysierte. Wurde das Bewegungsausmaß von mehr als einer Person gemessen, stellt sich das oben bereits erwähnte Problem der Interrater-Reliabilität für Goniometermessungen erneut.

Methodische Mängel sind in fast jeder klinisch basierten Studie zu finden. Ursache sind oft mangelnder Ressourcen (z. B. Personal, Zeit, Geld), aber vor allem auch, dass es sich um ein sich ständig veränderndes Setting und nicht um eine Laborsituation handelt. So stellt sich z. B. die Frage der Homogenität der Studienpopulation: Bei gleicher Diagnose bietet sich ein ganzes Spektrum klinischer Präsentationen, und ähnliche klinische Präsentationen, d. h. ähnliche Schmerzverteilungen und Bewegungseinschränkungen können bei den verschiedensten Diagnosen auftreten. Werden die Ein- und Ausschlusskriterien zu eng gefasst, dauert es sehr lange, die erforderliche Samplegröße zu erreichen – oft zu lange für ein Master- oder PhD-Projekt. Bei zu weit gefassten Ein- und Ausschlusskriterien wird dagegen die Studienpopulation immer weniger homogen.

Der Autor der vorliegenden Arbeit schilderte die Kriterien folgendermaßen: Diagnose von einem Orthopäden gestellt, 3 Monate Symptomdauer und mindestens 50 % Bewegungseinschränkung in Abduktion. Eine Mindestschmerzstärke ebenso wie Angaben über Medikation und über Labor- bzw. Bildgebungswerte nannte er nicht. Somit bleibt das Stadium der Erkrankung unklar, das z. B. die Irritierbarkeit der Strukturen beeinflusst.

Die klinische Entscheidung, ob eine Technik am Ende oder vor dem Ende der Bewegung durchgeführt wird, ist das Ergebnis eines komplexen Clinical-Reasoning-Prozesses. Dabei spielen die subjektiv beschriebenen Einschränkungen des Patienten und der manualtherapeutische Befund eine Rolle: Wo finden sich die deutlichsten vergleichbaren Zeichen bzw. wo lassen sich die Symptome reproduzieren - am Bewegungsende oder in der Mitte der Bewegung? Die Bestätigung dafür, dass die richtige Technik gewählt wurde, bietet dann erst der Wiederbefund nach einer Probebehandlung. Da dieser Prozess dynamisch ist und ständig an die klinische Situation adaptiert wird, ist eine Standardisierung der Behandlung nach einem Studienprotokoll eine künstlich erzeugte Situation, ein Versuch, etwas näher an Laborbedingungen zu rücken. Hierbei werden Denken und Handeln sowohl der Patienten als auch der Therapeuten „abgeschaltet”. Forschungsdesigns, die einen Rahmen vorgeben, Therapeuten aber ihre Behandlungstechniken frei auswählen lassen (z. B. Manuelle Therapie im Vergleich zu Gerätetraining), ermöglichen dagegen ein ungehindertes Clinical Reasoning und entsprechen somit eher dem klinischen Alltag. Allerdings lassen sich so nicht bestimmte Techniken, sondern nur der Effekt der Behandlung an sich evaluieren.

Im vorliegenden Artikel erzielen beide Behandlungstechniken eine Verbesserung der Symptome. Manuelle Therapie und insbesondere Kaudalgleiten scheinen sich also positiv auf die Symptome der adhäsiven Kapsulitis auszuwirken. Adhäsive Kapsulitis hat einen sehr unterschiedlichen Krankheitsverlauf, der über 24 Monate dauern kann [2]. Leider fehlt in der Untersuchung eine Kontrollgruppe, die Aufschluss darüber geben könnte, ob es sich bei diesem Effekt nur um die natürliche Heilungskurve bzw. die positiven Aspekte des Kontakts zu einem Physiotherapeuten oder um einen tatsächlichen Therapieeffekt handelt.

Zusammenfassend ist die vorliegende Studie ein Beispiel für die Schwierigkeiten, die sich in der physiotherapeutischen Forschung ergeben. Sie stellt aber auch den Versuch eines für die Physiotherapie so wichtigen Effektivitätsnachweises klinischen Handelns dar.

Literatur

  • 1 Riddle D L, Rothstein J M, Lamb R L. Goniometric reliability in a clinical setting. Shoulder measurements.  Phys Ther. 1987;  67 668-673
  • 2 Rill B K, Fleckenstein C M, Levy M S et al. Predictors of outcome after nonoperative and operative treatment of adhesive capsulitis.  Am J Sports Med. 2011;  39 567-574
  • 3 Springate S D. The effect of sample size and bias on the reliability of estimates of error: a comparative study of Dahlberg’s formula.  Eur J Orthod. 2011;  DOI: 10.1093 /ejo/cjr010
  • 4 Tashjian R Z, Deloach J, Porucznik C A et al. Minimal clinically important differences (MCID) and patient acceptable symptomatic state (PASS) for visual analog scales (VAS) measuring pain in patients treated for rotator cuff disease.  J Shoulder Elbow Surg. 2009;  18 927-932

Kerstin Lüdtke

Rückenzentrum am Michel Prävention GmbH

Ludwig-Erhard-Str. 18

20459 Hamburg

Email: kerstin_luedtke@hotmail.com

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