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DOI: 10.1055/s-0030-1269430
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York
„Das Wesen des Meeres ist aus dem Tropfen nicht ersichtlich”
Bernadette Soubirous (1844 – 1879) und die Wunderheilungen in LourdesBernadette Soubirous (1844–1879) and the miracle healings at LourdesPublication History
Publication Date:
14 December 2010 (online)

Einleitung: Seltene Heilungen, göttliches Geheimnis und ein wenig Zynismus
Diogenes von Sinope (um 400 – 325 v. Chr.) war der bekannteste Exponent der kynischen Philosophie, die ihren Beinamen vom Spitznamen des Diogenes – kyon („Hund”) – erhielt. Diogenes stieß seine Zeitgenossen vor den Kopf, indem er eine radikale Anspruchslosigkeit als Weg zur Glückseligkeit (griech. eudaimonia) vorlebte. Zahlreiche Legenden, überliefert in der Philosophiegeschichte (Buch 6, Kap. 20 – 81) des Diogenes Laertios (3. Jahrh. n. Chr.), schildern seine teils provokanten Auftritte in der Öffentlichkeit [5]. Es verwundert nicht, das Diogenes sich auch über die Heilkulte „zynisch” (Begriff modern abgeleitet von der kynischen Philosphie) äußerte. Heilkulte zahlreicher Gottheiten gehörten in der griechischen (ebenso in der römischen) Antike zum weiten Feld von Gesundheit, Krankheit, Heilung – einem Feld, das in der Moderne durch ein „Fach”, die (naturwissenschaftliche) Medizin in mehrfachem Sinne beherrscht wird. In der Antike gab es kein Gesundheitssystem, keine einheitlich geregelte Ausbildung der spärlich vorhandenen Ärzte, kein allgemein verbindliches wissenschaftliches Niveau und keine Standardtherapien. Die Zuwendung zu höheren Wesen im Sinne eines Krankheitsverständnisses, das modern als „Iatrotheologie” und „Iatromagie” zu bezeichnen ist [23], war daher selbstverständlich und blieb es bis weit in die Moderne. Dem Diogenes wird ein Ausspruch über die Weihgeschenke in einem Mysterientempel auf der Insel Samothrake in der nördlichen Ägais zugeschrieben; konfrontiert mit der Vielzahl der Gaben dankbarer Pilger bemerkte er (Diog. Laert. 6, 59): „Es wären noch viel mehr, wenn auch die nicht Geretteten hätten stiften können” [5].
Im Jahr 1927 veröffentlichte der Satiriker Kurt Tucholsky (1890–1935) seinen Reisebericht „Ein Pyrenäenbuch”, in dem ein Kapitel Lourdes und seinem Heilbetrieb gewidmet ist ([28] S.60 – 97). Tucholsky, kein Diogenes des frühen 20. Jahrhunderts, sondern Jurist und politisch engagierter Schriftsteller, der 1935 als Jude und Sozialist in Deutschland verfemt seinem Leben selbst ein Ende setzte, fasste Lourdes auf als „Massenphänomen und nichts als das” ([28] S. 90) und setzte vieldeutig hinzu: „Das Wesen des Meeres ist aus dem Tropfen nicht ersichtlich.”
Etwas mehr als ein Jahrzehnt nach Tucholsky kam ein weiterer Besucher nach Lourdes: Der Schriftsteller Franz Werfel (1890 – 1945), als Jude auf der Flucht vor den Deutschen, hielt sich seit Ende Juni 1940 für einige Wochen dort auf und gelobte, so das Vorwort seines Buches „Das Lied von Bernadette”, würde er „herausgeführt aus dieser verzweifelten Lage …, dann will ich als erstes vor jeder andern Arbeit das Lied von Bernadette singen, so gut ich es kann” ([30] S.12). Sein 1941 erstmals erschienenes Buch, ein Roman, der jedoch die zahlreichen Dokumente über Bernadette heranzieht, wird vom Autor als Erfüllung eines doppelten Gelübdes bezeichnet. Er habe stets versucht „immer und überall durch meine Schriften zu verherrlichen das göttliche Geheimnis und die menschliche Heiligkeit – des Zeitalters ungeachtet, das sich mit Spott, Ingrimm und Gleichgültigkeit abkehrt von diesen letzten Werten unseres Lebens” ([30] S.12). Bezogen auf die kirchliche Anerkennung von Wundern legte Werfel dem Bischof von Tarbes Bertrand-Sévère Laurence (1790 – 1870) für das Jahr 1858 die bezeichnende Äußerung in den Mund: „Unser Herrgott schickt mit Recht nur äußerst selten Wunder. Denn was wäre sonst unser ganzer Glaube wert, wenn ihn jeder Flachkopf täglich bestätigt fände? … das Außerordentliche ist für jede Institution ein Gift, sei es der Staat, sei es die Kirche” ([30] S. 326). In der Tat war (und ist) die Kirche stets äußerst zurückhaltend, unerklärbare Heilungen als Wunder anzuerkennen.
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Prof. Dr. med. Karl-Heinz Leven
Institut für Geschichte und Ethik der Medizin
der
Universität Erlangen-Nürnberg
Glückstr. 10
91054 Erlangen
Phone: 09131/8522094
Email: karl-heinz.leven@med.gesch.uni-erlangen.de