Anfang des 20. Jahrhunderts fand der amerikanische Osteopath Frank Chapman auf empirischer
Grundlage oberflächlich gelegene Reflexzonen, mit denen er Erkrankungen der inneren
Organe beeinflussen konnte. 1937 veröffentlichte Charles Owens diese Punkte in „An
Endocrine Interpretation of Chapman's Reflexes”. 1963 wurde das Buch von der American
Academy of Osteopathy wieder aufgelegt [2]. Chapmans neurolymphatische Reflexpunkte werden in den USA und in Europa in der
Osteopathie, der Ortho–Bionomy, der angewandten Kinesiologie und der Chiropraxis zu
einem gewissen Umfang gelehrt und genutzt.
Ein Hindernis für eine weitere Verbreitung und Wertschätzung lag zum einen in den
von Mitchell in seinem Vorwort zur 2. Auflage von 1963 erwähnten sprachlichen Schwächen
Owens. Die im Buchtitel sogenannte endokrine Interpretation der Wirkung der neurolymphatischen
Punkte, nach heutigem Kenntnisstand physiologisch nicht haltbar, stellt ein zweites
Hindernis dar. Das ist bedauerlich, da die Punkte sich in der Praxis beeindruckend
effektiv in Diagnostik und Therapie bewährt haben.
Klinisch imponieren die Chapman–Punkte als kleine (hirse– bis linsengroße), subkutane,
nicht verschiebliche Knötchen auf der Oberflächenfaszie, am Periost und auf Sehnen.
Als positiv gelten schmerzhafte Punkte. Bei sehr chronischen Belastungen gibt es auch
sensorisch abgeschaltete Punkte, die deutlich zu palpieren sind und erst ab der zweiten
oder dritten Behandlung sensibel werden. Der mit positiven Punkten verbundene Palpationsschmerz
wird meist als stechend bezeichnet und klingt oft längere Zeit nach der Palpation
nach. Alle Funktionen sind mindestens in einem primären, vorrangig ventralen und einem
sekundären, meist dorsalen Punkt repräsentiert.
Die Behandlung erfolgt über eine sanfte, langsame Mobilisation der Punkte in die freie
Richtung, häufiger noch durch das Annähern der umgebenden Weichteilstrukturen unter
gehaltener Palpation. Dem Punkt wird ein „Nest gebaut”, der Druckschmerz lässt nach.
In dieser Entlastung kann man den Punkt ähnlich wie bei einer Lymphdrainage leicht
und langsam massieren.
Im Zusammenhang mit dem Focus Haut ist vor allem an die Behandlung der 23 Punkte des
sog. Becken–Schilddrüsen–Syndroms (BSS) zu denken (siehe Literatur). Über die Aktivierung
der Ausscheidungsfunktionen und des Immunsystems wird jede Lokalbehandlung der Haut
unterstützt.
Punkte Auge und Ohr
Eine Darstellung des BSS würde den Umfang jeden Artikels sprengen. Deswegen möchte
ich die Gelegenheit nutzen, anhand zweier Punkte darzustellen, mit welchen Wirkmechanismen
über die segmentalreflektorischen Bezüge hinaus wir zusätzlich über die Körperoberfläche
(Haut, Unterhaut und Oberflächenfaszie) viszerale Strukturen beeinflussen.
Es handelt sich dabei um die Punkte Ohr und Auge. Die folgenden anatomisch–physiologischen
Überlegungen stellen, wie der Entwurf von Owens, Denkmodelle dar.
Die Punktangaben habe ich dem Buch von Owens und dem Buch „Applied Kinesiology” von
Walther [4] entnommen. Leider ist bei Walthers Kapitel über die „kloakale Synchronisation” nicht
zu entnehmen, woher seine Beschreibung der Labyrinth– und Augenstell–Reflexpunkte
stammt.
Die bei Walther ausführlich beschriebenen muskulären Bezüge der Punkte sollen nur
gestreift werden. Insgesamt ist die muskuläre Interpretation der neurolymphatischen
Zonen nach Goodheart eher über Muskel–Faszien–Ketten zu verstehen und die viszerale
Wirkung der Punkte nach Chapman über segmentalreflektorische Bezüge.
Abb. 1 Chapman–Punkte am Oberkörper [6].
Auge
Primäre Zone nach Chapman
Lage: Ventral gelegen, knapp distal des Oberarmkopfes. Diese Angabe ist recht vage.
Nach unseren Erfahrungen kann das Gebiet medial und lateral direkt neben der distalen
Hälfte des Ansatzes des M. pectoralis major am Oberarm der Zone zugeordnet werden.
Muskulär besteht ein Bezug zum kranialen Anteil des M. trapezius.
Symptome und Inter–pretation möglicher Funktionszusammenhänge
Eine aktive ventrale Zone kann prinzipiell bei allen akuten Augenbeschwerden genutzt
werden. Bei Chapman/Owens heißt die Zone noch Retinitis– oder Konjunktivitis–Zone.
Sie sei angezeigt bei allen akuten Augenerkrankungen. Nach unseren Erfahrungen ist
sie aufs Auge bezogen aktiv bei Visusbelastungen, bei der Conjunctivitis sicca, der
diabetischen Retinopathie, der „Augenmigräne” und beim Halbseitenkopfschmerz mit Ausstrahlung
ins Auge.
Schon Owens verweist in seinem Buch bei diesem Punkt ausführlich auf die Bedeutung
des Verdauungstraktes, der allgemeinen Stoffwechselbelastung (Becken–Schilddrüsen–Syndrom),
der Funktion des Beckenrings und der Organe des kleinen Beckens für das Auge.
Konjunktivitis
Interessant ist die Angabe bei Walther, nach dem der ventrale Augenpunkt gleichzeitig
den sekundären Punkt für die Iliozäkalklappe darstellt. Die Iliozäkalklappe ist maßgeblich
an der übergeordneten Steuerung der Sphinktere des Verdauungstraktes beteiligt.
So ergibt sich zumindest empirisch funktionell eine Verbindung vom Verdauungstrakt
zum Auge. In der Praxis erlebt man oft einen Zusammenhang oder eine gleichförmige
Reaktion von Darmepithel und seröser Konjunktiva. Exzessiver Alkoholgenuss führt zu
Gefäßinjektionen, den bekannten roten Augen. Allergische Belastungen des Verdauungs–
und Respirationstraktes zeigen sich auch an der Bindehaut.
Halbseitenkopfschmerz und Visusbelastungen
Der M. trapezius ist ein Antagonist des M. pectoralis major. Insertionsirritation
durch einen andauernden Hartspann des M. pectoralis major führt zur Gegenspannung
des M. trapezius und über die Kompression des Austritts des N. occipitalis major zum
Halbseitenkopfschmerz. Einen Zusatzfaktor könnte die reflektorische Tonuserhöhung
des M. epicraneus darstellen.
Wenn man den Zusammenhang von Augenzone und Ansatz des M. pectoralis major berücksichtigt,
fällt auf, dass in den Interkostalräumen kranial und kaudal des kostalen Ansatzes
des Muskels die Leber– und Gallenzonen nach Chapman liegen. Diese Zonen lassen sich
segmentalreflektorisch und funktionell durch die Lage von Zwerchfell und Leber erklären.
Damit wird ein klinischer Zusammenhang zwischen dem Augenpunkt und Halbseitenkopfschmerzen/Halbseitenmigräne
über die bekannte „Gallenmigräne” hergestellt. Ein funktioneller Bezug zu den Verdauungsfunktionen
wäre auch wieder hergestellt.
Umgekehrt führen die Spannungen im Viszerokranium durch die Tonusanpassung der Augenmuskulatur
bei Visusänderungen zu einer Einflussnahme auf die Nackenmuskulatur.
Abb. 2 Dorsale Augenpunkte und Labyrinthreflexpunkt (beide sind paarig angelegt). 1Linea
nuchae superior, 2Linea nuchae inferior, 3Linea nuchae suprema mit dem Tentoriumansatz
innen, 4Ansatz der oberflächlichen Nackenmuskeln (z.B. M. semispinalis), 5Ansatz der
tieferen Nackenmuskulatur (z.B. Mm. recti capitis major et minor), 61. dorsaler Augenpunkt,
72. dorsaler Augenpunkt, 8Labyrinthreflexzone.
Augenhintergrund
An einer kleinen Gruppe von 24 Patienten mit diabetischer Retinopathie und zwei Patientinnen
mit einer Chorioretinitis, die nicht auf die Standardkortikoidtherapie ansprachen,
konnte ich die Effektivität der Augenpunkte und der Begleitbehandlung der orbitalen
Suturen (Sutura frontozygomatica und Sutura frontomaxillare) erleben.
17 der 24 Patienten erlangten durch die Behandlung eine für den Alltag bedeutsame
Besserung der Sehleistung, obwohl sich bei der augenärztlichen Untersuchung keine
relevante Befundänderung zeigte. Offensichtlich wurde das funktionstüchtige Restgewebe
besser genutzt. So konnten einige unter anderem das Umschalten der Fußgängerampel
wieder sehen oder wieder mit der Lupe lesen etc. Die Chorioretinitis klang glücklicherweise
in beiden Fällen rasch ab.
Abb. 3 Die Verbindung der Augenpunkte und die Kraftlinien am Schädel. Die Linien 1–6 betreffen
den Verlauf der Hauptkraftlinien der Schädelkalotte. 7Augenkoordinations–Zone, 8dorsale
Augenpunkte, 9Verlauf des M. occipitofrontalis und seiner Sehnenplatte.
Sekundäre Augenzone
Lage: Dorsal, einmal etwa an der Austrittsstelle des N. occipitalis major und zweitens
in derselben Linie weiter scheitelwärts auf der Linea nuchae suprema beginnend. Die
Zuordnung der sekundären dorsalen Zone zum M. supraspinatus und dem kaudalen Anteil
des M. trapezius nach Goodheart sei erwähnt.
Augenkoordinations–Zone [4]
Die Zone liegt auf dem Os frontale am inneren oberen Winkel des Orbitabogens medial
des Austrittspunktes des N. supraorbitalis.
Symptome der dorsalen Punkte und des Augenkoordinations–Punktes und ihre Interpretation
Symptome nach Owens
-
Posterior: Retinitis mit Ermüdung der Irismuskulatur, Weitstellung der Pupillen, Seh–Störungen,
das Bedürfnis die Augen zu reiben, um die Sicht zu verbessern.
-
Posterior: Öfters mit Schmerzen am Lidrand und im Bulbus verbunden, Bindehautentzündung
mit Juckreiz, Brennen.
Symptome des Augen–koordinations–Punktes [4]
Erschwerte Koordination der Augenmuskulatur, Ermüdungsschielen, Doppelbilder, Gleichgewichtsstörungen.
Interpretation
Alle drei Zonen könnten funktionell eng zusammenhängen. Daraus ergäbe sich, dass die
unterschiedlich genannten Symptome ebenso allen drei Zonen mehr oder weniger gleichwertig
zugeordnet werden könnten. Hierzu wage ich noch keine abschließende Aussage.
Die dorsale und die ventrale Zone sind direkt über die beiden Ansätze und die sie
verbindende Sehnenplatte des M. occipitofrontalis (M. epicraneus) miteinander verbunden.
Eine erhöhte Spannung in der nuchal ansetzenden Muskulatur am ersten dorsalen Punkt
löst durch den Zug auf die Faszien und das Periost eine Gegenspannung am Ansatz der
Pars occipitalis (2. dorsaler Augenpunkt) des M. occipitofrontalis aus. Die Spannung
pflanzt sich nach vorne in den mimischen Anteil des Muskels fort (ventrale Zone).
Dort kann sie auf die supraorbital austretenden Fasern des N. trigeminus wirken, Triggersyndrome
verursachen und die lokale Trophik stören.
Vorstellbar ist zusätzlich eine Kraftübertragung über die Ansätze der Nackenmuskulatur
auf das Tentorium, das innen auf Höhe der Linea nuchae suprema an der Schädelkalotte
ansetzt und mit seinem oberen Blatt in die Durabedeckung der Orbita übergeht.
Ohr Primäre Zone
Lage: Nach Owens auf dem Oberrand des Schlüsselbeines, dort wo die 1. Rippe unterkreuzt.
Nach unseren Erfahrungen liegt der oft nur hirsekorngroße aktive Punkt leicht dorsal
der Oberkante der Klavikula. Da die erste Rippe in ihrem Verlauf immer wieder einmal
schwer zu tasten ist, kann der laterale Ansatz des M. sternocleidomastoideus als Orientierungshilfe
genommen werden. An seinem lateralen Rand liegt die ventrale Zone.
Sekundäre Zone
Lage: Dorsal über der Mitte des Atlasquerfortsatzes.
Labyrinthreflexzone [4]
Lage: Auf der Sutura occipitomastoidea.
Symptome
Nach Owens spricht ein aktiver ventraler Punkt für eine Mittelohrbeteiligung. Die
dorsale Zone sei vor allem mit einer Otitis media oder einer Mastoiditis assoziiert.
Da die von Owens genannten Krankheitsbilder einer sofortigen effektiven medikamentösen
Therapie bedürfen, spielen andere Symptome für den manuell tätigen Therapeuten eine
größere Rolle. Nach unseren Erfahrungen ist der ventrale Punkt eher bei diffusen Otalgien,
Schmerzen/Entzündung des Gehörganges, Lärmschäden und beim Störfeld Ohr aktiv. Tinnitus,
Hörminderung, otogener Schwindel und ein Störfeld Ohrregion finden ihren reflektorischen
Niederschlag in der dorsalen Zone und im Gebiet des Labyrinthreflexes.
Interpretation
Owens Hinweis auf den Bezug des dorsalen Punktes zur Otitis media und zur Mastoiditis
ist einleuchtend. Zu seiner Zeit, vor der Ära der Antibiotika, trat die bedrohliche
Mastoiditis im Gefolge der Otitis media häufig auf. Bei der Palpation der dorsalen
Zone nahe dem Mastoid selbst und zugleich über den nuchalen Lymphbahnen löst der lokale
Druck bei Vorliegen der genannten Krankheiten natürlich Schmerzen aus.
Die ventrale Aktivierung der Zone erfolgt wahrscheinlich über den M. sternocleidomastoideus,
in dessen Insertionsgebiet an der Klavikula der ventrale Ohrpunkt liegt.
Gleichzeitig findet sich hier eine der Haftstellen der Fascia colli superficialis.
Diese nimmt Einfluss auf den Lymphtransport in der Sub– und Retromandibularregion.
Lymphstauungen fördern den „Tubenkatarrh” und damit die Ausbildung einer Otitis media.
Insertionstendopathien am Mastoid und ein Hartspann des M. sternocleidomastoideus
können über den N. auricularis major und das Punctum nervosum zu diffusen Otalgien
führen.
Ein spezifischer, genau lokalisierter basaler Gehörgangsschmerz mit hoher lokaler
Berührungsempfindlichkeit scheint über die Kette M. sternocleidomastoideus – M. digastricus
venter posterior – M. stylohyoideus vermittelt zu werden. Dafür spricht zumindest
die Befundbesserung nach Behandlung des M. stylohyoideus. Der chronische Zug am Styloid
bahnt möglicherweise auch die Ausprägung einer chronischen Gehörgangsentzündung.
Lärmbelastungen, unter denen vor allem das Trommelfell und der M. stapedius zu leiden
haben, führen ebenfalls reflektorisch zur Aktivierung der ventralen Zone.
Ein chronischer Hartspann der tiefen nuchalen Muskulatur führt zu einer Druckdolenz
des dorsalen Reflexpunktes und vor allem zu einer chronischen Inspirationsbelastung
des Okziput. Diese überträgt sich als vermehrte Zugspannung auf das Tentorium und
über dieses auf die Kante des Felsenbeins. Damit ist eine Torsionsbelastung des Felsenbeins
verbunden, die sich auf die Funktion der Innenohrorgane auswirken kann.
Die Labyrinthreflexzone ist bei positivem Befund zunächst einmal Zeichen einer Belastung
der Sutura occipitomastoidea und in zweiter Linie reflektorisch zu deuten. Anatomische
Bezüge sowohl zu Felsenbein, Tentorium wie auch zum M. sternocleidomastoideus mit
ihrer bereits besprochenen Bedeutung sind für diese Zone klar gegeben.
Alle Reflexzonen des Körpers sind Ausdruck eines zirkulär ablaufenden Regelgeschehens.
Deswegen können aktive neurolymphatische Zonen im direkten ursächlichen anatomischen
Zusammenhang mit den von den Patienten beklagten viszeralen oder muskulären Beschwerden
stehen oder sekundärer Ausdruck dieser Beschwerden oder Belastungen sein.
Ausbildung
Die Kenntnis der Zonen und ihrer Zusammenhänge stellt eine große Bereicherung dar
für unser diagnostisches und therapeutisches Repertoire in der täglichen Praxis. Die
Arbeit mit den neurolymphatischen Punkten nach Chapman und Goodheart wird in recht
unterschiedlichem Umfang und mit unterschiedlichen Schwerpunkten an einigen Ausbildungsstätten
für Osteopathie und Angewandte Kinesiologie sowie am Deutschen Institut für Ortho–Bionomy
unterrichtet.
An unserem Institut ist die Vermittlung der neurolymphatischen Punkte mit ihren vielfältigen
Beziehungen und Wechselwirkungen Bestandteil der neurophysiologischen Fortbildungskurse
zu den Themen Beine und Becken, Wirbelsäule, Schulter, Nervensystem, Innere Organe
und Bewegungsapparat. Dabei werden die Reflexpunkte u.a. kombiniert mit der Arbeit
mit Bewegungsmustern, Muskelenergietechniken, Selbstbehandlungstechniken und der Arbeit
an Haltung und Gang. Voraussetzung für diese Fortbildungen ist für alle Interessenten
die Teilnahme an einem Kurs strukturelle Techniken der Ortho–Bionomy, um eine gemeinsame
Grundlage in der Nomenklatur, Kontaktqualität, den Behandlungsprinzipien usw. zu schaffen.