Praxis Handreha 2025; 06(02): 71-72
DOI: 10.1055/a-2411-6393
Kommentar

Europäisches Recht für Medizinprodukte erschwert notwendige Behandlung

Ben Schacher

Der interdisziplinäre Artikel zur zweizeitigen Sehnenrekonstruktion von Julia Zickel und Patrick Harenberg (S. 62) verdeutlicht, warum es sich bei diesem Operationsverfahren um eine anspruchsvolle Methode für Behandler*innen und Patient*innen handelt. Die beschriebenen Techniken, die bei den jeweiligen OP-Schritten und während der therapeutischen Nachbehandlung verwendet werden, sind das Ergebnis jahrzehntelanger Entwicklung und Beobachtung von Operateur*innen und Therapeut*innen, die eine besonders enge Abstimmung erfordern. Selbst bei der heutigen Routine solcher Operationen sind diese nur dann erfolgversprechend, wenn beide Teams miteinander und mit den Patient*innen ausreichend und klar kommunizieren. Dazu ist ein tiefes Verständnis der OP-Schritte und Behandlungsphasen sowie der individuellen Ausgangssituation der Patient*innen die Voraussetzung. Wenn drohende Schwierigkeiten, wie von Zickel und Harenberg beschrieben, nicht rechtzeitig erkannt und multiprofessionell kommuniziert werden, kann die Behandlung einer Wiederherstellung der aktiven Flexion für den betroffenen Finger schnell scheitern.

Neben diesen Herausforderungen weisen Zickel und Harenberg auf ein weiteres Problem hin, das nicht nur die zweizeitige Sehnenkonstruktion betrifft: Die europäischen Regularien für Medizinprodukte. Aufgrund des Skandals um die Verwendung von Bau-Silikon in Brustimplantaten in den 2010er-Jahren hatte die Europäische Union (EU) neue Regularien für Medizinprodukte erlassen, die auch für Produkte gelten, die bereits auf dem europäischen Markt in Anwendung waren. Aufgrund der Novellierung des europäischen Rechts für Medizinprodukte von 2017 (Medical Device Regulation, MDR) kann derzeit in Deutschland kein einziges Silikon-Spacer-Produkt für die Beugesehnenrekonstruktion erworben und daher nicht verwendet werden. Die Hersteller haben für Nischenprodukte dieser Größenordnung nach aktuellem Kenntnisstand auch keine Neuzulassung geplant, da das Verfahren zu langwierig und teuer ist. Die durch die neue Regelung bedrohten Implantate und Medizinprodukte betreffen nicht nur die chirurgischen Fächer mit den benötigten Platten, Schrauben und Implantaten [1]. Besonders stark betroffen sind vor allem Produkte für die Versorgung von Säuglingen und Kindern. Deren besondere Anatomie und spezielle (teils seltene) Krankheitsbilder erfordern kleinere oder andere Produkt-Designs. Dabei sind die Stückzahlen jedoch gering. So droht eine akute Minderversorgung, warnt die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendlichenmedizin [2].

Neben den in der Handchirurgie relevanten Implantaten drohen in vielen Bereichen ganze Produktgruppen vom Markt zu verschwinden. Die Neu-Zertifizierung eines medizinischen Produkts dauert durchschnittlich 18 Monate und kostet zwischen 300 000 und 500 000 Euro [3]. Kleine und mittelständische Unternehmen können sich diese Kosten nicht leisten, weshalb bis zu 30 Prozent der Medizinprodukte nicht zertifiziert und damit nicht mehr erhältlich sind [3]. Appelle der betroffenen Berufsgruppen an die verantwortlichen Politiker*innen, z. B. aus Deutschland die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V. als gemeinsames Gremium der medizinischen Fachgesellschaften, haben bisher zu keiner substanziellen Änderung der Regelung geführt [4]. Im Sommer 2024 wurde durch das offizielle EU-Expertengremium „Medical Device Coordination Group“ (MDCG) eine neue Leitlinie mit Verbesserungen und Klarstellungen der bisherigen Rechtslage veröffentlicht. Ziel war es, die Zulassung der „Orphan Medical Devices“ zu vereinfachen [5]. Laut des Bundesverbandes Medizintechnologie sind jedoch weitere gesetzliche Schritte notwendig, um die medizinische Versorgung für kleinere Gruppen von Patient*innen nicht zu gefährden und langfristig Innovationen sicherzustellen [6].

Die langjährig erprobten Sehnen-Silikonspacer-Implantate, die in Form und Größe auf den speziellen Einsatz einer zweizeitigen Sehnenrekonstruktion abgestimmt sind, sind daher nicht mehr erhältlich. Manche Kliniken haben sich vor Auslaufen der Übergangsfrist im Frühjahr 2024 noch entsprechende Vorräte angelegt. Zickel und Harenberg beschreiben in ihrem Artikel die Verwendung von Ausweichprodukten (Silikondrainagen), die als Off-Label-Use nach besonderer Aufklärung der Patient*innen eingesetzt werden dürfen. Es bleibt jedoch spannend, ob es im Nischenmarkt „Beugesehnen-Patient*innen“ zukünftig noch zu Verbesserungen kommt. Wirtschaftliche Anreize zur Produktion und Zulassung dieser aus handchirurgischer Sicht notwendigen Produktgruppe sind bei der aktuellen Stimmungslage der Gesundheitsversorgung und -finanzierung leider nicht in Sicht.



Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
14. April 2025

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