Schlüsselwörter
Sterbehilfe - assistierter Suizid - Tötung ohne explizite Willensäußerung
Key words
euthanasia - assisted suicide - killing without explicit request
Hintergrund
Die öffentliche Debatte um verschiedene Formen der sogenannten Sterbehilfe[1] in Deutschland wird seit Jahren intensiv geführt. Gerichtsprozesse zum Thema befeuern
regelmäßig gesellschaftliche Kontroversen, zuletzt anlässlich der Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts vom Februar 2020. Demnach umfasst das allgemeine Persönlichkeitsrecht
ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben und die Freiheit, hierfür bei Dritten Hilfe
zu suchen und in Anspruch zu nehmen [1]. Auch die davon abzugrenzende aktive Sterbehilfe, welche die intentionale Tötung
eines z. B. schwerkranken Patienten auf dessen expliziter freien Willensbekundung
bezeichnet (siehe Kasten 1), hat Befürworter. Diese verweisen auf die in den Beneluxstaaten
gesetzlichen Verfahren zur straffreien Ausübung von aktiver Sterbehilfe [2]. Die Mehrheit der Ärzteschaft in Deutschland steht dem jedoch ablehnend gegenüber
und verweist auf die bestehenden Möglichkeiten der Palliativmedizin, welche Todeswünsche
bei Patientinnen und Patienten reduzieren können [3] und unbeabsichtigt als passive und indirekte Sterbehilfe zum Tod führen können.
In welchem Umfang und durch wen verschiedene Formen von Sterbehilfe in Deutschland
tatsächlich durchgeführt werden, ist bisher nur unzureichend erforscht. Die wenigen
Studien zur Sterbehilfe in Deutschland liefern heterogene Befunde: Ergab die Befragung
niedergelassener Hausärztinnen und -ärzte, jemals „aktive Sterbehilfe“ durchgeführt
zu haben, eine Zustimmung von 13 % [4], waren es bei einer anderen Frageformulierung und -methode innerhalb von 12 Monaten
nur 0,27 % der palliativmedizinisch tätigen Ärztinnen und Ärzte [5]. Die Unterschiede in Itemformulierung, Erfassungszeitraum, Stichprobe und Fragebogenkonstruktion
erschweren Vergleichbarkeit und Verlässlichkeit dieser Befunde. Dabei wird insbesondere
bei Studienergebnissen zur Sterbehilfe auf die starke Abhängigkeit der angewandten
Methodik hingewiesen [6]. Zum einen kann die Verwendung bekannter, jedoch uneindeutiger Begriffe wie „Sterbehilfe“
[4] oder eine unspezifische Wortwahl [7] eine falsche Zuordnung zu den verschiedenen Formen von Sterbehilfe bewirken, die
sogar unter Fachkräften überraschend hoch ist [8]. Zum anderen kann bereits die Reihenfolge der gestellten Fragen [9] und inhaltliche Überschneidung der erfragten Kategorien zu Verzerrungen führen [5]
[10].
Noch weniger ist über Einflussfaktoren bekannt, die die Durchführung aktiver Sterbehilfe
in Deutschland begünstigen oder verringern. Die bisherigen, teils inkonsistenten Befunde
aus anderen Ländern legen nahe, dass Behandelnde wahrscheinlich verstärkt aktive Sterbehilfe
durchführen, wenn sie männlich und höheren Alters sind, eine palliativmedizinische
Ausbildung sowie Erfahrung mit todkranken Patienten haben [11]
[12] und nicht religiös-fundierte Standpunkte vertreten bzw. die aktive Sterbehilfe direkt
befürworten [11]
[13]. Andere Studien deuten hingegen darauf hin, dass eine palliativmedizinische Weiterbildung
Behandelnden alternative Handlungsoptionen vermittelt, um auf die Durchführung von
aktiver Sterbehilfe zu verzichten [14]. Keine empirischen Erkenntnisse liegen bislang zu der von Patientinnen und Patienten
geäußerten Befürchtung vor, die mit Unterbesetzung und Arbeitsbelastung einhergehende
erhöhte Patientenmortalität [15] könne sich angesichts von Pflegenotstand und Ärztemangel in deutschen Krankenhäusern
auch auf die Praxis von aktiver Sterbehilfe auswirken. Zudem wurden in keiner der
bisherigen Studien in Deutschland relevante Einflussfaktoren gezielt mit dem dafür
nötigen Stichprobenumfang untersucht.
Definitionen der sog. Sterbehilfe
„Passive Sterbehilfe“ bezeichnet das Zurückhalten/den Entzug einer lebenserhaltenden oder -verlängernden Behandlung
(z. B. künstliche Beatmung, Ernährung oder (weitere) Gabe eines Medikaments) nach entsprechender Einwilligung des/der Patienten/-in, dessen/deren erfolgter Tod
nicht gewollt, sondern eine unbeabsichtigte oder in Kauf genommene Folge darstellt.
„Indirekte Sterbehilfe“ bezeichnet die Gabe eines Medikaments (z. B. Opioide, Benzodiazepine, Barbiturate) zur Schmerzlinderung nach entsprechender Einwilligung des/der Patienten/-in, dessen/deren
erfolgter Tod nicht gewollt, sondern eine unbeabsichtigte oder in Kauf genommene Folge
darstellt.
„Assistierter Suizid“, häufig wird „ärztlich“ vorangestellt, bezeichnet die Aushändigung eines Medikaments an eine/n Patienten/-in zur selbstständigen Beendigung
seines/ihres Lebens.
„Aktive Sterbehilfe“ bezeichnet aktive Handlungen (Behandlungen, Interventionen etc.), die eine aktive Beendigung des Lebens eines/-r Patienten/-in beabsichtigen bzw. zum Ziel haben.
Zudem wird hier unterschieden zwischen:
-
„Tötung auf Verlangen“ (wurde in der Befragung nicht begrifflich eingeführt, jedoch
anhand der Angaben zum letzten Fall von aktiver Sterbehilfe erhoben) nach diesbezüglicher
expliziter Willensäußerung des/der Patienten/-in wird häufig juristisch synonym verwendet.
-
„Tötung ohne explizite Willensäußerung“ wird üblicherweise nicht der aktiven Sterbehilfe
zugeordnet, ist in einigen Fällen jedoch schwer abgrenzbar.
Zur Vermeidung von falschen Zuordnungen wurden bei jeder Nennung der jeweiligen deskriptiven
Begriffe (kursiv) während der Umfrage die oben genannten Definitionen (grammatikalisch angepasst)
eingeblendet.
Ziel der vorliegenden Studie war es, in deutschen Krankenhäusern tätige Ärztinnen
und Ärzte gemeinsam mit Pflegerinnen und Pflegern zu allen von ihnen praktizierten
Formen von Sterbehilfe und möglichen Einflussfaktoren auf aktive Sterbehilfe zu befragen.
Um verlässliche Daten zu erhalten, wurde die Erhebung unter für Befragte transparenter
Anonymisierung und neutraler Fragebogenformulierung durchgeführt.
Methode
Fragebogen und Variablen
Der Fragebogen (s. Online-Anhang) bestand aus mehreren neu konstruierten Skalen, welche
auf Basis einer kritischen Literaturschau und von Erhebungsinstrumenten aus vorangegangenen
Studien zur Sterbehilfe [16] an die Arbeitssituation in Krankenhäusern angepasst wurden. Nach einem Pretest wurde
der Fragebogen geringfügig modifiziert. Der einleitende Text zum Inhalt der Befragung
betonte die Anonymität und Freiwilligkeit aller Angaben sowie den jederzeit möglichen
Abbruch. Die Fragen bezogen sich mehrheitlich auf die vergangenen 24 Monate.
Formen von Sterbehilfe
Die verschiedenen Formen von Sterbehilfe wurden separat definiert, mit Beispielen
versehen und in der Befragung beschrieben. Zur Vermeidung von falschen Zuordnungen
wurde bei jeder betreffenden Frage die zugehörige Definition der jeweiligen Form von
Sterbehilfe eingeblendet (in Kasten 1 kursiv). Zu Beginn wurden die für Sterbehilfe relevanten (Arbeits-) Bedingungen erfragt,
u. a. die Frequenz des Kontakts zu sterbenden Patientinnen und Patienten und ihres
geäußerten Wunsches nach aktiver Sterbehilfe. Die Fragen zur eigenen Praxis von Sterbehilfe
wurden nach absteigendem Risiko potenzieller Antwortverzerrung angeordnet: Als erstes
wurde die bei anderen, z. B. Kolleginnen und Kollegen beobachtete und die selbst durchgeführte
aktive Sterbehilfe erfragt, für die vergangenen 24 Monate und die gesamte bisherige
Tätigkeit: „Wie häufig haben Sie selbst das Leben von Patienten/-innen aktiv beendet?“
[2] Die Befragten, die aktive Lebensbeendigung jemals praktiziert hatten, wurden jeweils
gebeten, die Anzahl der Fälle zu benennen und anzugeben, durch welche Maßnahmen die
aktive Lebensbeendigung im letzten Fall erreicht wurde.
Anschließend wurde nach der eigenen Durchführung und entsprechender Fallzahl von anderen
Formen von Sterbehilfe (passiv, indirekt, assistierter Suizid, andere Methoden) gefragt.
Abschließend wurde auf einer 5-stufigen Skala von 1 („stimme überhaupt nicht zu“)
bis 5 („stimme voll und ganz zu“) erfragt, inwieweit eine Straffreiheit für Ärztinnen
und Ärzte bzw. Pflegerinnen und Pfleger bei Durchführung aktiver Sterbehilfe (mit
oder ohne explizite Willensäußerung) befürwortet wird (gute interne Konsistenz der
Skala, α = 80).
Subjektive Belastungsfaktoren
Subjektive Belastungsfaktoren wurden durch Fragen zur Arbeitsbelastung (z. B. „Bei
der Menge an Aufgaben bleibt für die Patientenversorgung meist zu wenig Zeit übrig.“),
Unterstützung im Team (z. B. „Von meinem Team bekomme ich Unterstützung und Hilfe,
wenn ich sie brauche.“) und zur beruflichen Zufriedenheit insgesamt (u. a. mit Anforderungen,
Betriebsklima, Bezahlung) erhoben. Jede der 3 Subskalen bestand aus 7–8 Items mit
einer 5-stufigen Skala von 1 („trifft überhaupt nicht zu“) bis 5 („trifft voll und
ganz zu“ bzw. von „unzufrieden“ bis „zufrieden“). Alle Skalen wiesen zufriedenstellende
Gütekriterien auf, darunter interne Konsistenzen von α = 0,80–0,87.
Soziodemografische Angaben und Arbeitssituation
Soziodemografische und arbeitsbezogene Angaben konnten zu Beginn der Befragung freiwillig
und unter Wahrung der Anonymität angegeben werden. Zu den Angaben zählten u. a. Berufsgruppe,
Geschlecht, Alter, Berufserfahrung, Familienstand und Fachgebiet sowie das Tätigkeitsfeld
Krankenhaus, um die Stichprobe darauf beschränken zu können. Zum Abschluss der Befragung
waren Kommentare und die Bitte um Löschung der Daten möglich.
Erhebung und Stichproben
Ausschließlich in deutschen Kliniken beschäftigte Ärzte und Ärztinnen sowie Pfleger
und Pflegerinnen nahmen im Zeitraum von September bis Dezember 2018 an einer identischen
anonymen Online-Befragung teil. Ärztinnen und Ärzte wurden bundesweit über die Kooperation
mit einem Adressenverlag per E-Mail angeschrieben und 2-mal erinnert. Pflegerinnen
und Pfleger wurden über eine berufsspezifische Anzeige in einem sozialen Netzwerk,
über einen Hinweis im Newsletter des Deutschen Berufsverbandes für Pflegeberufe und
im Pflegeportal Bibliomed um eine Teilnahme an der Befragung gebeten. 5386 Personen
beendeten den Fragebogen. Befragte wurden ausgeschlossen, wenn sie einer anderen als
der ärztlichen oder pflegerischen Berufsgruppe angehörten (n = 46) oder einen anderen
Arbeitsplatz als das Krankenhaus (n = 144) angaben sowie bei Verständnisproblemen,
Bitte um Löschung (n = 2) und im Zuge der Datenbereinigung (n = 4), sodass final die
ärztliche Stichprobe n = 2507 und die pflegerische Stichprobe n = 2683 umfasste.
Die Verteilung beider Stichproben auf die unterschiedlichen medizinischen Fachgebiete
sind in [Tab. 1] dargestellt, soziodemografische Angaben in [Tab. 2]. Das höhere ärztliche Durchschnittsalter und entsprechende Berufserfahrung verdeutlichen
vorhandene soziodemografische Unterschiede zwischen den Stichproben. Die Verteilung
beider Stichproben auf die jeweiligen Fachgebiete war dagegen ähnlicher ([Tab. 1]).
Tab. 1
Fachgebiet bzw. Arbeitsschwerpunkt der letzten 24 Monate in beiden Stichproben.
Fachgebiet
|
Ärztinnen und Ärzte
|
Pflegerinnen und Pfleger
|
|
n (%)
|
n (%)
|
Innere Medizin
|
408 (16,29)
|
803 (29,97)
|
Chirurgie
|
655 (26,16)
|
619 (23,11)
|
Allgemeinmedizin
|
5 (0,20)
|
82 (3,06)
|
Anästhesie/Intensiv/Notfall
|
329 (13,14)
|
323 (12,06)
|
Neurologie/Psychiatrie
|
372 (14,86)
|
329 (14,63)
|
Gynäkologie
|
176 (7,03)
|
58 (2,16)
|
Urologie
|
70 (2,80)
|
45 (1,68)
|
HNO
|
39 (1,56)
|
19 (0,71)
|
Dermatologie
|
39 (1,56)
|
11 (0,41)
|
Radiologie/Nuklearmedizin
|
99 (3,95)
|
9 (0,34)
|
Palliativmedizin
|
48 (1,92)
|
57 (2,13)
|
Pädiatrie (inkl. Onkologie)
|
207 (8,27)
|
149 (5,56)
|
Interdisz./Ausbildung/wechselnd
|
0 (0,00)
|
89 (3,32)
|
Sonstige
|
57 (2,28)
|
23 (0,86)
|
Gesamt, n
|
2507 (100,00)
|
2683 (100,00)
|
Stichprobenumfang übersteigt die Summe der Häufigkeiten der Fachgebiete aufgrund von
fehlenden Angaben. Bei Prozentwerten sind fehlende Werte unberücksichtigt.
Tab. 2
Angaben zur Soziodemografie und Arbeitssituation in beiden Stichproben.
|
Ärztinnen und Ärzte
|
Pflegerinnen und Pfleger
|
soziodemografische Angaben
|
|
|
Geschlecht, weiblich (%)
|
687 (27,56)
|
2319 (86,59)
|
Familienstand (%)
|
|
|
ledig
|
199 (7,99)
|
1324 (49,97)
|
verheiratet/Partnerschaft
|
2095 (84,14)
|
1227 (46,15)
|
getrennt/geschieden/verwitwet
|
196 (7,87)
|
108 (4,06)
|
Alter, Jahre, M (SD)
|
52,59 (8,39)
|
29,76 (11,22)
|
Berufserfahrung, Jahre, M (SD)
|
25,50 (8,77)
|
9,47 (10,18)
|
Belastungsfaktoren (24 Monate)
|
M (SD)
|
M (SD)
|
berufliche Zufriedenheit
|
3,73 (0,74)
|
2,96 (0,70)
|
Unterstützung durch Team
|
4,00 (0,64)
|
3,58 (0,64)
|
Arbeitsbelastung
|
3,06 (0,71)
|
3,60 (0,62)
|
M = Mittelwert; SD = Standardabweichung. Alle statistischen Vergleiche zwischen beiden Berufsgruppen
(χ2- und t-Tests) waren bei p < 0,001 signifikant. Subjektiven Angaben zur Arbeitsbelastung
wurden auf Skalen von 1 (unzufrieden/trifft überhaupt nicht zu) bis 5 (zufrieden/trifft
voll und ganz zu) beantwortet, der Skalenmittelwert lag jeweils bei 3.
Die Studie wurde von der Ethik-Kommission der Universität Witten/Herdecke genehmigt
(Referenznr.: 93/2018).
Ergebnisse
Statistische Analysen, Datenbereinigung und Ermittlung fehlender Werte (0,24 %) wurden
mit IBM SPSS Statistics 26 durchgeführt. Die Voraussetzungen der statistischen Verfahren
wurden jeweils überprüft und waren gegeben: Die Normalverteilung der verwendeten Variablen
war entweder gegeben oder verwendete Tests waren aufgrund des hohen Stichprobenumfangs
deren Verletzung gegenüber robust. Vor der durchgeführten Regressionsanalyse konnte
Multikollinearität ausgeschlossen werden und Linearität gezeigt werden.
Alle Angaben bezogen sich, wenn nicht anders beschrieben, auf die vergangenen 24 Monate.
Objektive und subjektive Arbeitssituation
Der regelmäßige Kontakt zu sterbenden Patientinnen und Patienten lag bei Pflegerinnen
und Pflegern ([P] mind. 1-mal wöchentlich = 39,82 %) deutlich höher als bei Ärztinnen
und Ärzten ([Ä] = 4,70 %). Pflegerinnen und Pfleger wurden auch häufiger, meist durch
die Patientinnen und Patienten selbst, um aktive Sterbehilfe gebeten (mind. 1-mal
in 24 Monaten [P] = 50,38 %; [Ä] = 29,21 %). Ärztinnen und Ärzte gaben im Berufsgruppenvergleich
eine geringere subjektive Belastung auf allen erfragten Dimensionen an (alle Unterschiede
signifikant, siehe [Tab. 2]).
Praxis von Sterbehilfe bei ungewolltem Tod
Über die Hälfte der Ärztinnen und Ärzte sowie mehr als ein Drittel der Pflegerinnen
und Pfleger berichteten für die vergangenen 24 Monate von Interventionen, die ungewollt
zum Tode des/der Patienten/-in führten oder diesen in Kauf nahmen ([Tab. 3]). Gemessen an allen Fällen von Sterbehilfe in den vergangenen 24 Monaten machten
passive und indirekte Sterbehilfe in beiden Berufsgruppen einen Anteil von mehr als
90 % aus ([Tab. 4]).
Tab. 3
Angaben aus beiden Stichproben, inwieweit verschiedene Formen von sog. Sterbehilfe
befürwortet, erlebt und selbst durchgeführt wurden.
|
Ärztinnen und Ärzte
|
Pflegerinnen und Pfleger
|
p
|
Befürwortung von aktiver Sterbehilfe…
|
M (SD)
|
M (SD)
|
|
…insgesamt
|
1,71 (0,66)
|
2,55 (0,95)
|
< 0,001[*]
|
…durch Pflegerinnen/Pfleger
|
1,22 (0,52)
|
2,05 (1,06)
|
< 0,001[*]
|
…durch Ärztinnen/Ärzte
|
2,21 (1,03)
|
3,05 (1,05)
|
< 0,001[*]
|
…auch ohne explizite Willenserklärung
|
1,45 (0,64)
|
2,07 (1,06)
|
< 0,001[*]
|
…in mind. einem Fall, 24 Monate, n (%)
|
607 (24,23)
|
1431 (53,52)
|
< 0,001[*]
|
Sterbehilfe (in den letzten 24 Monaten)
|
in mind. einem Fall
n (%)
|
in mind. einem Fall
n (%)
|
< 0,001[*]
|
passive Sterbehilfe
|
1083 (56,02)
|
870 (35,01)
|
< 0,001[*]
|
indirekte Sterbehilfe
|
671 (27,38)
|
753 (30,33)
|
0,02[*]
|
assistierter Suizid
|
7 (0,29)
|
24 (0,98)
|
0,002[*]
|
andere Methode (Tod unbeabsichtigt)
|
101 (4,15)
|
159 (6,49)
|
< 0,001[*]
|
aktive Sterbehilfe
|
|
|
|
…in den vergangenen 24 Monaten, andere
|
224 (8,93)
|
272 (10,14)
|
0,12
|
…in den vergangenen 24 Monaten, selbst
|
84 (3,35)
|
65 (2,42)
|
0,05[*]
|
… in gesamter Tätigkeit, selbst
|
278 (11,04)
|
117 (4,17)
|
< 0,001[*]
|
davon: Methode im letzten Fall; durch…
|
|
|
0,006[*]
|
…Zurückhalten/Entzug v. Behandlung
|
210 (77,49)
|
66 (62,85)
|
|
…Gabe v. Medikament
|
61 (22,51)
|
38 (36,19)
|
|
…andere Methode
|
0 (0,00)
|
1 (0,95)
|
|
M = Mittelwert; SD = Standardabweichung.
* gibt signifikante Unterschiede zwischen den Berufsgruppen an, der p-Wert (für χ2- und t-Tests) ist jeweils angegeben. Die Einstellung gegenüber einer Straffreiheit
von aktiver Sterbehilfe wurde auf einer Skala von 1 (stimme überhaupt nicht zu) bis
5 (stimme voll und ganz zu) beantwortet, der Skalenmittelwert lag bei 3. Abweichungen
von Summenwerten durch fehlende Angaben. Bei Prozentwerten sind fehlende Werte unberücksichtigt.
Tab. 4
Fälle selbst durchgeführter Sterbehilfe in den vergangenen 24 Monaten.
|
Ärztinnen und Ärzte
|
Pflegerinnen und Pfleger
|
|
n (%)
|
n (%)
|
gesamte Fälle (in den letzten 24 Monaten)
|
23 648 (100,00)
|
17 771 (100,00)
|
passive Sterbehilfe
|
14 799 (62,58)
|
8528 (47,99)
|
indirekte Sterbehilfe
|
7554 (31,94)
|
8045 (45,27)
|
andere Methode
|
778 (3,29)
|
902 (5,08)
|
assistierter Suizid
|
58 (0,25)
|
75 (0,42)
|
aktive Sterbehilfe
|
459 (1,94)
|
221 (1,24)
|
Fallzahlen basieren auf Angaben der Befragten zur eigenen Durchführung von Sterbehilfe
in den vergangenen 24 Monaten.
Assistierter Suizid wurde im Vergleich seltener, jedoch häufiger von Pflegerinnen
und Pflegern berichtet. 15 Befragte gaben mehr als einen Fall von assistiertem Suizid
in den vergangenen 24 Monaten an.
Befürwortung von aktiver Sterbehilfe
Befürwortung von aktiver Sterbehilfe
Über die Hälfte der Pflegerinnen und Pfleger waren in den vergangenen 24 Monaten in
mindestens einem konkreten Fall der Auffassung, aktive Sterbehilfe sei besser „z. B.
um ihn/sie von seinem/ihrem Leid zu erlösen“, demgegenüber waren es nur etwa ein Viertel
der Ärztinnen und Ärzte ([Tab. 3]). Eine generelle Straffreiheit von aktiver Sterbehilfe wurde von den meisten Befragten
abgelehnt, am stärksten durch Ärztinnen und Ärzte. Eine teilweise Zustimmung gaben
lediglich die Pflegerinnen und Pfleger bei aktiver Sterbehilfe durch Ärztinnen und
Ärzte an.
Durchführung von aktiver Sterbehilfe
Aktive Sterbehilfe wurde in den vergangenen 24 Monaten in der ärztlichen Berufsgruppe
in 1,94 % der Fälle und in der pflegerischen Berufsgruppe in 1,24 % der Fälle praktiziert
([Tab. 4]).
In den vergangenen 24 Monaten hatten Ärzte und Ärztinnen in 84 Fällen und Pfleger
und Pflegerinnen in 65 Fällen aktive Sterbehilfe praktiziert ([Tab. 3]). Während des gesamten Beschäftigungszeitraums hatten 278 Ärzte und Ärztinnen und
117 Pfleger und Pflegerinnen das Leben eines Patienten aktiv beendet ([Tab. 3]). Im Mittel gaben Befragte in beiden Gruppen 2 Fälle von aktiver Sterbehilfe in
den vergangenen 24 Monaten an. Im letzten Fall von selbst durchgeführter aktiver Sterbehilfe
wurde dies durch das Zurückhalten bzw. den Entzug einer Behandlung (77,49 %, 276 Fälle)
mit dem Ziel der Lebensbeendigung oder durch Gabe eines Medikaments (22,51 %, 99 Fälle)
bewirkt. In etwa der Hälfte der Fälle (48,49 %, 177 Fälle) sei der Patient nicht mehr
in der Lage dazu gewesen, sich zu äußern. Bei diesen habe für die meisten eine explizite
Willensbekundung von Patientenseite (74,58 %, 132 Fälle) oder (zusätzlich) durch Angehörige
(56,50 %, 100 Fälle) vorgelegen. Bei etwa einem Drittel der äußerungsfähigen Patientinnen
und Patienten (17,39 %, 32 Fälle) habe weder eine Willensäußerung durch sie selbst
noch durch ihre Angehörigen vorgelegen. Dies war ebenso bei 45 Patientinnen und Patienten
der Fall, die nicht äußerungsfähig gewesen seien (25,42 %).
Erklärung des Auftretens von aktiver Sterbehilfe in den vergangenen 24 Monaten
Unter statistischer Berücksichtigung der jeweils anderen Variablen im Modell zeigten
sich die Arbeitsbedingungen, insbesondere der Stationstyp (abgeleitet vom Fachgebiet)
(OR = 5,88; 95 %-KI = 2,81–1228), und die ärztliche Berufsgruppe (OR = 2,67; 95 %-KI = 1,39–5,11)
als die stärksten Einflussfaktoren auf die Durchführung aktiver Sterbehilfe in den
vergangenen 24 Monaten ([Tab. 5]). Varianz in ausgeübter aktiver Sterbehilfe konnte zudem u. a. durch einen häufigeren
Kontakt zu sterbenden Patientinnen und Patienten (OR = 1,24; 95 %-KI = 1,24–1,78)
erklärt werden, nicht jedoch durch die danach geäußerten Wünsche von Patienten-/Angehörigenseite
(OR = 1,00; 95 %-KI = 0,99–1,01). Die Straffreiheit von aktiver Sterbehilfe stärker
zu befürworten ging im gleichen Zeitraum auch mit deren vermehrter Anwendung einher
(OR = 2,09; 95 %-KI = 1,68–2,60). Gleiches galt, wenn man diese bei anderen mitbekommen
hatte (OR = 1,21; 95 %-KI = 1,17–1,26). Die Durchführung passiver Sterbehilfe zeigte
bei Berücksichtigung der übrigen Modellvariablen einen nur geringen, jedoch tendenziell
verringernden Einfluss auf die Durchführung aktiver Sterbehilfe (OR = 0,97; 95 %-KI = 0,95–1,00).
Keiner der subjektiven Belastungsfaktoren in den vergangenen 24 Monaten zeigte einen
Einfluss auf die Durchführung aktiver Sterbehilfe im selben Zeitraum.
Tab. 5
Multivariable logistische Regression der aktiven Sterbehilfe in den vergangenen 24
Monaten.
Prädiktor
|
Odds Ratio
|
95 %-KI
|
Person/Arbeitsbedingungen
|
|
|
Geschlecht (männlich)
|
1,68[*]
|
1,01–2,81
|
Berufsgruppe (ärztlich)
|
2,67[*]
|
1,39–5,11
|
Berufserfahrung
|
1,00
|
0,98–1,02
|
Stationstyp (Fachgebiet)
|
5,88[**]
|
2,81–12,28
|
Kontakt zu sterbenden Patienten
|
1,49[**]
|
1,24–1,78
|
geäußerter Wunsch nach aktiver Sterbehilfe
|
1,00
|
0,99–1,01
|
palliative Maßnahmen
|
|
|
passive Sterbehilfe
|
0,97[*]
|
0,95–1,00
|
indirekte Sterbehilfe
|
0,99
|
0,97–1,02
|
Belastungsfaktoren
|
|
|
berufliche Zufriedenheit
|
1,04
|
0,72–1,52
|
Unterstützung im Team
|
1,23
|
0,86–1,75
|
Arbeitsbelastung
|
1,15
|
0,80–1,66
|
Einstellung/Einflüsse anderer
|
|
|
aktive Sterbehilfe durch Kollegen beobachtet
|
1,21[**]
|
1,17–1,26
|
Befürwortung von aktiver Sterbehilfe
|
2,09[**]
|
1,68–2,60
|
Signifikantes Gesamtmodell χ2 (13) = 344,76; p < 0,001; Nagelkerkes R2 = 0,30; korrekte Klassifikation von 97,33 % der Befragten (14,60 % korrekte Zuordnung
zur aktiven Sterbehilfe).
* < 0,05.
** < 0,001.
Diskussion
Die vorliegende Studie konnte das Vorkommen von allen Formen der Sterbehilfe durch
die ärztliche und pflegerische Berufsgruppe in deutschen Krankenhäusern zeigen. Innerhalb
von 24 Monaten führten nach eigenen Angaben etwa ein Drittel der Pflegerinnen und
Pfleger und die Hälfte der Ärztinnen und Ärzte indirekte bzw. passive Sterbehilfe
durch (38 926 berichtete Fälle). Der Anteil von durchgeführter aktiver Sterbehilfe
war im gleichen Zeitraum deutlich geringer (680 berichtete Fälle).
Die aktuelle Studie ergänzt die wenigen Befunde zur Durchführung von verschiedenen
Formen von Sterbehilfe in Deutschland. Sie bestätigt die Ergebnisse einer Studie aus
dem Jahr 2017. Damals gaben – je nach Berufsgruppe – zwischen 1,42 und 3,39 % der
Befragten an, schon einmal selbst aktive lebensbeendende Handlungen durchgeführt zu
haben [7]. Die berichteten Angaben liegen unterhalb der Vergleichswerte von Maitra et al.
[4], bei denen 13 % der niedergelassenen Hausärztinnen und -ärzte angaben, bereits aktive
Sterbehilfe durchgeführt zu haben, jedoch über denen von Schildmann et al. [17] innerhalb von 12 Monaten. Die Ausübung von assistiertem Suizid wird bei Jansky et
al. [18] mit einem höheren Anteil von 3,2–3,6 % der (überwiegend palliativmedizinisch tätigen)
Ärztinnen und Ärzten sowie anderen Berufsgruppen angegeben. Abweichende Beobachtungszeiträume
und Fragebogenmethodik berechtigen jedoch zu keinem direkten Vergleich.
Die gleichzeitige Befragung von Pflegerinnen und Pflegern konnte deren Beteiligung
an allen Formen von Sterbehilfe belegen, wie dies auch aus Studien aus anderen Ländern
bekannt ist [19]. Ein direkter Vergleich mit der ärztlichen Berufsgruppe wird jedoch durch Unterschiede
zwischen den Stichproben erschwert. Obwohl es sich um eine relativ große Stichprobe
handelt, lassen sich keine generalisierbaren Aussagen zur Praxis der Sterbehilfe in
deutschen Kliniken treffen. Dazu sind repräsentative Stichproben erforderlich [14], die besonders beachten, dass ein wesentlicher Unterschied zwischen aktiver Sterbehilfe
auf der einen Seite und indirekter bzw. passiver Sterbehilfe auf der anderen Seite
in der Handlungsmotivation besteht. Bei der aktiven Sterbehilfe ist die Lebensbeendigung
primär beabsichtigte Folge einer Handlung, bei anderen Formen von Sterbehilfe ist
dagegen eine eventuelle Lebensverkürzung primär nicht beabsichtigt. Daher ließ diese
Studie bei der Abfrage von angewendeten Maßnahmen – nachdem die Durchführung von aktiver
Sterbehilfe bejaht wurde – die Angabe zu, eine absichtliche Lebensbeendigung auch
durch das Zurückhalten bzw. den Entzug von Behandlung zu bewirken ([Tab. 3]). Hier könnte durch die nicht definitionskonforme Zuordnung eine zuverlässige Antwortentscheidung
erschwert worden sein. Eine Limitation der Studie stellen sozial erwünschte Antwortverzerrungen
und die Nachteile von Online-Befragungen dar [20]. Angesichts eines möglichen Antwortbias durch die Brisanz einiger Angaben sollte
die Interpretation mit Vorsicht erfolgen. Trotz Eingrenzung auf einen 24-monatigen
Zeitraum lässt die querschnittliche Natur der Daten keine kausalen Schlüsse seitens
der Einflussfaktoren auf die Durchführung von aktiver Sterbehilfe zu.
Zukünftige Forschung sollte weiterhin die Gruppe der Pflegekräfte in Befragungen zum
Thema Sterbehilfe einbeziehen und verschiedene Formen von Sterbehilfe gemeinsam erheben.
Die Konstruktion von sensitiven, begrifflich neutralen Fragebögen, Wahrung der Anonymität
und Zusammenarbeit mit den Ärzte- und Pflegekammern sind Voraussetzung für verlässliche,
repräsentative Daten, von denen auch die gesellschaftliche Debatte in Deutschland
profitieren könnte.
Forschung zur Lage in den Niederlanden nach Inkrafttreten der Gesetzesreform 2002
zeigte einen nur moderaten Anstieg von aktiver Sterbehilfe [21], worauf von Befürwortern einer entsprechenden Gesetzesänderung in Deutschland hingewiesen
wird. Gleichzeitig zeigen die Befunde der vorliegenden Studie einen nur geringen Zusammenhang
zwischen der Anwendung verschiedener Formen von Sterbehilfe und ihren jeweiligen rechtlichen
Konsequenzen. So wurde der zumindest in Einzelfällen straffreie assistierte Suizid
deutlich seltener angegeben als die verbotene aktive Sterbehilfe. Dies wirft die Frage
auf, welchen Einfluss vorhandene oder zukünftige Gesetze auf die individuellen Entscheidungen
von ärztlichen und pflegerischen Mitarbeitern in Krankenhäusern nehmen können. Tatsächlichen
Einfluss hierauf nahmen die Anwendung palliativmedizinischer Kenntnisse, das beobachtete
Verhalten von Kolleginnen und Kollegen sowie die (überwiegend ablehnende) eigene Haltung
gegenüber aktiver Sterbehilfe. Entsprechende Förderung palliativmedizinischer Weiterbildungen
für alle medizinischen Berufsgruppen mit häufigem Kontakt zu Sterbenden und ein offener
Austausch unter ihnen könnten daher sinnvolle Möglichkeiten darstellen, um im Spannungsfeld
von Selbstbestimmung und Fürsorge am Lebensende [22] eine humane Sterbebegleitung zu verwirklichen.
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Passive bzw. indirekte Sterbehilfe wurde innerhalb von 24 Monaten von ca. der Hälfte
der befragten Ärztinnen und Ärzte und einem Drittel der Pflegerinnen und Pfleger in
deutschen Krankenhäusern berichtet.
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Aktive Sterbehilfe und assistierter Suizid wurden von einem geringen Teil beider Berufsgruppen
berichtet.
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Variation in der Anwendung von aktiver Sterbehilfe wurde durch arbeitsbezogene Faktoren,
die Befürwortung aktiver Sterbehilfe und durch das beobachtete Verhalten anderer im
selben Zeitraum beeinflusst.
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Durchgeführte passive Sterbehilfe wirkte sich verringernd auf praktizierte aktive
Sterbehilfe aus; es gab in der vorliegenden Studie keinen Zusammenhang zu subjektiver
Arbeitsbelastung.
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Repräsentative Stichproben sind notwendig, um die vorliegenden Ergebnisse zu replizieren.