Psychophysiologische und neuroendokrine Effekte
Eine der spannendsten Erkenntnisse aus der Gehirnforschung der letzten 40 Jahre ist
die Entdeckung, dass Gedanken zu Gehirn- und körperlichen Veränderungen führen können.
Folglich können Gedanken im ungünstigen Fall zu psychischen und psychosomatischen
Krankheiten führen und im günstigen Fall zur Genesung und Resilienzbildung beitragen
[3], [8], [10].
Depressive Patienten neigen beispielsweise häufig dazu, die meiste Zeit des Tages
über negative Gedanken zu grübeln. Es können negative Gedanken über sich selbst oder
über ihre Mitmenschen sein, über Misserfolge in der Vergangenheit oder Misserfolge,
die in Zukunft stattfinden könnten. Solche negativen Gedankenspiralen führen unter
anderem dazu, dass im Gehirn der Glücksbotenstoff Serotonin nicht mehr produziert
wird und dysfunktionale neuronale Netzwerke im Gehirn aktiviert werden [6], [8], [9], [10]. Patienten fühlen sich dann niedergeschlagen, motivations- und antriebslos. Pharmakologisch
wird dann versucht, diese Defizite durch antidepressive Medikamente (in der Regel
SSRIs, selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer) auszugleichen, die den Serotoninspiegel
im Gehirn anheben sollen.
Hinzu kommt, dass negative Gedanken den Sympathikus im autonomen Nervensystem aktivieren,
was dazu führt, dass der Körper in eine sogenannte „Kampf-oder-Flucht-Reaktion“ versetzt
wird. Die Muskeln werden dadurch angespannt, die Atemfrequenz nimmt zu, der Blutdruck
steigt, und sämtliche Prozesse, die nicht für eine Kampf- oder Flucht-Reaktion notwendig
sind, werden runtergefahren, wie etwa Regenerations- und Verdauungsprozesse. Wenn
der Sympathikus durch solche Gedankenspiralen dauerhaft aktiv bleibt, können Patienten
eine Reihe von psychosomatischen Beschwerden erleiden, zum Beispiel Spannungskopfschmerz,
muskuläre Verspannungen im Nacken- und Schulterbereich, kardiovaskuläre Beschwerden,
Hautprobleme, Panikattacken oder auch Magen-Darm- Beschwerden.
Gedanken können Materie verändern und sogar zu körperlichen Krankheiten führen.
Die Reaktionsspezifität des autonomen Nervensystems
Im Sinne einer Reaktionsspezifität neigen viele Patienten dazu, mit einem bestimmten
Organ bei chronischem Stress krank zu reagieren. Der Gegenspieler (Antagonist) des
Sympathikus ist der Parasympathikus. Er ist dann aktiv, wenn wir entspannt sind, und
dafür zuständig, Energiereserven aufzubauen.
Physiologisch zeigt sich Entspannung auf verschiedenen Ebenen [17]: Es kommt zu einer Abnahme des Tonus der Skelettmuskulatur. Im Herz-Kreislauf-System
(Kardiovaskuläres System) kommt es zu einer peripheren Gefäßerweiterung (Vasodilatation),
einer Verlangsamung der Herzfrequenz und einer Senkung des Blutdrucks. Die Atemfrequenz
verlangsamt sich ebenfalls und die Atemzyklen werden gleichmäßiger. Verdauungs- und
Regenerationsprozesse werden wieder aktiviert. [
Abb. 2
] veranschaulicht in einer vereinfachten Form die Funktionsweise des autonomen Nervensystems
mit seinen zwei Gegenspielern: Sympathikus und Parasympathikus.
Abb. 2 Vereinfachte Darstellung der Funktionsweise des autonomen Nervensystems für die Psychoedukation
von Patienten. Quelle: © Prof. A. Karim, Uni-Klinikum Tübingen
Verschiedene Messmethoden
Psychophysiologische und neurophysiologische Messungen ermöglichen es, den Einfluss
von depressiven und dysfunktionalen Gedanken sowie therapeutischen Interventionen
auf das Gehirn und den Körper objektiv zu messen. Als Maß der Gehirnaktivität dient
zum Beispiel das Elektroenzephalogramm (EEG), das von der Kopfhaut über Elektroden
abgeleitet werden kann, oder die funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT), die
es auch ermöglicht, nicht nur vom Kortex, sondern auch von tieferliegenden Hirnstrukturen
die Aktivität zu messen. Bei psychophysiologischen Messungen können auch Muskelspannungen
(Elektromyografie, EMG), Augenbewegungen (Elektrookulografie, EOG) sowie verschiedene
Maße des autonomen bzw. vegetativen Nervensystems aufgezeichnet werden. Als Maße für
das autonome Nervensystem werden gewöhnlich Herzschlagfrequenz, Blutdruck, Pupillengröße
und insbesondere die elektrische Hautleitfähigkeit (elektrodermale Aktivität, EDA)
verwendet.
Zusätzlich zu Veränderungen im Nervensystem können depressive und dysfunktionale Gedanken
auch das Immunsystem und die Hormonausschüttung erheblich beeinflussen. Die interdisziplinäre
Wissenschaft, die sich mit solchen Fragestellungen befasst, ist die Psychoneuroendokrinologie.
Wie der Name schon verrät, umfasst diese Disziplin psychologische und neuronale Prozesse
sowie hormonelle Veränderungen im Körper – Endokrinologie ist die Lehre von den Hormonen.
[
Abb. 3
] veranschaulicht die neuroendokrinen Prozesse, die bei einer Stressreaktion entstehen.
Bei akutem Stress springt zuerst die erste Stressachse an (rechts im Bild), wobei
im Hypothalamus ein Nervensignal gesendet wird, welches über das sympathische Nervensystem
im Rückenmark zu einer Aktivierung des Nebennierenmarks führt. Dort werden die Hormone
Adrenalin und Noradrenalin ausgeschüttet. Das Herz schneller schlägt, der Blutdruck
steigt, die Bronchien erweitern sich, Glycogen wird zu Glucose abgebaut und der Blutglucosespiegel
steigt. Die Magen-Darm-Tätigkeit wird hingegen gehemmt.
Abb. 3 Neuroendokrinologische Prozesse bei der Stressreaktion didaktisch aufbereitet für
die Psychoedukation von Patienten. Quelle: © Prof. A. Karim, Uni-Klinikum Tübingen
Bei lang andauerndem, chronischem Stress springt die zweite Stressachse an (links
im Bild). Der Hypothalamus schüttet das Corticotropin-releasing Hormone (CRH) aus,
welches bewirkt, dass die Hypophyse das adrenocorticotrope Hormon (ACTH) ausschüttet.
ACTH wiederum bewirkt, dass die Nebennierenrinde (NNR) Cortisol ausschüttet. Cortisol
hat einen zentralen Vorteil: Es wirkt entzündungshemmend. Eine chronische Cortisolausschüttung
birgt jedoch erhebliche Gefahren. Neuroimmunologische Studien zeigen, dass Cortisol
immunsuppressiv wirkt und sowohl die spezifische als auch die nichtspezifische Immunreaktion
behindert. Kiecolt-Glaser et al. konnten zum Beispiel zeigen, dass eine erhöhte Cortisolausschüttung
bei Studenten im Rahmen von Prüfungsstress zu einer signifikanten Verringerung der
natürlichen Killerzellen im Blutserum führt [12]. Neuroanatomische Untersuchungen zeigen darüber hi-naus, dass Cortisol die Neuronen
im Hippocampus zerstören [16]. Der Hippocampus ist eine Region im Gehirn, die für das Lernen und das Gedächtnis
eine zentrale Rolle spielt. Daher können Menschen mit chronischem Stress, auch im
Rahmen einer Depression, Gedächtnis- und Konzentrationsprobleme aufweisen.
Gesundheitsphysiologische Effekte
An dieser Stelle können wir festhalten, dass es gesundheitspsychologisch relevant
wäre, wenn Aufenthalte und Achtsamkeitsübungen im Wald dazu führen könnten, dass das
sympathische Nervensystem heruntergefahren, das parasympathische Nervensystem im Gegenzug
aktiviert und einer chronischen Ausschüttung von Stresshormonen entgegengewirkt werden
kann. In diesem Fall würden Patienten und Klienten nicht nur neurophysiologisch, hormonell
und immunologisch, sondern darüber hinaus auch hinsichtlich ihrer kognitiven Leistungsfähigkeit
profitieren.
Bemerkenswerterweise zeigen mehrere Studien, dass Achtsamkeitsübungen in der Natur
und insbesondere im Wald sowohl zu einer Reduktion von negativen grübelnden Gedanken
führen als auch zu gesundheitsförderlichen physiologischen Veränderungen (für einen
Überblick siehe [12], [15]).
In einer vielbeachteten Studie konnten Bratman et al. [3] zeigen, dass ein 90-minütiger Spaziergang im Wald nicht nur zu einer signifikanten
Verringerung von negativen, grübelnden Gedanken, sondern auch zur Deaktivierung einer
Gehirnstruktur im präfrontalen Kortex, dem subgenualen präfrontalen Kortex (sgPFC),
führt, die bei Trauer, depressiven Gedanken und negativen autobiografischen Narrativen
pathologisch aktiv ist [8], [9], [10]. Dieser Effekt konnte hingegen nach einem 90-minütigen Spaziergang in der Stadt
nicht gefunden werden. Ebenso konnten Dolling et al. [4] zeigen, dass ein 2-mal pro Woche stattfindender Waldbesuch bei stressbelasteten
Personen eine Verbesserung der Gesundheit in Form einer Reduzierung von Erschöpfung,
Stress und Burn-out-Symptomen hervorgerufen hat, wobei auch der Schlaf sich verbesserte.
In einer weiteren Studie wurde die elektrische Gehirnaktivität bei 60 Probanden mithilfe
eines mobilen EEG-Geräts während eines 15-minütigen Besuchs im Wald gemessen und die
Ergebnisse wurden mit einem 15-minütigen Besuch in der Stadt verglichen [5]. Gleich zu Beginn des Waldbesuches kam es zu einem signifikanten Anstieg von Alpha-Wellen,
die das Gehirn im entspannten Wachzustand produziert. Als die Teilnehmer sich jedoch
in der Stadt aufhielten, kam es zu einer signifikanten Reduktion der Alpha-Wellen-Aktivität.
Darüber hinaus zeigen mehrere Studien, dass ein Aufenthalt im Wald die sympathische
Nervenaktivität reduzieren, die parasympathische Aktivität erhöhen sowie den Cortisolspiegel
senken kann (für einen Überblick siehe [2], [11], [13]).
Einfluss unterschiedlicher Waldtypen
In einer eigenen Studie untersuchten wir den Einfluss von Achtsamkeitsübungen in verschiedenen
Waldtypen (Mischwald und Nadelwald) auf psychophysiologische Parameter und verglichen
die Effekte mit Achtsamkeitsübungen in einem neutralen Raum und in einem Raum, der
mit Terpenen von Nadelblättern beduftet wurde [1]. Hierbei wurden die folgenden neurophysiologischen Parameter gemessen: die Elektromyografie
(EMG), um die elektrische Muskelaktivität zu messen, die Elektrokardiografie (EKG),
um die elektrische Herzaktivität zu messen, und die elektrodermale Aktivität (EDA),
um die elektrische Hautleitfähigkeit zu messen. Da die Schweißdrüsenaktivität der
Hände ausschließlich vom Sympathikus beeinflusst wird, kann die Hautleitfähigkeit
als „reiner“ Indikator sympathischer Aktivität herangezogen werden [6]. Außerdem wurde auch das Stresshormon Cortisol in den verschiedenen Bedingungen
gemessen. Unsere Daten zeigen, dass Achtsamkeitsübungen im Wald zu einer Reduktion
des Stresshormons Cortisol und zu einer Verbesserung der Aktivität des parasympathischen
Nervensystems führen.
Bemerkenswerterweise gab es jedoch auch Unterschiede zwischen den betrachteten Waldtypen.
Der Mischwald zeigte bessere Effekte auf die kardiovaskuläre Aktivität und die Aktivität
des parasympathischen Nervensystems. Der Nadelwald zeigte hingegen bessere Effekte
auf den Cortisolspiegel. Betrachtete man im Vergleich dazu Achtsamkeitsübungen im
Innenraum, so zeigte sich, dass Aufenthalte im Wald zu einem deutlich niedrigen Cortisolspiegel
führten als Aufenthalte im Innenraum. Nadel- und Mischwald hatten auch positivere
Effekte auf die Herzaktivität und die Hautleitfähigkeit. Allerdings wirkte der mit
Terpenen beduftete Innenraum ebenfalls positiv. Er führte zu einer Verbesserung der
Aktivität des parasympathischen Nervensystems, allerdings nicht zu einer Verbesserung
des Cortisolspiegels. Beide Innenräume weisen hinsichtlich des Cortisolspiegels keine
signifikanten Unterschiede auf.
Unsere Ergebnisse bestätigen frühere Studien, die zeigen, dass Wälder eine grundsätzlich
positive Wirkung auf die menschliche Gesundheit haben [2], [3], [13], [14]. Unklar bleibt jedoch die Fragestellung, welche Waldkomponenten wirksam sind und
inwieweit sich verschiedene Waldtypen in ihren Effekten unterscheiden. Unsere Studie
verdeutlicht, dass man in künftigen Untersuchungen nicht mehr von „Wald“ als etwas
Homogenes sprechen, sondern differenziert zwischen verschiedenen Waldkomponenten und
Waldtypen hinsichtlich ihrer psychophysiologischen und neuroendokrinologischen Wirkung
unterscheiden sollte.
Wald ist nicht gleich Wald: Künftige Studien sollten differenziert den Einfluss von
verschiedenen Waldkomponenten und Waldtypen auf verschiedene Störungsbilder untersuchen.
Dieser Forschungszweig könnte künftig den Weg für maßgeschneiderte therapeutische
Interventionen ebnen, wonach bei bestimmten psychosomatischen Symptomen spezifische
therapeutische Interventionen mit spezifischen Waldkomponenten durchgeführt werden.
Anhand eines Strukturgleichungsmodells, welches mit Daten von N = 1628 Probanden berechnet
wurde, konnten wir zeigen, dass Achtsamkeit im Alltag mit einer signifikanten Verringerung
von negativen Affekten und einer signifikanten Verbesserung der psychischen Gesundheit
einhergeht, auch wenn der Einfluss von demografischen Daten wie Alter, Beruf und Bildung
kontrolliert wird [19]. Es stellt sich daher die praktische Frage, wie Therapeuten im klinischen Alltag
bei Patienten mit psychischen und psychosomatischen Beschwerden Achtsamkeit im Alltag
fördern können und welchen Beitrag eine Waldtherapie hier leisten kann.
Waldtherapie: Klinische Empfehlungen
Wenn Therapeuten in den Behandlungssitzungen Waldaufenthalte oder Achtsamkeitsübungen
im Wald integrieren möchten, müssen verschiedene Aspekte beachtet werden. Seitens
der Patienten sollte zunächst geprüft werden, ob bestimmte Ausschlusskriterien für
waldtherapeutische Interventionen vorliegen. So muss bei Patienten mit einer posttraumatischen
Belastungsstörung beispielsweise vorher geklärt werden, ob ein Waldaufenthalt bestimmte
negative Erinnerungen oder frühere traumatische Erlebnisse triggern kann. Bei Patienten
mit Waschzwängen könnte ein Waldaufenthalt sie überfordern und destabilisieren. Auch
wenn die Therapeut-Patient-Beziehung noch nicht gefestigt ist, kann ein zu früher
Einsatz von Waldaufenthalten in der Therapie kontraproduktiv sein. Es ist daher wichtig
zu klären, ob und wann im Therapieprozess Waldaufenthalte sinnvoll sein können.
Das 3-Zonen-Modell
Sofern die Kriterien seitens der Patienten stimmen, sollten Therapeuten entsprechende
Kriterien für die Auswahl von geeigneten Wäldern finden. [
Abb. 4
] veranschaulicht hierbei ein wichtiges Modell, welches wir in der Therapie und in
der Lehre häufig anwenden. Nach diesem Modell befinden sich Patienten zunächst einmal
in einer sogenannten Bequemzone. Auch wenn Patienten einen gewissen Leidensdruck haben,
erleben viele von ihnen insbesondere mit psychischen und psychosomatischen Störungen
einen Widerstand, etwas an ihrem gewohnten Verhalten zu verändern. Hinzu kommt, dass
Patienten bewusst oder unbewusst häufig auch einen Krankheitsgewinn haben. Dieser
Krankheitsgewinn könnte sich zum Beispiel in Form von Empathie von Mitmenschen ausdrücken.
Das Beibehalten einer sogenannten Opferrolle könnte darüber hinaus zumindest kurzfristig
bestimmte Vorteile mit sich bringen, wie zum Beispiel die Rechtfertigung für sich
selbst und für die anderen, warum man bestimmte Leistungen, etwa in Beruf oder Ausbildung,
nicht erbringen kann. Es ist daher wichtig, den Patienten im Rahmen einer Verhaltensanalyse
zu verdeutlichen, welche kurzfristigen und langfristigen Folgen das Beharren in der
gewohnten Bequemzone zur Folge hätten.
Abb. 4 Das 3-Zonen-Modell. Quelle: © Prof. A. Karim, Uni-Klinikum Tübingen
Da Psychotherapie auch immer mit einer Veränderung von dysfunktionalen Gedanken und
Verhaltensweisen einhergeht, ist es wichtig, Patienten von der Bequemzone graduell
in die Lernzone zu bringen, jedoch sollte vermieden werden, sie in die Überforderungszone
zu bringen. Dieses Prinzip gilt es auch zu beachten, wenn man im Rahmen der Therapie
geeignete Waldstücke aussucht. Es gibt zum Beispiel Wälder, die sehr übersichtlich
und geordnet wirken, da sie lichtere Strukturen aufweisen und einen höheren Anteil
an Freiflächen bieten. Im Gegensatz dazu gibt es auch Wälder mit dichterem Baumbestand
und einen geringeren Anteil an Freiflächen. Daher sollte unbedingt evaluiert werden,
welche Gedanken und Emotionen verschiedene Waldtypen bei den Patienten auslösen, um
eine Überforderung der Patienten und damit einhergehende kontraproduktive Gedanken
und Emotionen zu vermeiden. Im Sinne einer adaptiven Therapie kann es jedoch nach
einiger Zeit passieren, dass eine frühere Lernzone zur neuen Bequemzone und damit
auch eine frühere Überforderungszone zur neuen Lernzone wird. Therapeuten sollten
daher sinnvoll planen, welche Interventionen in welcher Reihenfolge und zu welcher
Zeit indiziert sind. [Abb. 5] veranschaulicht verschiedene Interventionen, die im Rahmen einer Waldtherapie mit
Patienten durchgeführt werden können.
Abb. 5 Beispielhafte Interventionsmethoden in der Waldtherapie. Quelle: © Prof. A. Karim,
Uni-Klinikum Tübingen
Da Psychotherapie auch immer mit einer Veränderung von dysfunktionalen Gedanken und
Verhaltensweisen einhergeht, ist es wichtig, die Patienten von der Bequemzone graduell
in die Lernzone zu bringen.
Geeignete Interventionsmethoden auswählen
Eine einfache Einstiegsübung könnte zum Beispiel darin bestehen, die Achtsamkeit im
Wald zunächst auf die visuelle Wahrnehmung zu fokussieren. Der Patient soll sich ein
Objekt aussuchen, das ihm optisch besonders gefällt. Im Rahmen einer sokratischen
Gesprächsführung stellt der Therapeut Fragen zu den visuellen Komponenten des ausgesuchten
Objektes, sodass der Patient zunehmend dessen verschiedene Komponenten entdeckt (Methode
der geleiteten Entdeckung). Anschließend kann der Therapeut den Patienten fragen,
welche Emotionen diese visuellen Komponenten bei ihm auslösen.
Im Rahmen von Supervisionssitzungen empfiehlt der Erstautor angehenden Therapeuten
bei dieser Übung, dass sie bestimmte Satzteile der Patientenangaben wie ein Echo verlangsamt
wiederholen. Wenn der Patient zum Beispiel sagt, dass die Blätter des Baumes auf ihn
ruhig und entspannend wirken, kann der Therapeut die Wörter „ruhig“, „entspannend“
wie ein Echo langsam und in einem tiefen, entspannten Ton wiederholen, wobei die Vokale
in diesen Worten gedehnt werden können. Unsere psychophysiologischen Messungen zeigen,
dass diese Art der Gesprächsführung eine stärkere Aktivierung des parasympathischen
Nervensystems begünstigt. Anschließend kann der Therapeut nachfragen, wo der Patient
im Körper diese Entspannung am meisten spürt. Bemerkenswerterweise spüren die meisten
Patienten die Entspannung im gleichen Organ, in dem sie auch die Anspannung und die
Nervosität spüren.
Die gleiche Prozedur könnte jetzt der Therapeut mit dem nächsten Wahrnehmungskanal
durchführen, wie etwa mit der auditorischen Wahrnehmung von akustischen Reizen im
Wald. Bei dieser Übung kann der Therapeut auch einen „Schnitt“ einbauen und fragen,
ob der Patient gerade an irgendwelche Probleme oder Sorgen gedacht hat. Die meisten
Patienten stellen dann erleichtert fest, dass sie während dieser Übung überhaupt nicht
an Probleme gedacht haben. An dieser Stelle kann der Therapeut auf die Funktionsweise
des Thalamus im Gehirn verweisen, die wie ein Scheinwerferlicht im Gehirn funktioniert
und bestimmt, was wir bewusst und was wir unbewusst wahrnehmen. Wenn wir unsere Aufmerksamkeit
zum Beispiel auf visuelle oder auditorische Reize im Wald fokussieren, können wir
sie nicht gleichzeitig auf sorgenvolle Gedanken lenken.
Graduelles Training
Um die Schwierigkeitsstufe im Sinne der nächsten Lernzone zu erhöhen, kann der Therapeut
wie in [Abb. 5a] dargestellt auch mit verschiedenen Materialien wie etwa einem Spiegel arbeiten.
Wenn der Patient den Spiegel zum Beispiel direkt an sein Kinn hält und von oben auf
den Spiegel schaut, wird er völlig andere visuelle Eindrücke beim Spazierengehen erleben,
als wenn der Patient den Spiegel über seine Augen hält und von unten auf den Spiegel
hochschaut. Therapeuten sollten auch wissen, welche Objekte im Wald besonders interessante
Düfte (Terpene) enthalten. [Abb. 5b] zeigt zum Beispiel einen Douglasien-Zapfen, welcher sehr angenehme und erfrischende,
zitronenartige Gerüche entfalten kann. Die Methode der geleiteten Entdeckung sollte
mit jeder Sitzung vertieft und die Nacheffekte sollten evaluiert werden.
Im Sinne des vorgestellten Modells in [Abb. 4] können in fortgeschrittenen Sitzungen Vertrauens- und Gleichgewichtsübungen eingebaut
werden. [Abb. 5c] veranschaulicht beispielsweise eine Übung, bei der eine Patientin die Augen verschlossen
hält und sich nur mit ihrem Tastsinn an einem Seil entlang von einem Baum zum nächsten
bewegt. Werden Interventionsübungen in Gruppen durchgeführt, so sollte der Therapeut
sowohl auf die Gruppenzusammensetzung als auch auf die Gruppendynamik achten. Interventionen
im Wald bieten vielfältige Möglichkeiten, die Gruppendynamik positiv zu beeinflussen
und die Gruppenkohäsion zu verstärken. Insbesondere bei therapeutischen Sitzungen
in Gruppen sollte nach dem Modell in [Abb. 4] darauf geachtet werden, dass Patienten in der Gruppeninteraktion nicht überfordert
werden.
Psychoedukation erhöht Compliance
Um die Compliance von Patienten für Waldtherapie zu erhöhen, empfehlen wir schließlich,
vor der Therapie eine ausführliche Psychoedukation einzubauen. Im Rahmen dieser Psychoedukation
sollten Patienten zuerst über die Mechanismen und die Gründe für ihre Symptome informiert
werden. Außerdem ist es wichtig, sie darüber aufzuklären, welche psychophysiologischen
und neuroendokrinen Effekte Achtsamkeitsübungen im Wald haben. Gerade durch die naturwissenschaftlich
objektivierbaren Effekte der Psychophysiologie und Neuroendokrinologie kann die Compliance
auch bei jenen Patienten erhöht werden, die eine vermeintliche Nähe der Waldtherapie
zur Esoterik vermuten. Die Abbildungen, die wir in diesem Artikel verwendet haben,
benutzen wir regelmäßig in Rahmen der Psychoedukation von Patienten. Interessierte
Therapeuten können bei entsprechender Zitation die hier vorgestellten Abbildungen
und Modelle in der eigenen klinischen Arbeit verwenden.
Fazit
Psychische und psychosomatische Störungen gehen in der Regel mit typisch krankhaften
Gedanken und Verhaltensweisen einher. Dauerhaftes Grübeln über negative Gedanken und
der Mangel an positiven Verhaltensweisen führen zu pathologischen Veränderungen im
Gehirn und im Körper, die neurobiologisch messbar sind. Bemerkenswerterweise besteht
kumulative Evidenz dafür, dass Achtsamkeitsübungen in der Natur, und zwar insbesondere
im Wald zu gesundheitsförderlichen Effekten führen, die in einer städtischen Umgebung
weniger effektiv erzielt werden können. Die gesundheitsförderlichen Effekte umfassen
eine Verringerung der Aktivität des sympathischen Nervensystems, die mit einer Reihe
von psychosomatischen Beschwerden einhergehen kann, wie zum Beispiel muskuläre Verspannungen,
Kopfschmerzen, Panikattacken, kardiovaskuläre und gastrointestinale Beschwerden sowie
Hautprobleme. Darüber hinaus zeigen mehrere Studien, dass Waldaufenthalte auch den
Cortisolspiegel im Blut effektiv senken können, was sich förderlich auf das Immunsystem
und die kognitive Leistungsfähigkeit auswirkt.
Unsere Untersuchungen verdeutlichen, dass man in künftigen Studien nicht mehr von
„Wald“ als etwas Homogenem sprechen, sondern differenziert zwischen verschiedenen
Waldkomponenten und Waldtypen hinsichtlich ihrer psychophysiologischen und neuroendokrinologischen
Wirkung unterscheiden sollte. Dieser Forschungszweig könnte künftig den Weg für maßgeschneiderte
therapeutische Interventionen ebnen. Für den praktischen klinischen Einsatz der Waldtherapie
empfehlen wir, die hier vorgestellten Abbildungen im Rahmen der Psychoedukation einzusetzen,
um die Compliance zu erhöhen, sowie bei der Auswahl von geeigneten Waldstücken und
Interventionsmethoden das hier vorgestellte Modell ([Abb. 4]) zu beachten.
Interessenkonflikt:
Die Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt besteht.