Wie viel ist notwendig? Referenzwerte bieten eine wissenschaftlich fundierte Grundlage
für eine sichere Nährstoffzufuhr gesunder Menschen. (Foto: asiandelight/Adobe Stock)
Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung e. V. (DGE) veröffentlicht gemeinsam mit der
Österreichischen (ÖGE) und der Schweizerischen (SGE) Gesellschaft für Ernährung die
D-A-CH-Referenzwerte für die Nährstoffzufuhr [1]. Diese benennen Mengen für die Zufuhr von Energie und Nährstoffen für gesunde Menschen.
Personen mit Krankheiten, bestehendem Nährstoffmangel oder solche, die durch Genussmittel
oder eine regelmäßige Medikamenteneinnahme belastet sind, müssen individuell ernährungsmedizinisch
beraten und betreut werden.
Referenzwerte werden für Nährstoffe, Wasser, Ballaststoffe sowie für Energie ausgesprochen.
Zu den energieliefernden Nährstoffen gehören Kohlenhydrate, Fett und Protein. Ein
internationaler Vergleich der D-A-CH-Referenzwerte für diese Nährstoffe ist im nachfolgenden
Beitrag von Suchorski et al. in diesem Heft zu finden (S. 174).
D-A-CH-Referenzwerte für die Nährstoffzufuhr
Je nach wissenschaftlicher Datenlage und physiologischer Rolle sprechen die 3 Gesellschaften
im Konsens eine empfohlene Zufuhr, einen Schätzwert oder einen Richtwert aus.
Die empfohlene Zufuhr ist der Referenzwert mit der höchsten Aussagekraft.
Die empfohlene Zufuhr soll eine bedarfsdeckende Zufuhr für nahezu alle gesunden Individuen
einer definierten Personengruppe (Alter, Geschlecht) sichern.
Die empfohlene Zufuhr ist die durchschnittliche tägliche Nährstoffzufuhr, die ausreicht, um den Bedarf
nahezu aller gesunden Individuen (97,5 %) einer definierten Personengruppe (Geschlecht,
Alter) zu decken.
Ausgangspunkt für die Ableitung einer empfohlenen Zufuhr ist die Bestimmung des Bedarfs.
Der Bedarf ist die Menge eines Nährstoffs bzw. die Menge an Energie, die gebraucht
wird, um den Stoffwechsel und die Funktionen des Organismus aufrechtzuerhalten und
die bereits die Bioverfügbarkeit berücksichtigt.
Der Energie- und Nährstoffbedarf ist allerdings von Mensch zu Mensch und von Tag zu
Tag verschieden und abhängig von vielen endogenen (z. B. Alter, Geschlecht, Ernährungsstatus,
Gesundheitszustand) und exogenen Einflüssen (z. B. Klima, körperliche Aktivität in
Beruf und Freizeit). Daher wird als Grundlage zur Ableitung der experimentell ermittelte
durchschnittliche Bedarf verwendet. Bei diesem handelt es sich um die tägliche Nährstoffzufuhr, von der angenommen
wird, dass sie den Bedarf von 50 % der Menschen einer definierten Personengruppe deckt.
Zur Ableitung der empfohlenen Zufuhr wird der durchschnittliche Bedarf gewöhnlich
um die zweifache Standardabweichung bzw. den zweifachen Variationskoeffizienten (Streuung:
10–15 %; Zuschlag von 20–30 %) erhöht. Eine empfohlene Zufuhr wird z. B. für Protein
in den meisten Altersgruppen auf Grundlage von Stickstoffbilanzstudien ausgesprochen.
Bei einigen Nährstoffen bestehen Unsicherheiten bei der Bestimmung des durchschnittlichen
Bedarfs, z. B. aufgrund von Schwankungen der Messwerte oder zu wenigen (geeigneten)
Ergebnissen von Untersuchungen am Menschen. In diesen Fällen kann keine empfohlene
Zufuhr abgeleitet werden, dann werden Schätzwerte angegeben.
Ein Schätzwert wird abgeleitet, wenn der durchschnittliche Bedarf nicht mit wünschenswerter Genauigkeit
angegeben werden kann. Er gibt Hinweise auf eine angemessene und gesundheitlich unbedenkliche
Zufuhr.
Schätzwerte basieren in der Regel auf einer bei Gesunden beobachteten, aus dem Verzehr
abgeleiteten oder experimentell ermittelten Nährstoffzufuhr einer definierten Bevölkerungsgruppe.
Ein Beispiel hierfür ist der D-A-CH-Referenzwert für die Proteinzufuhr für Erwachsene
ab 65 Jahren. Für diese Altersgruppe lässt sich der Proteinbedarf nicht mit wünschenswerter
Genauigkeit aus Stickstoffbilanzstudien bestimmen. Für Erwachsene ab 65 Jahren wird
daher ein Schätzwert für eine angemessene Proteinzufuhr angegeben. Ein weiteres Beispiel
sind die D-A-CH-Referenzwerte für die Nährstoffzufuhr für Säuglinge. Diese werden
in der Regel anhand des Nährstoffgehalts der Frauenmilch abgeleitet.
Für Nährstoffe, die für den Organismus nicht essenziell sind und für die daher kein
Bedarf besteht, werden Richtwerte ausgesprochen. Darüber hinaus werden Richtwerte angegeben, wenn zwar ein Bedarf besteht,
wie für Energie, dieser aber in Abhängigkeit von zahlreichen Einflussfaktoren (z.
B. Lebensstil, Beruf) sehr stark variiert. Bei der Ableitung der Richtwerte werden
präventive Aspekte dieser Nährstoffe berücksichtigt. Richtwerte haben unter den Referenzwerten
die niedrigste Aussagekraft, sie dienen als Orientierungshilfen.
Ein Richtwert ist eine Orientierungshilfe, die aus ernährungsphysiologischer Sicht
wünschenswerte Bereiche oder Werte angibt.
Da für Fett und Kohlenhydrate als solche kein durchschnittlicher Bedarf ermittelt
werden kann, werden in den D-A-CH-Referenzwerten für die Nährstoffzufuhr für Fett
und Kohlenhydrate Richtwerte angegeben.
Anwendung der D-A-CH-Referenzwerte für die Nährstoffzufuhr
Anwendungsbereiche
Die D-A-CH-Referenzwerte für die Nährstoffzufuhr dienen z. B. als eine Grundlage für
die Ableitung der lebensmittelbezogenen Ernährungsempfehlungen der DGE:
Sie finden in der Praxis unter anderem Einsatz bei der Planung einer vollwertigen
Ernährung und bei der Beurteilung der Nährstoffzufuhr. So liegen sie z. B. auch den
DGE-Qualitätsstandards für die Gemeinschaftsverpflegung zugrunde. Auch werden die
Referenzwerte als Grundlage für die individuelle Ernährungsberatung genutzt. Dazu
ist anzumerken, dass Speisepläne auf der Basis der Referenzwerte bei Einzelpersonen
nur zu einer angenäherten Bedarfsdeckung führen können. Mit dem Anspruch absoluter
Genauigkeit ist die Planung einer bedarfsdeckenden Ernährung von Einzelpersonen nicht
möglich, da der individuelle Bedarf nicht bekannt ist. Auch die exakte Beurteilung
des Versorgungszustands einer Einzelperson allein auf Basis der berechneten Nährstoffzufuhr
ist aus diesem Grund nicht möglich. Es lässt sich jedoch abschätzen, ob die Nährstoffzufuhr
der empfohlenen Zufuhr gerecht wird und somit die oder der Einzelne mit großer Wahrscheinlichkeit
adäquat versorgt ist.
Handhabung
Die den D-A-CH-Referenzwerten zugrunde liegenden Daten sind unterschiedlichen Ursprungs.
Daher haben empfohlene Zufuhr, Schätzwert und Richtwert eine unterschiedliche Aussagekraft.
Dies ist für eine korrekte Handhabung der Referenzwerte zu berücksichtigen.
Die einzelnen Referenzwerte sind für den Mittelwert der jeweiligen Altersgruppe berechnet
und beziehen sich auf die tägliche Zufuhr pro Person. Zudem werden unterschiedliche
Verfahren zur Bestimmung des Bedarfs und zur Ableitung von Werten für die empfohlene
Zufuhr und Schätzwerten eingesetzt. Daher sollte ein „überscharfes“ Rechnen mit den
Referenzwerten vermieden werden. Dies gilt insbesondere für die Unterschiede bei aufeinanderfolgenden
Altersgruppen oder zwischen männlichen und weiblichen Personen. Die Einflüsse von
Lebensmittelkombinationen, Mahlzeiten oder auch Genussmitteln beispielsweise auf die
Absorption sowie den Stoffwechsel bestimmter Nährstoffe können größer sein als die
Unterschiede zwischen den empfohlenen Zufuhrmengen für die zuvor genannten Gruppen.
Die Referenzwerte können und müssen nicht an jedem einzelnen Tag und nicht anteilig
durch eine einzelne Mahlzeit erfüllt werden. Es reicht aus, wenn die Vorgaben im Durchschnitt
einer Woche erreicht werden.
Da die Referenzwerte die Menge des Nährstoffs angeben, die der menschliche Organismus
für Gesundheit, Leistungsfähigkeit und Wohlbefinden benötigt, müssen bei der Planung
und Beurteilung der Nährstoffversorgung die Mengen von Nährstoffen berücksichtigt
werden, die zum Zeitpunkt des Verzehrs im Lebensmittel noch vorhanden sind (z. B.
roh versus gegart).
Unter- bzw. Überschreiten der D-A-CH-Referenzwerte
Auf die Einzelperson angewandt, ist die empfohlene Zufuhr eine Zielgröße, um die ausreichende
Zufuhr des jeweiligen Nährstoffs annähernd sicherzustellen.
Bei einer Nährstoffzufuhr in Höhe der empfohlenen Zufuhr ist die betreffende Person
mit großer Wahrscheinlichkeit adäquat versorgt.
Eine Unterschreitung der empfohlenen Zufuhr („rechnerische Unterversorgung“) erlaubt
nicht zwangsläufig den Rückschluss auf einen tatsächlich vorliegenden Mangel. Sie
erhöht nur die Wahrscheinlichkeit einer Unterversorgung. Dies gilt ebenso für das
Unterschreiten der Schätzwerte.
Bei einer über den Referenzwerten liegenden Zufuhr eines Nährstoffs kann es zu unerwünschten
toxischen sowie pharmakologischen Wirkungen kommen. Ab welcher Menge das Risiko für
schädliche Nebenwirkungen erhöht ist, unterscheidet sich je nach Nährstoff. Soweit
entsprechende Daten vorliegen, werden deshalb von internationalen Fachgesellschaften
für einzelne Nährstoffe tolerierbare Gesamtzufuhrmengen (Tolerable Upper Intake Level [UL]) abgeleitet, z. B. von der Europäischen Behörde
für Lebensmittelsicherheit (EFSA) [2]. Wird diese tolerierbare Gesamtzufuhrmenge regelmäßig überschritten, steigt das
Risiko für das Auftreten von schädlichen Nebenwirkungen.
Die tolerierbare Gesamtzufuhrmenge ist die höchste chronische Zufuhrmenge eines Nährstoffs (in der Regel als Summe aus
der täglichen Zufuhr mit der Nahrung inklusive angereicherter Lebensmittel und Nährstoffpräparate),
die als unwahrscheinlich beurteilt wird, ein Risiko für schädigende Wirkungen auf
die Gesundheit darzustellen.
Für die energieliefernden Nährstoffe gibt es keine Daten zu tolerierbaren Gesamtzufuhrmengen.
Die EFSA sieht eine Proteinzufuhr in doppelter Höhe des eigenen Referenzwerts (population
reference intake [PRI]: 0,83 g/kg Körpergewicht pro Tag) für Erwachsene als sicher
an [3]. Laut World Health Organization (WHO) zeigen Beobachtungen, dass eine Proteinzufuhr
in 3- bis 4-facher Höhe des Referenzwerts über einen längeren Zeitraum ohne unerwünschte
Symptome möglich ist. Aus diesen Beobachtungen kann jedoch nicht geschlossen werden,
dass negative Wirkungen bei einer so hohen Proteinzufuhr generell nicht auftreten
[4].
Die Richtwerte für die Zufuhr von Fett und Kohlenhydraten sind als Orientierungshilfen
zu verstehen. Die DGE hält ein Unterschreiten des Richtwerts für die Kohlenhydratzufuhr,
welcher > 50 EN % beträgt, für vertretbar, wenn folgende Kriterien erfüllt sind [5]:
-
Eine ausreichende Versorgung mit allen unentbehrlichen Nährstoffen (Vitamine, Mineralstoffe,
essenzielle Fettsäuren) und mit Ballaststoffen ist sichergestellt.
-
Die Getreideballaststoffe haben einen wesentlichen Anteil an der Gesamtballaststoffzufuhr,
wobei hauptsächlich Vollkornprodukte verzehrt werden sollen.
-
Es kommt nicht zu einer gesteigerten Zufuhr von gesättigten Fettsäuren und trans-Fettsäuren.
-
Der zusätzliche Proteinkonsum stammt aus pflanzlichen Lebensmitteln und nicht aus
einem erhöhten Fleischverzehr, besonders nicht aus rotem Fleisch.
Die Verringerung des Kohlenhydratanteils in der Ernährung führt zwangsläufig zu einer
Erhöhung der Anteile anderer energieliefernder Nährstoffe. Dabei sollte auf die Qualität
der Nährstoffe und ihre Quellen geachtet werden. Ein höherer Anteil von Fett an der
Gesamtenergiezufuhr sollte aus Pflanzenölen oder Nüssen und Samen stammen, um eine
ernährungsphysiologisch günstige Fettsäurenzusammensetzung zu gewährleisten.
Bei einer deutlich über dem Bedarf liegenden Proteinzufuhr sollte auf eine ausreichende
Flüssigkeitszufuhr geachtet werden, da der beim Proteinabbau entstehende Harnstoff
mit dem Urin ausgeschieden werden muss [3], [6]. Bei Personen mit eingeschränkter Nierenfunktion kann eine deutlich über dem Bedarf
liegende Proteinzufuhr ein Fortschreiten der Niereninsuffizienz auslösen [7], [8].
Die D-A-CH-Referenzwerte für die Nährstoffzufuhr sowie weiterführende Informationen
zu verschiedenen Nährstoffen sind auf der Homepage der DGE unter www.dge.de/wissenschaft/referenzwerte/ zugänglich.
Der Ringordner „Referenzwerte für die Nährstoffzufuhr“ enthält zu jedem Nährstoff
ausführliche Erläuterungen, z. B. Informationen zu Mangelerscheinungen und Überversorgung,
zur Versorgungssituation in Deutschland sowie zu den Ableitungen der neuen Referenzwerte.
Die D-A-CH-Referenzwerte für die Nährstoffzufuhr sind eine Grundlage zur Umsetzung
einer vollwertigen Ernährung. Die Zufuhr von Nährstoffen einschließlich Ballaststoffen
in Höhe der Referenzwerte kann prinzipiell durch eine abwechslungsreiche Ernährung
mit einem hohen Anteil an pflanzlichen Lebensmitteln erfolgen. Wie diese gestaltet
werden kann, zeigen die lebensmittelbezogenen Ernährungsempfehlungen der DGE (https://www.dge.de/ernaehrungspraxis/vollwertige-ernaehrung/). Die genaue Ausgestaltung dieser Ernährung kann individuell unterschiedlich sein.