Methoden und Kriterien zur Diagnose eines Diabetes
Anhand einer selektiven Literaturrecherche und unter Berücksichtigung nationaler und
internationaler Leitlinien wurde dieser Review verfasst.
Diabetes-Symptome (typisch bei Typ-1-Diabetes mit akuter Stoffwechselentgleisung)
oder ein erhöhtes Diabetes-Risiko (z. B. anhand von Fragebögen: Dife – Deutscher Diabetes-Risiko-Test® (DRT) [1] oder FINDRISK [2]) sollen zur Diabetesdiagnose führen:
-
Gelegenheits-Plasmaglukose ≥ 200 mg/dl (≥ 11,1 mmol/l), insbesondere mit Diabetes-Symptomen
oder
-
Nüchtern-Plasmaglukose ≥ 126 mg/dl (≥ 7,0 mmol/l) oder
-
2-Std. Plasmaglukose von ≥ 200 (≥ 11,1 mmol/l) nach 75 g Glukose in einem oralen Glukosetoleranztest
(oGTT) oder
-
HbA1c ≥ 6,5 % (≥ 48 mmol/mol Hb).
Diese Diagnosekriterien sind von der WHO [3], der International Diabetes Federation [4] und von vielen Diabetes-Fachgesellschaften übernommen worden [5]
[6]
[7].
Die Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG) zusammen mit der Deutschen Gesellschaft für
Klinische Chemie und Laboratoriumsmedizin (DGKL) haben eine kritische Wertung der
für die Diabetesdiagnose entscheidenden Laboranalysen vorgenommen, die für die Zuverlässigkeit
der Diagnose ausschlaggebend sind und bisher nicht genügend thematisiert wurden.
Diagnose-Prozedere
Bei Messergebnissen der Laborparameter ist die Frage, ob die Abweichung vom diagnostischen
Grenzwert so weit oberhalb dieses Grenzwertes liegt (d. h. größer ist als die Minimal
Difference [s. u.]), dass dieser Laborwert mit Sicherheit erhöht ist. Dann würde eine
Einzelbestimmung für die Diagnose-Stellung ausreichen, insbesondere von typischen
Symptomen.
Grundsätzlich sollte aber die Diagnose auf der Basis von bestätigten Werten erfolgen.
Die Bestätigung kann erfolgen, indem derselbe Parameter zeitnah (z. B. innerhalb von
14 Tagen) in einer neuen Blutprobe analysiert wird oder indem ein anderer der oben
aufgeführten vier Konstellationen herangezogen wird.
Wird ein Parameter verwendet und dieser zur Diagnosebestätigung wiederholt, muss davon
ausgegangen werden, dass die Blutproben jeweils standardisiert „bearbeitet“ wurden.
Dies ist insbesondere bei der Plasmaglukose nicht einfach überprüfbar und häufig nicht
gewährleistet (s. u.).
Bei Grenzwerten wird eine engmaschige Betreuung des Patienten mit Wiederholung des
diagnostischen Tests nach 3 – 6 Monaten empfohlen [5]. Bei divergenten Ergebnissen zwei diagnostischer Verfahren (oberhalb und unterhalb)
des Grenzwertes sollte das Testverfahren mit dem Wert oberhalb des Grenzwertes wiederholt
werden.
Erfolgt die Diabetesdiagnose mit einer HbA1c-Messung, dann ist die Bestätigungsmessung
mit HbA1c nicht sinnvoll. Die HbA1c-Messung ist wegen einer Reihe analytischer Probleme
unzureichend reproduzierbar [8] oder es wird erneut ein „falscher“ Wert durch die gleichen patientenspezifischen
Einflussgrößen erzeugt [9]
[10]
[11]
[12]
[13].
Unabhängig davon, welche Parameter zur Diagnosestellung verwendet werden, kann das
Ergebnis durch patientenspezifische Einflussgrößen und/oder unzureichende Messgenauigkeit
fehlerhaft sein.
Plasmaglukose-Messung
Die Glukose soll in venösem Plasma gemessen werden. Nicht selten wird jedoch in Vollblut
(kapillar oder venös) oder im Serum gemessen.
Präanalytische Probleme
Diese sind praktisch sehr häufig, aber vermeidbar.
Nur die Verwendung geeigneter Blutentnahmeröhrchen (Natriumfluorid plus Citrat) hemmt
die Glykolyse in vitro vollständig. Fluorid allein ist nicht ausreichend. Die aktuell
am Markt befindlichen Blutentnahmeröhrchen mit Glykolyse-Inhibitoren weisen jedoch
weitere Probleme auf, die in [Tab. 1] aufgelistet sind. Röhrchen, die Granulat enthalten, sind etwas teurer, aber am besten
geeignet. Nach der Blutentnahme muss zur Glykolyse-Hemmung das Röhrchen sofort intensiv
(10-mal) gemischt werden. Bei den Röhrchen, die einen flüssigen Zusatz enthalten,
muss das Röhrchen exakt mit Blut gefüllt werden. Es kommt jedoch häufig zu erheblichen
Fehlern des Mischverhältnisses, die trotz des Einsatzes des Korrekturfaktors nicht
ausgeglichen werden können.
Tab. 1
Blutentnahmeröhrchen speziell zur Bestimmung der Glukose (Quelle: Nauck M, Petermann
A, Müller-Wieland D et al. Definition, Klassifikation und Diagnostik des Diabetes
Mellitus. Diabetologie 2017; 12(2): S94-S100)
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Hersteller
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Produktname
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korrekte Füllung (absolut notwendig)
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ausreichendes Mischen erforderlich
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Korrekturfaktor
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Greiner bio-one
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Vacuette®
FC-Mix
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nein
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10-mal
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nein (Granulat)
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Kabe
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Primavette®,
KABEVETTE®
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ja
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wenige Male
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1,16 (flüssiger Zusatz)
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Sarstedt
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S-Monovette
GlucoEXACT®
|
ja
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wenige Male
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1,16 (flüssiger Zusatz)
|
Bei den Röhrchen der Firma Greiner bio-one (Vacuette® FC-Mix) findet sich in den Blutentnahmeröhrchen ein Granulat. Die Röhrchen müssen
nach der Bluteinfüllung 10-mal geschwenkt werden, um eine ausreichende Lösung und
Durchmischung mit dem Glykolysehemmer zu erreichen.
Bei den Blutentnahmeröhrchen der Firma Sarstedt (S-Monovette GlucoEXACT®) und der Firma Kabe (Primavette®, KABEVETTE®) zeigt die Erfahrung, dass es durch das nicht vollständige Füllen der Röhrchen zu
Verdünnungsfehlern kommt. Das Labor muss solche Röhrchen sicher identifizieren, um
einerseits die Röhrchen erkennen zu können, die nicht entsprechend den Vorgaben der
Hersteller korrekt gefüllt sind und diese von der Analyse auszuschließen und um bei
korrekter Füllung den Verdünnungsfaktor von 1,16 zu berücksichtigen.
Alternativ können Röhrchen ohne Zusatz zur sofortigen und vollständigen Glykolyse-Hemmung
nach der Blutentnahme verwendet werden, wenn das Blut umgehend zentrifugiert wird.
Pro Stunde erfolgt sonst in einem normalen Blutentnahmeröhrchen ein temperaturabhängiger
anaerober Glukose-Abbau (ca. 0,5 mmol/Std.) mit dem Ergebnis falsch-niedriger Werte.
Wird ein Zeitfenster von 30 Minuten bis zur Zentrifugation überschritten, sollten
diese Proben wegen der ablaufenden Glykolyse verworfen werden. Nach der Zentrifugation
muss der Plasmaüberstand von den Blutzellen unmittelbar getrennt werden. Die Sicherung
der Diagnose erfolgt durch standardisierte und qualitätsgesicherte Laboruntersuchungen,
die einen niedrigen Variationskoeffizienten der Messung haben (optimal: VK 1 – 3 %).
Diese Präzision ist bei den üblichen Point-of-Care-Testsystemen (POCT) zur Selbstmessung
der Glukose nicht gegeben (VK bis zu ~ 15 %).
Kapillarblut stellt eine Mischung aus arteriellem und venösem Blut dar. Nüchtern liegt
die Glukosekonzentration im venösen Blut um 2 – 10 % niedriger im Vergleich zu Kapillarblut
[14]
[15]. Postprandial steigt die kapillar-venöse Glukosedifferenz in Abhängigkeit von der
oral aufgenommenen Kohlenhydratmenge und fällt nach 120 min wieder ab. Es gibt keine
für die Diabetesdiagnose nutzbare Korrelation zwischen kapillaren und venösen Glukosewerten;
somit soll nur venöses Plasma zur Glukosebestimmung verwendet werden.
Analytische Probleme
Die enzymatischen Testsysteme zur spezifischen Messung der Glukose sind etabliert.
Dennoch ist nach den Richtlinien der Bundesärztekammer zur Qualitätssicherung labormedizinischer
Untersuchungen (Rili-BÄK) eine zulässige relative Abweichung des Einzelwertes für
Glukose von ± 11 % (interne Qualitätskontrolle) und eine zulässige relative Abweichung
beim Ringversuch von ± 15 % (externe Qualitätskontrolle) erlaubt [16]. Diese Abweichungen sind zur Diabetesdiagnose nicht akzeptabel, zumal die meisten
Laboratorien wesentlich genauer analysieren.
Der In-vitro-Glukoseabbau kann nach venöser Blutentnahme weitgehend verhindert werden:
-
vollständige Glykolyse-Hemmung durch Verwendung von Blutentnahme-Röhrchen mit Fluorid
plus Zitrat-Zusatz
-
Plasmaglukose sofort messen
-
Blutröhrchen innerhalb von < 30 min zentrifugieren und Plasma separieren
Nüchtern-Glukose
Der Glukose-Assay ist spezifisch, einfach durchführbar, überall verfügbar (meist automatisiert)
und preiswert.
Es gibt jedoch eine Reihe von Problemen:
-
intra-individuelle biologische Schwankung von Tag zu Tag (± 5 – 14 %) [17]
[18]
-
Unsicherheit des Nüchtern-Zustandes der zu testenden Person. Der Patient muss 8 – 12
Stunden sicher nüchtern sein.
-
Tageszeitliche Schwankung. Testung daher am Morgen zwischen 8 und 9 Uhr
-
Eine Reihe von Faktoren beeinflussen akut die Plasmaglukosekonzentration (z. B. akute
Infektionen, Stress, Steroide …).
-
Die Nüchtern-Glukose ist wenig sensitiv, um einen Diabetes im Frühstadium zu entdecken.
Bei etwa einem Drittel von Menschen mit Diabetes manifestiert sich die Krankheit als
postprandiale Hyperglykämie [19] und entzieht sich somit einer Frühdiagnose bei Verwendung von Nüchtern-Glukosewerten.
Minimal Difference (MD) und Interpretation des Messwertes
Alle Labormessungen sind grundsätzlich mit Fehlern behaftet, dessen Ausmaß der Anwender
ohne zusätzliche Informationen nicht beurteilen kann [20]. Die Minimal Difference (MD) ist ein einfacher Parameter, der dem Anwender die Bedeutung
des zufälligen Fehlers von Laborwerten veranschaulicht.
Der zufällige Fehler wird quantitativ erfasst, indem die Streuung von wiederholten
Messungen beschrieben und als Variationskoeffizient (VK) angegeben wird.
Der VK berechnet sich aus Standardabweichung (SD) und Mittelwert (MW) und wird in
Prozent angegeben: VK = SD mal 100/MW.
Die Minimal Difference (MD) gibt konkrete Konzentrationen in absoluten Werten an,
d. h. ab wann sich ein Messwert mit einem Vertrauensbereich von 95 % von einem Grenzwert
unterscheidet.
Die MD berechnet sich nach folgender Formel: MD = 2-mal SD.
Bei einem Grenzwert von 100 mg/dl (5,6 mmol/l) beträgt die MD abhängig vom VK: ± 4 mg/dl
(0,2 mmol/l) für einen VK von 2 % und ± 10 mg/dl (0,6 mmol/l) bei einem VK von 5 %.
Das heißt, dass sich ein Glukosemesswert von einem Grenzwert von 100 mg/dl (5,6 mmol/l)
analytisch dann unterscheidet, wenn er – bei einem VK von 2 %: < 96 mg/dl (< 5,3 mmol/l)
bzw. > 104 mg/dl (> 5,8 mmol/l) ist. Bei einem VK von 5 % liegen diese Werte bei < 90 mg/dl
(< 5,0 mmol/l) bzw. > 110 mg/dl (> 6,1 mmol/l). Diese Streuung hat daher eine erhebliche
Bedeutung für die Diagnosestellung eines Diabetes. Um die Auswirkungen des zufälligen
Fehlers zu verdeutlichen, hat die Kommission Labordiagnostik in der Diabetologie (KLD)
der DDG und der DGKL empfohlen, die Information zur MD des entsprechenden Laboratoriums
für die Analyte Glukose und HbA1c für wichtige Cut-Off-Werte routinemäßig anzugeben
[7]
[20].
Oraler Glukosetoleranztest (oGTT; 75 g)
Der oGTT misst den Glukoseanstieg und die Eliminationsrate der Glukose aus dem Blut.
Diese wird beeinflusst von der Schnelligkeit der Magenentleerung, der intestinalen
Glukoseaufnahme ins Blut, der adäquaten Freisetzung von Insulin und dem Grad der Insulinresistenz.
Weiteren Faktoren wie mangelnde Standardisierung des Tests und Krankheiten (z. B.
Magenerkrankungen, Medikamenten, Drogen wie Alkohol) können neben einer physiologischen
Varianz das Ergebnis des oGTT beeinflussen.
Der Test wird von allen wichtigen Fachgesellschaften weltweit einschließlich WHO und
International Diabetes Federation (IDF) empfohlen und ist keineswegs wissenschaftlich
umstritten, sondern bei korrekter Durchführung und Indikation unverzichtbar für die
Hyperglykämie-Diagnostik. Die Fachgesellschaften sind sich bewusst, dass der oGTT
eine Reihe von Problemen aufweist, wie z. B. geringere Praktikabilität, etwas höhere
Kosten und eine mäßigere Reproduzierbarkeit (bis zu ± 15 %; [21]
[22]
[23]
[24]
[25]
[26]
[27]) als die Nüchtern-Glukose und das HbA1c (s. u.). Die Sensitivität zur Diabetes-Diagnostik
ist jedoch höher als die der Nüchtern-Glukose und des HbA1c. Die Reproduzierbarkeit
des 2-Std.-Wertes im oGTT kann jedoch deutlich erhöht werden, wenn der Test strikt
standardisiert durchgeführt wird ([Tab. 2]), die Probenentnahme und -verarbeitung für die Glukoseanalyse den diskutierten Richtlinien
entspricht (s. o.) und Kontraindikationen beachtet werden. Wichtig ist, dass die Blutprobe
für den 2-Std.-Wert exakt nach 120 Minuten (± 5 Min.) abgenommen wird.
Tab. 2
Durchführung des oGTT (75 g Glukose) nach WHO-Richtlinien.
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Voraussetzung
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Erläuterung
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Testdurchführung am Morgen
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-
nach 8 – 12 Stunden Nahrungs-, Nikotin- und Alkohol-Karenz
-
nach einer ≥ 3-tägigen kohlenhydratreichen Ernährung (≥ 150 g KH pro Tag)
-
im Sitzen oder Liegen (keine Muskelanstrengung); nicht rauchen vor oder während des
Tests
|
|
zum Zeitpunkt 0 Trinken von 75 g Glukose (oder äquivalenter Menge hydrolysierter Stärke)
in 250 – 300 ml Wasser; innerhalb von 5 Min. trinken
|
-
Kinder 1,75 g/kg Körpergewicht (max. 75 g)
-
Blutentnahme zu den Zeitpunkten 0 und 120 Min.
-
sachgerechte Probenentnahme, -verarbeitung und -aufbewahrung
|
|
Test kontraindiziert bei:
|
-
interkurrenten Erkrankungen
-
vorübergehende Einnahme diabetogener Medikamente
-
Stressbedingungen wie kurz nach invasiven Eingriffen, Myokardinfarkt oder Schlaganfall
-
bei Z. n. Magen-Darm-Resektion oder gastrointestinalen Erkrankungen mit veränderter
Resorption
-
bei bereits manifestem Diabetes
|
Die seit Jahrzehnten eingeführte und bewährte Fertiglösung (z. B. Dextro O.G.T.®) sollte nicht aus Kostengründen durch eine selbstgemischte Glukoselösung ersetzt
werden, weil:
-
sich Glukose-Monohydrat relativ schlecht in Wasser löst und damit die Fertigstellung
zeitaufwändig ist und Fehler bei der kompletten Lösung der exakten Menge (!) in dem
vorgegebenen Volumen (!) vorprogrammiert sind
-
damit wesentliche Gründe für eine schlechtere Reproduzierbarkeit der oGTT bestehen
und eine exakte Diagnose des Diabetes in Frage gestellt ist
-
die Bezahlung für Abwiegen und Verpackung der Glukose durch den Apotheker nicht geregelt
ist
-
der Aufwand in der Praxis in keinem Verhältnis zu den Kostenersparnissen steht (wurde
nie offiziell berechnet!)
-
Die Fertigstellung der Lösung durch den Arzt selbst, anstatt durch den Hersteller,
wird von der DDG aus haftungsrechtlichen und medizinischen Gründen nicht empfohlen.
Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass die alternativen Kriterien zur Diabetesdiagnose,
also Fastenplasmaglukose oder 2-Std.-Wert nach oGTT oder HbA1c, nicht die gleichen
Personen als Diabetespatienten identifizieren [28]
[29]
[30]
[31]
[32], was zur Über- oder Unterdiagnostik führt und epidemiologische Aussagen zumindest
unscharf macht.
HbA1c zur Diagnose einer chronischen Hyperglykämie
Die Diagnostik eines Diabetes mithilfe des glykierten Hämoglobins (HbA1c) hat relevante
Vorteile:
Vorteile von HbA1c-Bestimmungen zur Diabetesdiagnostik
-
weniger anfällig für präanalytische Fehler im Vergleich zur Plasmaglukose
-
geringere intraindividuelle biologische Variabilität
-
vernachlässigbare tageszeitliche Schwankungen
-
nüchtern: keine Voraussetzung für die Bestimmung
-
geringer Einfluss durch akuten Stress (z. B. Infektionen)
-
HbA1c reflektiert die mittlere Plasmaglukose der letzten 8 – 12 Wochen (biostatistisch!).
-
bequemer für Patient und Arzt im Vergleich zum oGTT
-
billiger in der Analytik als ein oGTT
Aus diesen Gründen haben sich Fachgesellschaften wie die ADA u. a., sowie Institutionen
wie IDF und WHO beginnend 2010 entschlossen, HbA1c als Diagnoseparameter einzuführen
[3]
[4]
[5]
[6]
[7]. Die Standardisierung der HbA1c-Assays ist zwar verpflichtend, jedoch zumindest
in Deutschland noch unzureichend umgesetzt [9].
Die HbA1c-Bestimmung ist trotz Verwendung des IFCC- Standards nicht ausreichend sensitiv
und in vielen Regionen nicht verfügbar [5]. Kürzlich konnte gezeigt werden, dass der mittlere IFCC standardisierte HbA1c-Wert
bei normalen, mäßig und stark erhöhten HbA1c-Werten um absolut 0,5 % (5,4 mmol/mol
Hb) zwischen 4 zertifizierten deutschen Laboratorien differiert [33]. Dies ist kann zu Fehldiagnosen und -entscheidungen in der Therapie führen. Nach
Rili-BÄK ist zudem eine zulässige interne Qualitätskontrolle von ± 10 % und eine zulässige
externe Qualitätskontrolle beim Ringversuch von ± 18 % erlaubt [16]. Dies bedeutet, dass ein Sollwert von 48 mmol/mol Hb (6,5 %) bei der internen Qualitätskontrolle
43,2 – 52,8 mmol/mol Hb (5,8 – 7,2 %) und bei der externen Qualitätskontrolle 39,4 – 56,6 mmol/mol
Hb (5,3 – 7,8 %) betragen kann. Daher fordert die Kommission für Labordiagnostik in
der Diabetologie (KLD) der DDG/DGKL zur Diagnose- und Therapiesicherheit von HbA1c
striktere Grenzen für die interne (± 3 %) und die externe (± 8 %) Qualitätskontrolle
einzuführen. Dies gelingt durch Verwendung von kommutablem Ringversuchsmaterial (Frischblut)
bei den Ringversuchen [9]. Richtlinien für die externe Qualitätskontrolle für HbA1c-Messung liegen in Ländern
wie USA, Niederlande, England, Schweiz bei ± 6 % und in China bei ± 8 %.
Die Analyse und Interpretation des HbA1c hat zusätzlich eine Reihe von Störfaktoren
und ist daher nur begrenzt als Instrument zur Diabetesdiagnose geeignet ([Tab. 3]).
Tab. 3
Faktoren, die zu einer Beeinflussung oder Verfälschung des HbA1c-Messwertes führen
[10]
[11]
[12].
|
„Falsch“ hohe Werte von HbA1c
|
„Falsch“ niedrige Werte von HbA1c
|
-
im Alter
-
Eisenmangel (mit und ohne Anämie)
-
Infekt- und Tumoranämie
-
Z. n. Organtransplantation
-
Z. n. Splenektomie
-
aplastische Anämie
-
terminale Niereninsuffizient (Kreatinin > 5 mg/dl; karbamyliertes HbA)
-
Hämoglobinopathien (HbH, HbF …)
-
Pharmaka (hohe Dosen ASS, Immunsuppressiva, Protease-Inhibitoren)
-
genetisch bedingte Hyperglykierung bei bestimmter ethnischer Zugehörigkeit
|
-
große Höhen (> 3000 m)
-
Folsäuremangel (Schwangerschaft)
-
hämolytische Anämie
-
Blutverlust
-
nach Bluttransfusionen
-
Pharmaka (Erythropoetin, Eisen-supplementierung)
-
verkürztes Erythrozyten-Überleben bei
-
Niereninsuffizienz, Leberzirrhose
-
ernährungsbedingt (fettreich, Alkohol)
-
Hämoglobinopathien (HbS, HbC, HbD …)
|
Insbesondere der Anstieg des HbA1c um absolut 0,5 % (5,4 mmol/mol Hb) im Alter von
30 auf > 70 Jahre kann zu einer Überdiagnostik des Diabetes im Alter führen [34].
Neben der Berücksichtigung möglicher Diskrepanzen zwischen Plasmaglukosewerten und
HbA1c sollte der HbA1c bei folgenden Menschen mit veränderter Erythrozyten-Lebensdauer
und bei Frischmanifestation eines Diabetes nicht zur Diagnose eingesetzt werden:
HbA1c ist zur Diabetes-Diagnose bei folgenden Situationen ungeeignet
-
Kinder und Jugendliche (umstritten, da ≥ 6,5 % [≥ 48 mmol/mol Hb] zu hoch)
-
Diagnostik eines Schwangerschaftsdiabetes
-
Schwangere bis 3 Monate postpartum
-
Menschen mit Verdacht auf Typ-1-Diabetes (jedes Alter)
-
Menschen mit akuten Diabetes-Symptomen
-
Prädiabetes mit akuter Stresshyperglykämie (Apoplexie, Myokardinfarkt, Trauma etc.)
-
Menschen mit Medikamenten (<ca. 2 Monate), die zu einem Blutglukoseanstieg führen
(z. B. Glukokortikoide, Psychopharmaka, Protease-Inhibitoren)
-
Z. n. Pankreasoperation, akute Pankreaserkrankung
-
HIV-Patienten
-
progrediente Niereninsuffizienz
Die Festlegung des Schwellenwerts von einem HbA1c ist sehr umstritten, denn in dem
Bereich des HbA1c von ≥ 6,5 % (≥ 48 mmol/mol Hb) ist die Spezifität des Testes zwar
hoch, aber die Sensitivität nur < 50 %. Somit werden nach den international akzeptierten
Plasmaglukose-Diagnosekriterien weniger als 50 % der untersuchten Personen als manifeste
Diabetiker eingestuft [36]
[37]
[38]. HbA1c zur Frühdiagnose eines Diabetes heranzuziehen macht bei dem genannten Schwellenwert
auch wenig Sinn, wenn die Diagnose an bereits klinisch erkennbaren Komplikationen
wie der diabetes-spezifischen Retinopathie festgemacht wird.
Daher fordert die DDG/DGIM und DGKL in einem Bereich des HbA1c von > 5,7 bis < 6,5 %
zusätzlich Plasmaglukose-Parameter (Nüchtern-Glukose und/oder 2-Std.-Wert nach oGTT)
zur Diagnostik heranzuziehen [7].
In der kürzlich erschienenen Metaanalyse von Hoyer et al. [39] fand sich ein sinnvoller Schwellenwert für die Diagnose eines Diabetes auf der Basis
eines 2-Std.-Plasmaglukosewertes von ≥ 200 mg/dl (≥ 11,1 mmol/l) für HbA1c bei 42
und 44 mmol/mol Hb (6,0 – 6,2 %) und für die Nüchtern-Plasmaglukose bei 112 – 115 mg/dl
(6,2 – 6,4 mmol/l) mit einer Sensitivität von 68,4 % (95 % CI:46,6 – 84,3 %) und 68,7 %
(95 % CI: 50,6 – 82,4 %), sowie eine Spezifität von 95,9 % (95 % CI: 85,4 – 98,9 %)
und 93,7 % (95 % CI: 78,0 – 98,4 %) für HbA1c bzw. Nüchtern-Plasmaglukose. Dass zur
Diagnose eines Diabetes inkorrekt der Cut-off des HbA1c bei ≥ 48 mmol/mol Hb (≥ 6,5 %)
festgelegt wurde, zeigt auch eine aktuelle Studie aus Schweden und Finnland mit 4
unterschiedlichen Kohorten [40]. Mit einem HbA1c-Wert von 6,5 % wurden nur 5 % der Menschen entdeckt, die auf dem
Boden von Glukose-Kriterien (Nüchtern-Plasmaglukose und/oder 2-Std.-Wert nach oGTT)
bereits als Personen mit Diabetes identifiziert wurden. Der konsentierte Diagnose-Algorithmus
der KLD trägt dieser Problematik Rechnung [7].
-
Präanalytische Probleme bei der Glukosebestimmung können durch sachgerechte Probenentnahme
(Fluorid+Zitrat-Röhrchen), -verarbeitung und -aufbewahrung vermieden werden.
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Die Berücksichtigung des zufälligen Analysefehlers (Minimal Difference) für Glukose
und HbA1c erhöht die Diagnosesicherheit.
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Nüchtern-Glukose erkennt nur in ca. 70 % einen manifesten Diabetes.
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Der oGTT ist der sensitivste Test zur Erkennung eines Diabetes.
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Die diagnostische Wertigkeit von HbA1c ist durch Präzision der Analyse und mögliche
Beeinflussung oder Verfälschung der Werte limitiert. Die Kombination aus Plasmaglukose
(nüchtern und/oder oGTT) und HbA1c ist sinnvoll, minimal invasiv und verhindert eine
Über- und Unterdiagnostik des Diabetes.