Dtsch Med Wochenschr 2005; 130(41): 2343-2346
DOI: 10.1055/s-2005-918575
Ethik in der Medizin
Medizinethik, -ökonomie
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Rationierung im schweizerischen Gesundheitswesen

Überlegungen aus ethischer SichtHealth care rationing in SwitzerlandEthical considerationsM. Zimmermann-Acklin1
  • 1Institut für Sozialethik, Universität Luzern
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eingereicht: 12.11.2004

akzeptiert: 22.7.2005

Publication Date:
18 October 2005 (online)

„Alle Gesellschaften setzen in der Gesundheitsversorgung auf die eine oder andere Weise Grenzen, faire oder unfaire” [8]. Dieser Grundsatz gilt auch für die Schweiz, auch wenn er bis Ende der neunziger Jahre aufgrund der guten wirtschaftlichen Lage, der hohen Wertschätzung der gesundheitlichen Versorgung und der Akzeptanz von hohen finanziellen Belastungen der Privathaushalte aufgrund der traditionellen Skepsis gegenüber sozialstaatlichen Ausbaumaßnahmen nicht im Vordergrund stand. Inzwischen hat sich die Situation geändert: Eine Kombination aus wirtschaftlicher Rezession, der stark zunehmenden individuellen Belastung durch Krankenkassenprämien, Selbstbehalte und Franchisen, der demographischen Entwicklung, dem medizinisch-technischen Fortschritt und nicht zuletzt der allgemeinen Infragestellung sozialstaatlicher Maßnahmen hat dazu beigetragen, dass die international bereits seit Beginn der neunziger Jahre bestehende Rationierungsdiskussion [9] nun auch in der Schweiz geführt wird.

Das Problem besteht in der Entwicklung bzw. Finanzierung der Gesundheitskosten: Seit Jahren steigen diese kontinuierlich und stärker als das Bruttoinlandprodukt an, nämlich zwischen 1960 und 2000 von 4,9 auf 10,7 % des BIP’s. Gegenwärtig liegt der Anteil bei 11,5 % (Stand 2003), und die Prognosen für das Jahr 2006 gehen bei einer jährlichen Steigerung der Gesundheitskosten um 4,1 % und der anhaltenden Konjunkturschwäche von einem BIP-Anteil zwischen 12 und 13 % aus [4-6]. Der finanzielle Druck macht sich heute besonders in zwei Bereichen bemerkbar: Zum einen stellen die jährlich steigenden Krankenkassenprämien und Eigenanteile (Franchisen, Selbstbehalte und „out of pocket”-bezahlte Leistungen wie Zahnbehandlungen) für viele private Haushalte zunehmend ein Problem dar; 2003 erhielten ein Drittel der Wohnbevölkerung bzw. 41 % der Schweizer Haushalte Prämienentlastungen [4]. Zum andern stehen die für die Gesundheitspolitik verantwortlichen Kantone vor der Aufgabe, die seit einigen Jahren signifikant steigenden Krankenhauskosten, für deren Finanzierung aus allgemeinen Steuermitteln sie etwa zur Hälfte zuständig sind, zu Lasten anderer Posten im Kantonsbudget wie Bildung oder Kultur aufkommen zu müssen.

Als Gegenmaßnahmen werden drei Varianten diskutiert: 1. die Rationalisierung oder Effizienzsteigerung im Rahmen der bestehenden Versorgung, 2. eine weitere Erhöhung der finanziellen Mittel, und 3. die Rationierung oder Einschränkung der im Bereich der Grundversorgung solidarisch finanzierten Leistungen. Erster Vorschlag: Der effizientere Einsatz der vorhandenen Mittel beispielsweise durch Elimination von Doppelspurigkeiten im Versorgungssystem ist auch aus Gerechtigkeitsperspektive grundsätzlich zu begrüßen. Das gilt ebenfalls für die im gleichen Sinne vorgeschlagene Stärkung von Anreizstrukturen, wie dies gegenwärtig beispielsweise im Rahmen von Managed Care unternommen wird 10. Ob sich die Finanzierungsprobleme alleine auf diesem Weg lösen lassen, ist hingegen fraglich, da Rationalisierungspotentiale nur einmalig ausgeschöpft werden können, die Kosten jedoch kontinuierlich und insbesondere aufgrund der demographischen Entwicklung, des technischen Fortschritts und der Ausweitung des Sozialprodukts steigen. Ähnliches gilt auch bezüglich der Stärkung von Anreizstrukturen wie Managed Care: Auch wenn die Etablierung von Ärztenetzwerken mit Budgetverantwortung die Kosten zunächst reduziert, wird diese vermutlich auf Dauer - wie Erfahrungen in den USA zeigen - zu einer Ökonomisierung und damit Ausweitung des Gesundheitsmarktes beitragen. Ein Wachstum des Gesundheitsmarktes ist zwar nicht in sich problematisch, verstärkt jedoch die Herausforderung, den ebenfalls wachsenden Bereich der gesundheitlichen Grundversorgung für alle solidarisch zu finanzieren.

Der zweite Vorschlag, die Mittel für die gesundheitliche Versorgung beispielsweise durch einen Ausbau der Prämienentlastungen oder die Erhöhung der kantonalen Gesundheitsbudgets auszuweiten, müsste entweder auf Kosten anderer staatlicher Aufgaben durchgeführt werden (Problem der Opportunitätskosten) oder dürfte aufgrund der gegenwärtigen Skepsis gegenüber dem Ausbau von Umverteilungsmaßnahmen von Reich nach Arm politisch schwierig zu realisieren sein.

Der dritte Vorschlag der Rationierung von Leistungen macht neben der Bestimmung von Rationierungskriterien (medizinische, ökonomische, soziale oder andere Kriterien) eine Einigung sowohl über das Vorgehen (implizite oder explizite, verdeckte oder offene Rationierung) als auch - in Abhängigkeit zum Vorgehen - von Steuerungsmaßnahmen nötig (wie Budgetierung, Standardisierung oder Priorisierung von Behandlungen). Auch hier bleibt die Frage nach der Durchführbarkeit und insbesondere nach den potenziellen Folgen für die unmittelbar Betroffenen, die Arzt-Patient-Beziehung und den Forschungsplatz Schweiz zu klären.

Aus ethischer Sicht stehen Fragen der Verteilungsgerechtigkeit im Zentrum. Im Unterschied zu vielen anderen Gütern nimmt die Gesundheit dabei eine besondere Stellung ein, insofern ihr als einem transzendentalen Gut Ermöglichungscharakter zukommt: Sie ermöglicht die Verwirklichung anderer Güter, die wir im Leben erreichen möchten [14]. N. Daniels hat im Anschluss an die vertragstheoretischen Überlegungen von J. Rawls zur gerechten Verteilung grundlegender Güter in einer Gesellschaft die These begründet, dass ein für alle gleichermaßen geregelter Zugang zur Gesundheitsversorgung und eine gerechte Verteilung der knappen medizinischen Ressourcen die Grundbedingung zur Herstellung von Chancengleichheit in der Gesellschaft seien [7].

kurzgefasst: Als Maßnahmen zur Finanzierung der Gesundheitskosten werden die Rationalisierung, die Erhöhung der finanziellen Mittel und die Rationierung bzw. Einschränkungen im Bereich der solidarisch finanzierten Grundversorgung diskutiert. Aus ethischer Sicht ist die Bedeutung der gesundheitlichen Versorgung zur Wahrung der Chancengleichheit in der Gesellschaft hervorzuheben.

Literatur

  • 1 Abrahamsen Y, Hartwig J, Schips B. Empirische Analyse des Gesundheitssystems Schweiz. Zürich 2005
  • 2 Ärztinnen für Solidarität im Schweizerischen Gesundheitswesen . Gesundheit ist keine Ware.  Schweiz Ärztez. 2002;  83 2235
  • 3 Bisig B, Gutzwiller F. Gesundheitswesen Schweiz: Gibt es Unter- oder Überversorgung? - Band 1: Gesamtübersicht. Zürich 2004
  • 4 Bundesamt für Gesundheit .Statistik zur obligatorischen Krankenversicherung 2003,. Bern 2005
  • 5 Bundesamt für Statistik .Gesundheitskosten in der Schweiz zwischen 1960 und 2000 (StatSanté 1/2003),. Bern 2003
  • 6 Bundesamt für Statistik .Resultate zu den Gesundheitsstatistiken in der Schweiz Finanzströme im schweizerischen Gesundheitswesen (StatSanté 2/2002),. Bern 2002
  • 7 Daniels N. Just Health Care,. Cambridge 1985
  • 8 Daniels N, Sabin J. Setting Limits Fairly. Can We Learn To Share Medical Resources?. Oxford/New York 2002
  • 9 Ham C, Robert G. Reasonable Rationing. International Experience of Priority Setting in Health Care. Maidenhead/Philadelphia 2003
  • 10 Huber F. Verteilungsgerechtigkeit und Budget-Verantwortung in Ärztenetzwerken.  Schweiz Ärztez. 2004;  85 1836-1840
  • 11 Jacobs L, Marmor T, Oberlander J. The Oregon Health Plan and the Political Paradox of Rationing: What Advocates and Critics Have Claimed and What Oregon Did.  J of Health Politics, Policy and Law. 1999;  24 161-180
  • 12 Arbeitsgruppe „Faire Mittelverteilung im Gesundheitswesen“. Manifest für eine faire Mittelverteilung. Mit 15 Diskussionsbeiträgen.  Schweiz Ärztez. 1999;  80 2635-2671
  • 13 Marckmann G. Gesundheitspolitik und Ethik. Aktuelle Problemfelder und Schlüsselbegriffe, Ms., 2004
  • 14 Marckmann G. Verteilungsgerechtigkeit in der Gesundheitsversorgung,. Frankfurt a. M in: Düwell M, Steigleder K, Hg.: Bioethik. Eine Einführung 2003: 333-343
  • 15 Sommer J H. Muddling Through Elegantly: Rationierung im Gesundheitswesen. Basel 2001
  • 16 Ubel P A. Pricing Life. Why It’s Time for Health Care Rationing. Cambridge/London 2000
  • 17 Becker G, Blum H E. „Medical Futility“: Der Arzt im Spannungsfeld von Behandlungsauftrag und Behandlungsbegrenzung.  Dtsch Med Wochenschr. 2004;  129 1694

Dr. Markus Zimmermann-Acklin

Lehr- und Forschungsbeauftragter, Institut für Sozialethik, Universität Luzern

Gibraltarstr. 3

Postfach 7763

CH-6000 Luzern 7

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