Dtsch Med Wochenschr 2004; 129(51/52): 2777-2779
DOI: 10.1055/s-2004-836111
Weihnachtsheft

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Scaevolas rechte Hand oder die Rechnung vom ewigen Leben

The right hand of Scaevola, or how to calculate perpetual lifeM. Middeke
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Publication Date:
16 December 2004 (online)

Gesundheit ist in unserer säkularen und hedonistischen Gesellschaft längst zur Ersatzreligion geworden. Die logische Konsequenz ist die „anti-aging”-Bewegung mit dem in sich unsinnigen Ansinnen, das Altern, und damit letztlich auch den Tod aufhalten, oder gar überwinden zu wollen. Hormone werden wie Hostien ausgeteilt. Krankheit ist schlecht und Tod darf nicht sein. Altern ist aber keine Krankheit. Die Sinnfrage wird heute nicht mehr gestellt, wenn es darum geht, immer, bei jedem und in jedem Alter das volle Instrumentarium der modernen Medizin einzusetzen.

„Der Spaß eines Menschen Leben um einige Jahre zu verlängern, ist nur Spaß, der Ernst ist: selig zu sterben” schreibt Sören Kirkegaard. Der Tod als Erfüllung des Lebens, und für manche auch nach wie vor in der Gewissheit, dass es damit nicht zu Ende ist? Ist das noch zeitgemäß? Die Frage aller Fragen, ob es nach unserem irdischen Tod ein Weiterleben gibt, wird auch regelmäßig in unseren DMW Lebensbildern gestellt: „Glauben Sie an ein Leben nach dem Tod?”. Mit ganz wenigen Ausnahmen wird sie auch beantwortet; und meistens positiv. Dabei glauben die wenigsten wohl an eine Auferstehung von Leib und Seele im biblischen Sinne. Ein Weiterleben in Gedanken, Worten und Werken haben wir durch unser irdisches Bemühen selbst in der Hand. Insbesondere Künstler und Wissenschaftler können sich mit ihrem nichtgenetischen Erbe Unsterblichkeit verschaffen. Ein Weiterleben in den Genen der Nachkommen ist insbesondere für Mediziner eine gut nachvollziehbare Vorstellung. Dass aber auch unser gestorbener Leib, nach der systemischen Apoptose, wieder Eingang in den irdischen und universellen Kreislauf findet, ist eher den Chemikern vertraut. Hierzu hat mir mein väterlicher Freund Prof. Walter S. Souci (Abb. [1]) (1904 - 1992) Anfang der 1970er Jahre eine interessante Modellrechnung überreicht. Souci war von 1947-1968 Direktor der Deutschen Forschungsanstalt für Lebensmittelchemie in München. Er hat die Aussage des niederländischen Physikers Peter Debye (Abb. [2]) (1884 - 1966), dass sich in einer Hand jedes Menschen 1000 Moleküle aus der verbrannten Hand des Gaius Mucius Scaevola stammen, überprüft. Debye erhielt 1936 den Nobelpreis für Chemie für seine Studien zu Molekülstrukturen und Dipolmomenten. Debye war Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Physik in Berlin und zuvor Professor für Experimentalphysik u.a. an der Universität Leipzig. 1940 verließ er Deutschland auf Druck des Nazi-Regimes und ging in die USA. In einem Vortrag vom 9. Dezember 1937 hatte Debye die Aussage zu Scaevolas Hand vorgetragen. Wer war Gaius Mucius Scaevola?

Abb. 1 Walter S. Souci (1904 - 1992). (Foto: M. Middeke).

Abb. 2 Peter Debye (1884 - 1966). Quelle: www.nobelpreis.org).

Abb. 3 Gaius Mucius hält seine rechte Hand ins Feuer. Links: oben Tiepolo, unten Le Brun, rechts: Rubens.

Abb. 4 Scaevolas Hand. Berechnung von W. Souci 1969. (Quelle: M. Middeke).

Dieser Gaius Mucius ist zum römischen Helden geworden, weil es ihm gelang, die Belagerung Roms 133 v. Chr. durch den Etruskerkönig Lars Porsenna zu beenden. Porsenna lag mit seinem Heer vor den Toren Roms und wollte die Stadt aushungern. Als die Lage immer kritischer wurde, entschloss sich der junge Römer Gaius Mucius, auf eigene Faust Porsenna zu töten. Er schlich sich über den Tiber in Porsennas Lager. Porsenna und sein Schreiber waren bei der Auszahlung der Soldaten. Der Legende nach waren die beiden ähnlich (reich) gekleidet, und Gaius Mucius konnte natürlich nicht fragen, wer von beiden der König sei, ohne sich als Fremder zu entlarven. Er zückte sein im Gewand verstecktes Schwert und tötete den Mann, der die Münzen an die Soldaten auszahlte. Es war die rechte Hand des Königs, sein Schreiber, also der Falsche. Gaius Mucius wurde festgenommen. Er bekannte sich zur Tat und versicherte Porsenna, dass noch viele Römer bereit ständen, um ihn zu töten. Um seine Entschlossenheit und Unerschrockenheit auch vor physischem Leid zu demonstrieren, hielt Gaius Mucius seine rechte Hand in ein Feuer auf einem Altar neben ihm. Porsenna war sehr beeindruckt von seinem Mut. Er ließ ihn frei, und zurück nach Rom ziehen. Angesichts der offensichtlichen Entschlossenheit der Römer nahm er die Verhandlungen mit ihnen auf und beendete die Belagerung. Gaius Mucius wurde von nun an Scaevola (Linkshand) genannt.

Diese Heldentat hat Maler wie Rubens, Tiepolo, Le Brun und andere inspiriert (Abb. [3]).

Wie viele Moleküle sich in Scaevolas rechter Hand befanden, und in den ewigen Kreislauf eingegangen sind, nachdem die Hand verbrannte, interessierte aus welchem Grund auch immer den Physiker Debye. Walter Soucis „Nachrechnung” (Abb. [4]) kommt zu dem Ergebnis, dass (heute) 1510 Moleküle in jeder Hand eines Menschen aus der Hand des Gaius Mucius Scaevola stammen. Ist das viel oder wenig? Ist das tröstlich oder beängstigend? Nehmen wir die Rechnung, ob sie nun tatsächlich so stimmt oder nicht, als ein Symbol für unsere - auch irdische - Unvergänglichkeit. Wahrscheinlich ist der Himmel doch auf Erden. Jedenfalls können wir alle dazu beitragen, dass es nicht die Hölle ist. Dafür lege ich meine Hand ins Feuer!

Professor Dr. med. Martin Middeke

DMW Chefredaktion

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