Dtsch Med Wochenschr 2004; 129(8): 396-397
DOI: 10.1055/s-2004-819900
Leserbriefe

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Aktuelle Fragen des Off-Label-Use

Zum Beitrag aus DMW 41/2003
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Publication Date:
11 February 2004 (online)

Die indikationsbegrenzte Zulassung von neuen Medikamenten unterliegt strengen arzneimittelrechtlichen Standards, zu denen der wissenschaftliche Nachweis der Wirksamkeit und Unbedenklichkeit (Nutzen-Risiko-Verhältnis) gehört, der meistens in Form randomisierter placebokontrollierter (Phase III-) Studien geführt wird. Dieses Verfahren ist aus ethischen Gründen und aus haftungsrechtlichen Erwägungen prinzipiell unverzichtbar. Nur die Therapie mit einem für (eine) bestimmte Erkrankung(en) zugelassenen Arzneimittel muss von den Krankenkassen bezahlt werden. So lautet die gute Regel. Gleichwohl besteht unter bestimmten Voraussetzungen eine Erstattungspflicht auch für den so genannten „Off-Label-Use“, also den indikationsfremden Einsatz anderweitig zugelassener Medikamente.

C. Dierks und G. Nitz, von Beruf Medizinrechtler und Rechtsanwälte, haben sich dieses besonders in Zeiten der Resourcenverknappung ungemein wichtigen Themas angenommen und die aktuellen (gelösten und ungelösten) Probleme der „Off-Label-Therapie“ beleuchtet [1]. Einige ergänzende, pointierte und kritische Kommentare aus ärztlicher Sicht seien gestattet.

I. Der 8. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) knüpft die indikationsfremde Verordnung zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung an drei Bedingungen: 1. das Vorliegen einer gravierenden Erkrankung, 2. das Fehlen einer (zugelassenen) Therapiealternative und 3. die, basierend auf der Datenlage, begründete Aussicht auf einen Behandlungserfolg kurativer oder palliativer Natur. (Urteil vom 30.09.1990. AZ: B 8 KN 9/98 KR R; und Urteil vom 19.03. 2002. AZ: B 1 KR 37/00 R).

In der praktischen Argumentation gegenüber den Krankenkassen bzw. dem medizinischen Dienst (MDK) wird nach unserer Erfahrung vor allem die dritte Bedingung, nämlich der notwendige Grad wissenschaftlicher Evidenz, zum Zankapfel und zum entscheidenden Ablehnungsgrund. Die beiden Autoren sehen das vermutlich auch so, denn sie widmen diesem Problem den größten Raum. Für die Mehrzahl der beantragten Off-Label-Verordnungen liegt eine zulassungsrelevante Evidenz aus Phase-III-Studien nicht vor. Ungeachtet dessen würdigt das BSG einen solchen unabgeschlossenen und präliminären Forschungsstatus mit dem Hinweis, „eine Verordnung zu Lasten der Krankenkassen (sei) auch dort möglich..., wo außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse veröffentlicht sind, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen gestatten und aufgrund deren in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen“ bestehe (Pressemitteilung Nr. 16/02 BSG). Was aber ist eine ausreichende Datenlage unterhalb der Zulassungsschwelle? Das finale Votum liegt offenbar im Expertenkonsens.

Wir haben uns, angeregt durch einen eigenen Fall, in einer kurzen Notiz zu diesem Problem geäußert [2] und kommen zu ähnlichen Schlussfolgerungen wie die Autoren:

An die Wirksamkeitsbelege von Off-Label-Medikamenten sind geringere Anforderungen - nämlich im Allgemeinen solche unterhalb der Zulassungschwelle - zu stellen. Wobei es schwierig ist, allgemeine Kriterien für die erforderliche Datenqualität festzulegen. Deshalb sollte die Beurteilung dieser Frage in jedem Einzelfall durch ein Gremium von ausgewiesenen Fachleuten erfolgen, das eine zusätzliche oder vorangehende Stellungnahme des MDK (von den Krankenkassen in der Erstbeurteilung beratend eingeschaltet) ersetzt und in letzter Konsequenz überflüssig macht.

Wenn der Expertenkonsens an die Stelle des MDK-Gutachtens tritt - wie wir es vorschlagen und die Autoren es als Option andeuten - wird das nicht selten langwierige Entscheidungsverfahren im Interesse des Patienten beträchtlich vereinfacht und verkürzt. Verständlich, dass dies nicht die Meinung des MDK ist. Man sollte trotzdem darüber nachdenken und es auch in der neugegründeten „Expertengruppe Off-Label“ nicht bei diplomatischen Wendungen belassen.

II. Die Zulassung - der „Label“ - umfasst im einfachsten Fall die gesamte Krankheitseinheit ohne weitere Spezifizierung (pulmonale Hypertonie, erektile Dysfunktion, atopische Dermatitis, bakterielle Pneumonie o.ä). Hier ist die Grenze zum „Off-Label“ von vornherein klar markiert. Gelegentlich allerdings wird die Zulassung auf gewisse klinische Besonderheiten der Erkrankungsverlaufs (Schweregrad, Allgemeinzustand des Patienten, Altersgruppe etc.) eingeengt, sodass am Ende das Abweichen von einer als Empfehlung gewerteten Aussage in der Fachinformation (z. B. „ nur bei Patienten in gutem Allgemeinzustand“, Dosierungsrichtlinien) als zulassungsüberschreitend gedeutet wird und eine Regresspflicht begründet. Diese juristische Grauzone, die einer mehr oder weniger rigorosen und oft als willkürlich empfundenen Interpretation durch die Krankenkassen offensteht, lässt ganz gewiss viele Ärzte vor dem finanziellen „Wagnis“ einer solchen Therapie zurückschrecken. Deshalb regen die Autoren an, die Definition des „Off-Label-Use“ auf die Erkrankung im Sinne einer nosologischen Einheit zu beschränken und die therapeutischen Details dem Entscheidungsvermögen des behandelnden Arztes zu überlassen.

Diesem Vorschlag ist grundsätzlich beizupflichten. Wird er in die Tat umgesetzt, könnte eine beträchtliche Anzahl von Studien, die sich lediglich um die Erweiterung der Zulassung von der leichten und mäßigen auf die schwere Form einer Erkrankung bemühen, vom Tisch der Gutachter und aus der Literatur verschwinden. Die pharmazeutische Industrie spart Geld, um es in sinnvolleren Projekten einzusetzen.

III. Die regulierende Funktion der Krankenkassen bei einer geplanten Off-Label-Therapie wird mit der zusammenfassenden Aussage „Krankenkassen dürfen Off-Label-Verordnungen nicht genehmigen“ (S. 2142) sinnentstellend wiedergegeben. Ohne Kenntnis des von den Autoren zutreffend geschilderten rechtlichen Hintergrundes suggeriert dieser Satz eine juristische Zwangslage, die die Kasse zur Ablehnung geradezu verpflichte. Sie darf eine Off-Label-Therapie eben aber auch nicht verbieten. Der Akzent liegt auf ihrer juristischen Unzuständigkeit in dieser Frage. Entscheidungsbefugt und medizinisch verantwortlich ist allein der behandelnde Arzt. Dennoch muss (nicht, wie es im Text heißt: „kann“) er eine verbindliche Kostenübernahme durch die Kasse anstreben oder gegebenenfalls sozialrechtlich einklagen, um zu verhindern, dass die häufig sehr teuren Medikamente von ihm selbst (z. B. per Regress) oder vom Patienten bezahlt werden. Kurz und ganz ohne Rabulistik: Beantragt wird nur die Kostenübernahme, nicht die Zustimmung zur geplanten Therapie. Wie die Finanzlage der meisten Patienten aber nun einmal ist, kommt die Zustimmung der Kasse zur Kostenerstattung einer Genehmigung gleich.

Damit nicht genug. Selbst im Falle, dass diese wohlverstandene „Genehmigung“ erteilt wurde, entsteht aufgrund der Budgetierung ambulanter und stationärer Leistungen ein weiteres Problem. Die Frage lautet nämlich, ob der niedergelassene Arzt, der die Off-Label-Therapie intiiert hat oder - wenn sie im Krankenhaus begonnen wurde - sie fortsetzt, dies im Rahmen seiner Budgetgrenzen tun muss oder nicht. Wenn ja, geht es nur zu Lasten seiner anderen Patienten. So wird früher oder später seine Bereitschaft sinken, überhaupt derartige Behandlungen zu übernehmen. Aus diesem Grunde wäre ein Agreement günstig, das es erlaubt, kostspielige Therapien außerhalb der zugelassenen Indikationen auch außerhalb des Budgets zu stellen. Der Vorschlag lautet also formelhaft: „Off-Label“ = „Off-Budget“.

Literatur

  • 1 Dierks C, Nitz G. Aktuelle Fragen des Off-Label-Use.  Dtsch Med Wochenschr. 2003;  128 2138-2142
  • 2 Waßermann K. Editorial. Die „Off-Label“-Therapie der pulmonalarteriellen Hypertonie, zum Beispiel. Ein Vorschlag zur Güte.  Atemw-Lungenkrkh. 2003;  29 1-4

Priv.-Doz. Dr. Klaus Waßermann
Dr. Stephan Rosenkranz
Prof. Dr. Erland Erdmann

Klinik III für Innere Medizin der Universität zu Köln, Kardiologie - Pneumologie - Angiologie

Joseph-Stelzmann-Straße 9

50924 Köln

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