Dtsch Med Wochenschr 2002; 127(49): 2636-2637
DOI: 10.1055/s-2002-35930-2
Leserbriefe
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Lektinbezogene Mistelanwendung: experimentelle Therapieform mit präklinisch belegtem Risikopotenzial - Erwiderung

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Publikationsdatum:
29. April 2004 (online)

Dr. J. J. Kuehn aus der anthroposophischen Lukasklinik in Arlesheim ist den Lesern der DMW aufgrund einer Kasuistik und des sich daran anschließenden Meinungsaustausches um den Stellenwert einer Misteltherapie bei Lymphomen bekannt [4]. Wie im Rahmen dieses Briefwechsels von C. A. Pierach vermerkt [4], ist „Kuehns Begeisterung für die Behandlung eines Non-Hodgkin-Lymphoms mit einem Mistelpräparat deutlich spürbar. Allerdings habe ich erhebliche Zweifel an der Beweisführung und Schlussfolgerung“. Nach Analyse des Leserbriefes von Kuehn zu unserem Kommentar [1] kommen wir zu einer ähnlichen Einschätzung. Diese möchten wir Punkt für Punkt wie folgt begründen:

1. Grundsätzlich fehlende Aktualität und Einseitigkeit in [1]? Tatsächlich sind jedoch vier der Zitate in den Jahren 2000 und 2001 publizierte Originalarbeiten (Zitate 4, 8, 16, 22, darunter die Daten einer EORTC-Studie zur Iscador-Behandlung von Melanompatienten (Zitat 4 in [1]). Sie haben die Diskussion um das Risikopotenzial jüngst um neue Argumente bereichert. Ferner stammen zwei Zitate von anthroposophischen Autoren, besonders die Grundlagenarbeit von R. Leroi (Zitate 14, 18). Ein weiteres Zitat ist dem medizinhistorischen Hintergrund (Zitat 1) gewidmet und eines berücksichtigt den Standpunkt eines anthroposophischen Herstellers (Zitat 20). Somit erscheinen uns Aktualität und Pluralismus gebührend beachtet.

2. Wiedergabe der Daten der zitierten Referenz (9): hier macht Kuehn unvollständige Angaben. Abb. 6c und Abb. 7 belegen Temperaturerhöhung bzw. Änderung immunologischer Parameter nach subkutaner Injektion von Iscador®-Präparationen im Falle von vier Probanden bzw. 17 Patientinnen mit Brustkrebs. Weitere relevante Daten zu immunologischen Veränderungen nach subkutaner Injektion finden sich u. a. in [2] (siehe auch 4.). Diese Publikation ist - wie auch die in unserem Kommentar [1] genannten Arbeiten 9, 10 - aus der Kooperation mit dem Immunologie-Labor des Vereins für Krebsforschung (Arlesheim) hervorgegangen. Sind Kuehns Zweifel an einer Temperaturerhöhung durch subkutane Injektion berechtigt? Wir verweisen beispielhaft auf die Anwendungsrichtlinien von Iscador® und Helixor®: „Die optimale individuelle Dosis ist am Auftreten mindestens einer der folgenden Reaktionen zu erkennen: Eine Temperaturreaktion in Form einer leichten Steigerung der Körpertemperatur wenige Stunden nach der Injektion, einer Wiederherstellung der physiologischen Morgen-/Abend-Differenz von mindestens 0,5 °C oder eines Anstiegs des mittleren Temperaturniveaus unter der Behandlung“ (Iscador ®). „Eine leichte lokale Entzündungsreaktion von 1-5 cm Durchmesser an der Injektionsstelle und ein Temperaturanstieg von 0,5-1 °C sind Ausdruck der gewünschten Immunstimulation“ (Helixor ®).

Die vermehrte Freisetzung von Interleukin-6 (IL-6) durch Lektin und durch lektinbezogen angewendete Extrakte ist u. a. in einem Hautmodell (skin) experimentell gesichert [3]. Die Autoren schlussfolgern im letzten Absatz ihrer Arbeit (S. 653): „Given by the subcutaneous route, at least, our data lead us to assume that the standardized preparation is able to produce stimulation of cytokine release which is reproducible from batch to batch... All these effects could contribute towards clinical efficacy in cancer patients“ („zumindestens bei subkutaner Verabreichung geben unsere Daten Anlaß anzunehmen, dass die standardisierte Zubereiung eine Zytokinfreisetzung stimulieren kann, die von Charge zu Charge reproduzierbar ist... Alle diese Wirkungen könnten zu klinischer Wirksamkeit bei Tumorpatienten führen“. Übersetzung durch Gabius) [3]. Gleichsinnig illustriert D. Schlodder seine Arbeit über Helixor® mit einem Flussdiagramm, wonach Freisetzung u. a. von IL-6 und Temperaturerhöhung integrale Bestandteile einer von Herstellerseite postulierten therapeutischen Wirksamkeit der Mistelanwendung sein sollen (Zitat 20 in [1]). Gleiches gilt z. B. für Tumornekrosefaktor-α (TNF-α). Wir haben in Tab. 1 bewusst Arbeiten aufgelistet, die in vivo Effekte beschreiben, also den Netzwerkeffekt berücksichtigen. Abb. 6 (in 10; zitiert in [1]) belegt die Steigerung der IL-6/TNF-α-Serumspiegel in Tumorpatienten unter lektinbezogener Extraktanwendung. Zur Problematik der Zytokinwirkungen nimmt eine aktuelle Übersicht in ihrer Zusammenfassung wie folgt Stellung: „Under some circumstances, endogenous cytokines may orchestrate host responses against the tumour, but there is increasing evidence that the cytokine network contributes to tumour growth, progression and host immuno-suppression“ („Unter gewissen Umständen mögen endogene Zytokine an der Tumorabwehr beteiligt sein. Es gibt hingegen wachsende Evidenz dafür, dass das Zytokinnetzwerk zur Tumorwachstum, zur Progression und Immunsuppression beiträgt“. Übersetzung durch Gabius) [5]. Es ist uns daher ein Anliegen hervorzuheben, dass „das Wirkungsspektrum der lektinbezogenen Misteltherapie beim individuellen Patienten aus unserer Sicht zur Zeit weder von Mistelforschern, Klinikern noch Herstellern verlässlich vorhergesagt werden kann.“ [1].

3. Das Lektin der Mistel ist, vergleichbar dem Rizin, ein hochpotentes Gift. Ist der Lektingehalt der getesteten Extrakte hoch, wie Dr. Kuehn schreibt, so werden menschliche Zellen ohne Zelltypselektivität abgetötet. Immunmodulatorische Wirkungen im Niedrigdosisbereich müssen sauber von der Toxizität des Lektins bei hoher Dosierung getrennt werden. Unser Artikel behandelt Mistelanwendung mit immunmodulatorischer Lektindosierung. 4. Die Erhöhung der Verfügbarkeit von Zytokinen durch Lektin (s. o.) berechtigt dazu, ihre Ambivalenz zu beleuchten. Bezüglich der Äquivalenz von Lektin- und Extraktwirkungen für gemessene Immunparameter verweisen wir auf die grundlegende Arbeit 9 in 1 sowie beispielhaft auf oben gegebenes Zitat 3. Wirkstoffbezogene Extraktentwicklungen wie Iscador® Spezial, Eurixor® oder Lekinol® belegen die Bedeutung, die dem Lektin als immunaktive Substanz - auch von anthroposophischer Seite - zugeschrieben wird. Die in 1 von uns aufgeführten präklinischen Befunde zur lektinabhängigen Tumorstimulation sollten nicht leichtfertig abgewertet werden. Die zitierte EORTC-Melanomstudie (Zitat 4 in 1) beschreibt zudem, dass bei Patienten mit positiven Lymphknoten, die mit Mistelextrakt behandelt wurden, die Zeit des krankheitsfreien Intervalls und die Gesamtüberlebenszeit gesenkt wurden. Für diese Patientengruppe kommen die Autoren zu folgendem Schluss: „treatment with Iscador may accelerate and alter the course of the disease“ („Behandlung mit Iscador® könnte den Krankheitsverlauf beschleunigen und ändern“. Übersetzung durch Gabius) (Zitat 4 in 1). Dr. Kuehn hingegen schreibt am Ende seines Leserbriefes: „Von präklinischen Belegen für ein Risikopotenzial kann ebensowenig wie von einer potenziellen klinischen Gefahr die Rede sein“. 5. Die eben genannte Studie erfüllt den Maßstab der klinischen Erfahrung, den Dr. Kuehn zur Beurteilung von Nutzen-Risiko-Abwägung benennt. Ihr Resultat darf nicht ignoriert werden. Ferner geben wir zu bedenken, dass Dr. Kuehn von „Lymphomen“ und „reproduzierbaren Teilremissionen“ spricht. Die von ihm als Beleg hierfür zitierte Arbeit (Zitat 6 in 4; 4) enthält jedoch ausschließlich die Kasuistik eines 44jährigen Patienten mit follikulärem Non-Hodgkin-Lymphom. 6. (Lektinbezogene) Misteltherapie: Nutzen? Risiken? Die Datenlage („Realität“) wird selbst von Anbieterseite keineswegs einheitlich beurteilt. Den Vorsichtsmaßnahmen bei Lektinol ®-Anwendung ist u. a. für Lymphome zu entnehmen, dass „engmaschige Kontrolle“ erfolgen sollte, „da hierzu noch keine ausreichenden klinischen Daten vorliegen.“ Aus unserer Sicht soll demnach die bis dato fehlende klinische Erfahrung durch unkontrollierte Anwendung dieser experimentellen Therapieform, d. h. außerhalb kontrollierter klinischer Studien, nach der Markteinführung gewonnen werden - mit ungewissem Ausgang (s. auch 2., letzter Satz).

Die von uns in [1] publizierte Argumentation ist somit relevant für die bestehende Möglichkeit zu unkontrollierter Anwendung der lektinbezogenen Misteltherapie, die ethische Beurteilung der Planung kontrollierter Studien und die Information der Patienten.

Literatur

  • 1 Gabius S, Gabius H -J. Lektinbezogene Mistelanwendung: experimentelle Therapieform mit präklinisch belegtem Risikopotenzial.  Dtsch med Wochenschr. 2002;  127 457-459
  • 2 Hajto T, Hostanska K, Gabius H -J. Zytokine als Lektin-induzierte Mediatoren in der Misteltherapie.  Therapeutikon. 1990;  4 136-145
  • 3 Joller P W, Menrad J M, Schwarz T, Pfüller U, Parnham M J, Weyhenmeyer R, Lentzen H. Stimulation of cytokine production via a special standardized mistletoe preparation in an in vitro human skin bioassay.  Arzneim-Forsch/Drug Res. 1996;  46 649-653
  • 4 Kuehn J J. Langfristig guter Verlauf unter Misteltherapie bei einem Patienten mit einem zentroblastisch-zentrozytischen Non-Hodgkin-Lymphom. ; Leserbriefe und Erwiderung. Dtsch med Wochenschr 2000; 125: 958 - 960.  Dtsch med Wochenschr. 1999;  124 1414-1418
  • 5 Wilson J, Balkwill F. The role of cytokines in the epithelial cancer microenvironment.  Sem Cancer Biol. 2002;  12 113-120

Autorin

Dr. med. Sigrun Gabius

Ärztin für Innere Medizin, Hämatologie/Internistische Onkologie, Onkologische Schwerpunktpraxis

Sternstraße 12

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