Fortschr Neurol Psychiatr 2016; 84(01): 11-12
DOI: 10.1055/s-0042-101756
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Es „droht“ eine neue Nomenklatur für funktionelle Störungen

A New Nomenclature for Functional Disorders is on Demand
M. Dieterich
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Publikationsdatum:
15. Februar 2016 (online)

Den diesjährigen Jahresrückblick in den Fortschritten Neurologie und Psychiatrie möchte ich nutzen, um auf eine aktuelle Entwicklung aufmerksam zu machen, die für uns alle auf dem Gebiet zwischen Neurologie und Psychiatrie von Bedeutung sein wird.

Uns „droht“ eine neue Nomenklatur im Grenzgebiet von Neurologie und Psychiatrie, an die sich Psychiater und Neurologen gewöhnen müssen. Sie betrifft die Gruppe der funktionellen Erkrankungen. Die älteren Kollegen in der Psychiatrie und Neurologie erinnern sich noch an die Bezeichnung „funktionell“ oder psychogen, die vor 30 Jahren in einem klar dichotomen Denken organische von nicht-organischen Störungen unterscheiden sollte. Diese Begriffe wurden im Verlauf der Jahre abgelöst durch „psychosomatisch“ und „somatoform“, Begriffe die in Deutschland sogar in Berufsbezeichnungen und Namen von Kliniken und Lehrstühlen einflossen, im anglo-amerikanischen Raum jedoch nie so recht Fuß fassen konnten. Mit dieser Ordnung in somatoforme Störungen waren wir in Deutschland ganz zufrieden, bedeutete sie doch allgemein gesprochen, dass sich psychische Störungen in körperlichen Symptomen wie bei einer organischen Erkrankung äußern konnten. In diesem Grenzgebiet gab es in den letzten 15 Jahren eine Reihe neuer Erkenntnisse, die unser Wissen vertieften und nun zu neuen Einteilungen und Begrifflichkeiten führen, ja in einigen Bereichen führen müssen. So zeigten einige Studien, dass man zwischen ähnlichen Symptomen unterscheiden muss, wenn sie einerseits durch funktionelle Störungen und andererseits durch psychiatrische Erkrankungen ausgelöst werden, da sie unabhängig voneinander auftreten können [1] [2]. Ihre jeweiligen Beiträge zur Morbidität müssen differenziert und ihre Interaktionen verstanden werden, um die funktionellen Störungen anhand positiver Kriterien (z. B. durch das Vorliegen typischer Symptomkombinationen) definieren und frühzeitig eine adäquate Therapie einleiten zu können. Das führte dazu, dass die traditionelle dichotome Klassifikation in „organisch“ und „psychogen“ abgelöst wurde durch eine differenziertere mit den drei Kategorien strukturell (früher: organisch), funktionell (früher: somatoform oder psychogen) und psychiatrisch. Manche gehen noch weiter und fügen zu strukturell noch zellulär hinzu für organische Veränderungen, die man noch nicht als solche abbilden kann [3]. Daran sieht man, dass wir mit unseren jeweiligen Begrifflichkeiten immer wieder an Grenzen stoßen und dass diese in der Zukunft stetig weiter entwickelt werden müssen. Trotz schwieriger Diskussionen im Detail bleibt jedoch eins wichtig: Alle drei Kategorien – strukturell, funktionell und psychiatrisch – sind bei jedem einzelnen Patienten unabhängig voneinander und gleichzeitig zu betrachten, da sie nacheinander oder gleichzeitig nebeneinander auftreten können.

Im Zuge der Differenzierung und Aktualisierung der Begriffe auf internationaler Ebene wurden so neue Bezeichnungen entwickelt. In der DSM-5-Klassifikation wurde dazu 2013 eine Kategorie „somatic symptom disorder“ (American Psychiatric Association, [4]) benannt und in der Beta-Version der International Classification of Diseases, 11th edition (ICD-11; WHO 2015), die Kategorie „bodily distress disorder“ eingeführt [5] [6]. Auf dem Boden dieser Entwicklungen ist gerade ein neues internationales Handbuch zu dem häufigen Thema „Functional Neurological Disorders“ in der Serie „Handbook of Clinical Neurology“ von M. Hallett, J. Stone and A. Carson bei Elsevier entstanden [7]. Es ist das erste oder eines der ersten zu diesem Thema und wird 2016 erscheinen. Es bildet aus der Neurologie kommend das Zwischenfeld zwischen Neurologie und Psychiatrie ab und widmet ihm 49 Kapitel von etwa 56 namhaften Autoren. Die Kapitel reichen von der Historie über Epidemiologie, Ätiologie und Mechanismen bis zu einzelnen Symptomen und deren Behandlung [7].

Die Krankheiten ändern sich damit nicht, nur wieder einmal die Begrifflichkeit. Verloren geht uns jetzt der Begriff „somatoform“ bzw. „psychosomatisch“. Mit einem Augenzwinkern könnten sich jetzt der Psychosomatiker und solch eine Klinik fragen lassen, ob sie von nun an „Arzt für funktionelle Erkrankungen“ und „Klinik für funktionelle Erkrankungen“ genannt werden möchten.

Ein beachtlicher Teil der Arbeiten in den „Fortschritten“ hat sich im letzten Jahr mit diesen Themen an der Schnittstelle zwischen Psychiatrie und Neurologie beschäftigt. So waren neun Arbeiten so wichtigen Aspekten wie der posttraumatischen Belastungsstörung [8] [9] und ihrem Einfluss auf das autonome Nervensystem [10], der Differenzialdiagnose epileptischer und psychogener Anfälle und ihren Behandlungskonzepten [11], der Differenzialdiagnose des chronischen psychogenen Hustens [12] und dem in der Praxis überaus häufigen nicht-organischen Schwindel [13] gewidmet. Die Beiträge sind unter Fortbildung, Kasuistik, Originalarbeiten und Übersichten erschienen.

Darüber hinaus war die Verteilung der Beiträge aus Psychiatrie und Neurologie auch in diesem Jahr wieder ausgewogen mit 37 psychiatrischen und 30 neurologischen Artikeln. Die psychiatrischen Beiträge befassten sich in der Rubrik Fortbildung u. a. mit den großen Themen der Therapie depressiver Störungen bei Jugendlichen [14] und bei Schizophrenie [15], der Therapie bei narzisstischer Persönlichkeitsstörung [16] sowie mit Erkrankungen des Zwangsspektrums wie dem pathologischen Horten und Sammeln [17]. Bei den Originalarbeiten war ebenfalls ein breites Spektrum repräsentiert von u. a. Persönlichkeitsstörungen bei Strafgefangenen [18] über motordominante Symptomatik bei Psychosen [19] bis zu Halluzinogen-induzierten persistierenden Wahrnehmungsstörungen [20].

Auch die neurologischen Beiträge befassten sich mit aktuellen Themen, wie sie derzeit breit diskutiert werden, mit Originalartikeln u. a. zu der Relevanz von MRT-Untersuchungen und neuen Therapien bei Multipler Sklerose [21] [22], der Liquordiagnostik erregerbedingter neurologischer Erkrankungen [23], der Akutbehandlung des Schlaganfalls [24], der Auswirkung einer mikrochirurgischen Resektion von frontalen Hirntumoren auf die kognitiven Funktionen [25] und der Optimierung der Schmerztherapie auf neurologischen Stationen [26]. Übersichten informierten z. B. über Chemotherapie-induzierte Polyneuropathien, medikamentöse Behandlung von Nystagmus und zerebellären Ataxien, myotone Dystrophien, das maligne neuroleptische Syndrom und Fatigue bei Multipler Sklerose.

Auch 2015 haben erfreulicherweise das Interesse und das große Engagement der Autoren/innen, Gutachter/innen und auch Leiterinnen des Teams beim Thieme Verlag nicht nachgelassen, uns zu unterstützen. Dafür möchte sich die Schriftleitung ganz herzlich bedanken und dies mit der Hoffnung verbinden, dass auch im Jahr 2016 das Engagement so anhalten möge. Unser besonderer Dank gebührt auch diesmal den beiden Weiterbildungsherausgebern, Prof. Peter Berlit und Prof. Max Schmauss, für ihre unermüdliche Arbeit. Meinen persönlichen Dank möchte ich Herrn Prof. Jens Kuhn aussprechen, der nun schon seit 2012 mit sehr viel Überblick die Schriftleitung tatkräftig unterstützt und so ein kontinuierliches Arbeiten erst möglich macht. Ich bin sehr dankbar, dass seine Einsatzbereitschaft und Erfahrung mir bei der editorischen Arbeit helfen und es auch weiterhin ermöglichen, die „Fortschritte“ für die Leser beider Fächer, der Neurologie und Psychiatrie, attraktiv zu gestalten. Es ist uns daran gelegen, die „Klinischen Neurowissenschaften“ in beiden Gebieten so lebendig wie möglich zu halten durch immer neue Einblicke in die zum Teil rasanten Entwicklungen der Neurowissenschaften, die ein Kontinuum darstellen, in dem die Abgrenzung von organisch und nicht-organisch nicht mehr zeitgemäß ist.

Die Formulierung, es „droht“ uns eine neue Nomenklatur, soll uns nicht wirklich in Sorge versetzen, sondern lediglich auf eine unendliche Geschichte der häufig wechselnden Namen und jetzt der Wiederbelebung alter Begriffe wie „funktionelle Erkrankungen“ aufmerksam machen. Hinter der neuen Ordnung steht eine sinnvolle Verschärfung der Begrifflichkeit; die Abkehr von der Einteilung „organisch versus nicht-organisch“ ist sinnvoll.

Last but not least möchte ich Ihnen, liebe Leserinnen und Lesern, für Ihr anhaltendes Interesse herzlich danken, sich mit den beiden Geschwistern – der Neurologie und Psychiatrie – zu beschäftigen, zumal diese ja in der täglichen klinischen Arbeit oft Hand in Hand gehen, was gerade bei den funktionellen Erkrankungen deutlich wird. Bleiben Sie uns bitte auch 2016 weiterhin verbunden.

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Univ.-Prof. Dr. M. Dieterich