physioscience 2016; 12(03): 119-121
DOI: 10.1055/s-0035-1567120
Wissenschaftlicher Diskurs
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Hochschulische Ausbildung in der deutschen Physiotherapie: Ein konsequentes Ja zur Primärqualifikation – jetzt!

Academic Education in German Physiotherapy: A Consequent Yes to Primary Qualification – Now!
H. Höppner
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
09. September 2016 (online)

Vor dem Hintergrund der Herausforderungen gesundheitlicher Versorgung im 21. Jahrhundert fordern alle Expertengutachten die Neuaufstellung von Gesundheitsberufen. Häufig werden dabei die Empfehlungen des Wissenschaftsrats zu hochschulischer Qualifikation für das Gesundheitswesen zitiert: Es gilt, 10 – 20 % der Berufsangehörigen akademisch (primär) zu qualifizieren [19]. „Dabei spricht sich der Wissenschaftsrat dafür aus, diese neuen Studiengänge primärqualifizierend zu gestalten“ [19].

Ca. 4000 Studierende in 20 Studiengängen der Therapie und des Hebammenwesens [15] warten wie die Hochschulvertreter auf das Auslaufen der Modellphase. Der Wissenschaftsrat hatte sich intensiv mit den Therapieberufen und -wissenschaften in der Zukunft auseinandergesetzt und „behält sich vor, nach fünf Jahren den Umsetzungsstand seiner Empfehlungen im Rahmen einer systematischen Nachverfolgung zu prüfen und gegebenenfalls weitere Empfehlungen anzusprechen“ [19].

Unter restriktiven Bedingungen, die im Gesetz zur Einführung einer Modellklausel in die Berufsgesetze der Hebammen, Logopäden, Physiotherapeuten und Ergotherapeuten 2009 für die Erprobung durch Hochschulen formuliert sind, wie z. B. dem unverändertem Staatsexamen nach 3 Jahren, konnten erste Erfahrungen mit dem Doppelabschluss (Examen und Bachelor) gesammelt werden [3].

Auszug aus dem Gesetz zur Einführung einer Modellklausel in die Berufsgesetze der Hebammen, Logopäden, Physiotherapeuten und Ergotherapeuten von 2009: „Abweichungen von der Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für Physiotherapeuten sind nur zulässig, soweit sie den theoretischen und praktischen Unterricht in § 1, Abs. 1 sowie die Anlage1 Buchstabe A der Verordnung betreffen. Im Übrigen gilt die Verordnung unverändert mit der Maßgabe, dass an die Stelle der Schule die Hochschule tritt. Durch die Erprobung darf das Erreichen des Ausbildungsziels nicht gefährdet werden“ [3].

Evaluationsberichte der Länder liegen sowohl den Landesbörden seit Mitte 2015 bzw. dem Bundesministerium für Gesundheit (BMG) seit 2016 vor [5] [6]. Mit Ablauf des Jahres 2017 ist eine Regelung unabdingbar.

Aktuell ist klar: Um einer Akademisierungsquote von 10 – 20 % gerecht zu werden, sind unter den gegebenen Umständen eine künftige Planungssicherheit und ein Nachjustieren der Rahmenbedingungen an Hochschulen erforderlich. Der Anteil von an Hochschulen Qualifizierten (aller Studienformen) wird derzeit in der Ergotherapie auf 5 % und in der Physiotherapie auf ca. 4 % geschätzt.

Im internationalen Vergleich ist die berufsfachschulische Ausbildung von therapeutischen Berufen in Deutschland ein Sonderfall. Die Ergebnisse der seit über 10 Jahren in der Schweiz und Österreich möglichen Primärqualifikation an Hochschulen verdeutlicht, dass bei geklärten Rahmenbedingungen die Kraft aller Beteiligten in die Entwicklung (nicht in die Rechtfertigung und Verhinderung) gesteckt werden kann. Die Anforderungen an Forschung und Entwicklung für die Qualitätssicherung und Optimierung von kooperativer patientenzentrierter Arbeit sind ein Grund hochschulischer Qualifikation [6]. Durch diese Notwendigkeit (siehe Positionspapier des Spitzenverbandes der GKV 2016 [18]), die geringe Halbwertszeit des medizinischen Wissens und die Notwendigkeit des Transfers neuer wissenschaftlicher Grundlagen in Therapiekonzepte u.v.m. ist eine eigene Forschung der Gesundheitsberufe mit angemessener Methodik nicht verzichtbar.

Eine hochschulische Qualifikation zielt also nicht ausschließlich auf Berufsbefähigung: diese ist jedoch mit der geforderten Wissenschaftlichkeit im 21. Jahrhundert und konsequenter Primärqualifikation an Hochschulen eng verbunden. Aus der Erfahrung als Lehrende an Fachhochschulen in Hildesheim, Kiel und Berlin beziehe ich mich auf eigene Erkenntnisse, erste Absolventenbefragungen (z. B. an der ASH Berlin) und Recherchen zum wissenschaftlichen Nachwuchs [13] in den Therapiewissenschaften: Anders als bei additiven Studiengängen, die auch weiterhin ihre Berechtigung für bereits Examinierte haben, da sie die Professionalisierung voranbringen und ihnen die Chance geben, sich hochschulisch nachzuqualifizieren [1], bedarf es nicht eines „Umlernens“ vom Level 4 (Deutscher Qualifikationsrahmen) zu Level 6. Insbesondere die Entwicklungen von wissenschaftlichem – kritischem – Denken, eines neuen professionellen Selbstverständnisses bzw. einer Handlungskompetenz als studierte Physiotherapeuten sind nur drei Herausforderungen für bereits Examinierte. Sie müssen gewohnte Denk- und Handlungsweisen infrage stellen, die z. T. teuer bezahlt wurden und viele Jahre das berufliche Selbstverständnis ausmachten [12]. Unbestritten sind das Angebot, das es auch weiterhin geben wird, und natürlich die Fragen der Studierenden mit Berufserfahrung. In der Primärqualifikation sind die Kollegen in der Regel jünger und ihnen stehen auch Chancen wissenschaftlicher Karrieren offen. Ihnen fehlt es an Berufserfahrung, doch sie gehen anders an Problemlösungen heran, und kritisches Denken ist für sie selbstverständlicher.

Die Hochschulen haben ihre „Hausaufgaben“ gemacht. Jetzt warten alle, die für dieses neue Format der Qualifizierung angetreten sind, auf ein konsequentes Ja der Politiker zur hochschulischen Primärqualifikation für die Ergotherapie, Logopädie und Physiotherapie. Zurzeit legitimiert die Modellklausel bis Ende 2017 die berufsqualifizierende Variante (Primärqualifikation, PQ) an deutschen Hochschulen.

Dennoch geht die Entwicklungsarbeit an den Hochschulen weiter: Neben der steten Qualitätsverbesserung (siehe Positionspapier der AG Berufsbildung in den Heilberufen [2]) bedarf es einer erheblichen Ausweitung von Studienplätzen (siehe z. B. die Initiative neuer Studienplätze 2015 in Baden-Württemberg [10]).

Nordrhein-Westfalen hat mit der Evaluation der PQ-Studiengänge am stärksten für Öffentlichkeit gesorgt: Interessierten wurden die Ergebnisse unter Anwesenheit der NRW-Gesundheitsministerin Barbara Steffens im Frühjahr 2015 in Düsseldorf und Berlin vorgestellt [5]. Die Autoren der Studie beziehen sich vorwiegend auf Kompetenzmessungen (Output der Studiengänge) und die Berufseinmündungen: „Die Fähigkeiten zum wissenschaftlichen Arbeiten, die kritische Reflexion des traditions- und regelgeleiteten Wissens in der Praxis, die Fähigkeit, die eigene Profession weiterzuentwickeln sowie die Fähigkeit zu einem fachlichen Austausch mit anderen Berufen auf Augenhöhe sind wesentliche Kompetenzen, die sich die Studierenden selbst zuschreiben bzw. die sie von Berufstätigen in den Praxisfelder zugeschrieben bekommen“ [5].

Die Evaluationsrichtlinien des BMG von 2009 [4] verlangen zudem eine Bewertung des Bedarfs an akademisch geschultem Fachpersonal und des Mehrwerts eines solchen für die Versorgung von Patienten. Diese Fragen des BMG lassen sich ohne adäquate Forschungsprojekte nicht beantworten [5]. Hierzu gibt es weder national noch international Anhaltspunkte. Bildungsimplikationen durch Versorgungsbedarfe zusammenzudenken, ist ein Forschungsdesiderat und somit fehlt es auch an Maßnahmen effektiver Gesundheitsbildungspolitik [17].

An der Alice Salomon Hochschule in Berlin kommen wir zu ähnlichen Ergebnissen [6]. Länderübergreifend wird konstatiert, dass Ausbildungs- und Hochschullogik nicht übereinstimmen, sich zum Teil hinderlich und qualitätsmindernd auswirken: So ist die Bindung der Lehre an die Prüfungsform im Rahmen des Staatsexamens in alter Form ebenso hemmend, wie die Tatsache, dass Prüfungsleistungen an Hochschulen studienbegleitend abzunehmen sind.

Hochschulen haben bisher wenig Gestaltungsraum, wie auf der Tagung „Vom Modell auf Probe zum Modell der Zukunft: Akademisierung der Gesundheitsberufe“ auf Einladung der Hochschule Fresenius am 02.11.2015 in Berlin dargestellt wurde. So besteht neben dem Bedarf an einer klaren politischen Legitimation der verstärkten Hochschulautonomie in der Ausbildung von Therapeuten und Hebammen auch vermehrt Regelungs- und Unterstützungsbedarf (Ressourcen).

Bei Expertisen (z. B. [12]) sollte auf die Begründung geachtet werden: Es gilt, die Primärqualifikation zu ermöglichen, da nicht nur Berufsbefähigung, sondern auch Wissenschaftlichkeit die Legitimation einer Hochschulqualifikation darstellen. Die additiven Modelle haben ihre Stärken, hinsichtlich wissenschaftlicher Karrieren und Forschung jedoch auch ihre Begrenzungen.

Ziel ist es, das Potenzial der hochschulisch ausgebildeten Heilmittelerbringer für die gesundheitliche Versorgung [16], die Anschlussfähigkeit in Wissenschaft und Entwicklung [7] und die Attraktivität der Berufe auf dem Bildungs- und Arbeitsmarkt [14].

Die Grundlagen für eine mögliche Verstetigung der hochschulischen Primärqualifikation werden jetzt entschieden. Was in 2016 passiert, hat mittel- bis längerfristige Folgen für (Nicht-)Entwicklung. Dafür möchte ich mit dem Beitrag sensibilisieren: Wir, die Hochschulvertreter [15] fordern nicht nur die Übernahme der hochschulischen Qualifikation in die Regelgesetzgebung für Therapeuten, sondern auch die Rahmenbedingungen, die die Primärqualifikation an Hochschulen braucht. Zudem sollten Berufsverbände und kooperierende Berufsfachschulen den innerberuflichen Diskurs voranbringen. Ihre Stimmen sind wichtig, da sie für den Gesetzgeber und die Öffentlichkeit das Berufsbild repräsentieren.

Historisch betrachtet, ist das Fenster der Möglichkeiten jetzt geöffnet. Wir tragen gemeinsam Verantwortung – für das Tun und für das Lassen! Es gilt, jetzt die Weichen für die Zukunft zu stellen – für die abgesicherte hochschulische Primärqualifikation von Therapeuten unter angemessenen Bedingungen – wie es das Modell auch im internationalen Vergleich darstellt.

Zusammengefasst bedeutet dies Folgendes:

  • Eine Entscheidung vor der Bundestagswahl ist zwingend.

  • Die Fortschreibung der Modellklausel würde bedeuten, die Herausforderungen und Entscheidungen zu verzögern: das hätte seinen Preis. Aktuelle Chancen einer – wenn auch teilweisen – Systemveränderung würden (unnötig) in die Länge gezogen. Folge wäre eine Verunsicherung im Feld für alle (z. B. auch für potenziell Studieninteressierte) bzw. der „Spirit“ der Veränderung tendenziell verloren ginge: Was ist denn nun der Weg in die Hochschulausbildung in Deutschland? Wer will wohin und mit welcher Strategie [11]? Daraus würden beharrende Kräfte bestärkt hervorgehen. Die Signale ins Berufsfeld wären uneindeutig und eine Sicherheit gäbe nur das traditionelle System. Dies stärkt eine Ausbildung, die auch von der AG MTG und von den Verbänden der Lehrkräfte infrage gestellt wird.

  • Eine „einfachere“ Lösung (additive oder ausbildungsintegrierende Studiengänge) verhindert und erschwert die Einführung von Primärqualifikation. Die Rationalitäten der Studiengänge seit 2011 sind hier wesentlich systemkonformer: Sie kosten weniger, stellen nicht grundsätzliche Fragen nach neuer Verantwortung für die Physiotherapeutenausbildung, erhalten das etablierte System der Aus- und Weiterbildung und vermitteln Sicherheit, da auf Bekanntes zurückgegriffen wird: die traditionelle Ausbildung. Somit kommen Berufsfachschulen mit Hochschulen nicht in Konkurrenz, und kleine Studiengänge würden sich den „Kampf“ um Curricularnormwerterhöhung (CNW) innerhalb der Hochschule sparen (CNW meint die Ausstattung von Studiengängen hinsichtlich ihrer sogenannten kapazitären Bedarfe; d. h. Studiengänge mit hohen Supervisionszeiten in der praktischen Arbeit benötigen einen höheren CN-Wert. Dies schlägt sich kapazitätsrelevant nieder. Es braucht kleine Studierendengruppen, mehr Lehrende, andere Formen der Lehre als Vorlesungen in Hörsälen etc.).

  • Es bedarf der Novellierung der Berufsgesetze und der Neuregelung der Finanzierung der Ausbildung von Physiotherapeuten, die ja in Bezug auf Fachkräftesicherung von öffentlichem Interesse ist.

  • Den Empfehlungen des Wissenschaftsrates ist vermehrt Rechnung zu tragen. Es gilt, die von ihm in Aussicht gestellte systematische Nachverfolgung einzufordern. So würden wesentliche strukturelle Hindernisse bzw. Effekte und Tendenzen des „Wildwuchses“ im Versuch einer Systemveränderung an Hochschulen deutlich werden.

  • Hochschulen brauchen eine adäquate Ausstattung für Primärqualifikation. Somit sind Fragen der Finanzierung zwischen der Versorgung und Bildung angesiedelt – wie auch das Medizinstudium.

Mich beschäftigen außerdem folgende Fragen:

  • Haben wir alles getan, die Chancen für unsere Berufe und die Therapiewissenschaft durch Primärqualifikation an Hochschulen zu verdeutlichen? Potenziell Interessierte können sich noch nicht artikulieren, und die Absolventen haben diese Chance mehr und weniger als normal erlebt. Wer kämpft für das Neue, das der nächsten Generation zur Verfügung stehen möge?

  • Wie hilfreich ist zum jetzigen Zeitpunkt das Festhalten an einer Vollakademisierung?

  • Wie werden Direktzugang und hochschulische Qualifikation verknüpft? Welche Argumente schwächen das Ziel einer Systemveränderung in der Ausbildung – hin zur Primärqualifikation an Hochschulen?

  • Wo findet ein breiter innerberuflicher Diskurs statt? Wo wird wie berichtet bzw. Überzeugungsarbeit für diese neue Ausbildungsvariante geleistet?

  • Die Erfolge der Kollegen in der Schweiz und in Österreich zeigen, was eine konsequente Entscheidung für die Neustrukturierung von Physiotherapieausbildung zur Folge hat. Sie zeigen uns, dass es wichtig ist, mit einer Stimme zu sprechen. Vor über 10 Jahren gab es dort zwischen Hochschulen und Berufsverbänden keinen Zweifel: Sie ergriffen damals die Chance der Primärqualifikation von Physiotherapie an Hochschulen. Es gibt auch für Deutschland den richtigen Zeitpunkt – und der ist m. E. „jetzt“!