physioscience 2016; 12(03): 126-127
DOI: 10.1055/s-0035-1567119
Nachruf
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Nachruf Antje Hüter-Becker

H. Höppner
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Publication Date:
09 September 2016 (online)

Mein Ich ist fort. Es macht die Sternenreise (Paul Boldt)

Mit diesem Satz verabschiedet sich Antje Hüter-Becker (24. Oktober 1941 – 28. Mai 2016).

Die deutsche Physiotherapie verliert eine bedeutende Kollegin, die unvergleichlich die Geschichte der Krankengymnastik/Physiotherapie in Deutschland beeinflusst hat. Ich persönlich trauere um eine „Schwester im Geiste“ – um eine Freundin und Mentorin, die sie in den letzten Jahren für mich war.

Viele sind in diesen Tagen mit der Frage beschäftigt: Was bleibt von ihr in unserer Erinnerung?

Die Jüngeren mögen mit Antje Hüter-Becker das Neue Denkmodell (1997), die Praxis des Denkmodells – die integrative Physiotherapie – oder aber den „Antje Hüter-Becker-Preis“ verbinden. Dieser würdigt seit 10 Jahren ihr Denken und Wirken und wurde bisher 3-mal ausgelobt. Sie hat uns deutschsprachig ein konzeptionelles Dach hinterlassen, das die „Einheit in der Vielfalt“ und 4 Wirkorte von Physiotherapie beinhaltet. Physiotherapie war für sie immer Bewegung und Berührung. In diesem Zusammenhang steht auch die Bedeutung therapeutischer Beziehung in ihrem Modell (Wirkort „Verhalten und Erleben“) und der Stellenwert einer notwendigen Reflexion therapeutischer Arbeit. Leider konnten nur 2 Wirkorte des Neuen Denkmodells ausführlicher erläutert und veröffentlicht werden („Bewegungssystem“ und „Bewegungsentwicklung und Bewegungskontrolle“). Antje Hüter-Becker hat (gemeinsam mit Mechthild Dölken) jedoch zahlreiche Lehrbücher herausgegeben, die aus der heutigen Ausbildung von Physiotherapeuten nicht wegzudenken sind.

Frühe Wegbegleiter von ihr kennen sie als KG-Kollegin (Examen 1965) mit Schwerpunkt in der Neurologie in Köln. Kollegen meiner Generation verbinden mit ihrem Namen ihre Zeit als Chefredakteurin der Zeitschrift für Krankengymnastik (KG-Zeitschrift) im Richard Pflaum Verlag (1976 – 2006). Das gesamte Erbe (ab der 1. Ausgabe) hat sie 2006 der FH Kiel vermacht. Die Zeitschrift ist Zeugnis ihrer arbeitsreichen produktiven Zeit als Redakteurin und der Entwicklung der deutschen Physiotherapie in dieser Phase. Ihr Abschied in den „Unruhestand“ im Oktober 2006 war entsprechend bunt und würdig. Empfehlenswert ist die Festschrift ihr zu Ehren: „Der Ton schwingt weiter durch die Blüten“. Die verschiedenen Seiten und Talente von Antje Hüter-Becker kommen dort gut zum Ausdruck.

Die Qualifizierung von Lehrkräften war für sie ein „Muss“ und so engagierte sie sich bis 1998 im sogenannten Lehrerseminar in Heidelberg. Doch nicht nur pädagogisch, sondern auch berufspolitisch hat sie sich eingemischt. Ganz preußisch, waren Verantwortung und Verlässlichkeit für sie wichtige Tugenden. So prägte sie in unterschiedlichen Rollen viele Jahre Bildungs- und Berufspolitik für Gesundheitsberufe in Deutschland, z. B. auch als Bundesvorsitzende des ZVK von 1983 bis 1986.

Ich habe Antje Hüter-Beckers Freigeist geschätzt und geliebt. Dieses Denken war gepaart mit einer großen Portion Witz und (Selbst-)Ironie, und so konnte man mit ihr ganz wunderbar lachen. Denken, reflektieren, eine eigene Urteilsfähigkeit auszubilden und die Kraft schlüssiger Argumente – all dies war ihr in der Ausbildung von jungen Kollegen wichtig. Nie hat sie dabei die Geschichte der Heil- und Krankengymnastik in Deutschland aus dem Blick verloren. Äußerst amüsant zu lesen, ist ihre geschlechter- und machtsensible Analyse der Entwicklung einer beruflichen Domäne von Frauen: „Heilgymnastik – ein Frauenberuf feministisch interpretiert“ von 2001.

Sie war forsch, ihr Wortwitz zum Teil spitz und manchmal unversöhnlich. Das traf auch Menschen, die ihr nah waren und sie mochten.

Ihre letzte Lebensphase fiel in die neue Zeit mit Studienmöglichkeiten in der Physiotherapie seit 2001. Das hat sie erfreut. Endlich! Sie folgte gern Einladungen an die Fachhochschule Kiel und engagierte sich dort viele Jahre als Beiratsmitglied im Studiengang Physiotherapie. Auch in Berlin war sie gern gesehen. Sie liebte die Inspiration in Berlin: die Museen und die Geschichte der Stadt. An der Alice Salomon Hochschule hielt sie noch 2013 eine Fortbildung zum Neuen Denkmodell für Lehrende – die Grundlage des Curriculums im Studiengang Physiotherapie – und überreichte 2014 als aktives Jurymitglied selbst den Antje Hüter-Becker Preis.

Mich freut es sehr, dass Antje noch erleben konnte, wie ihr Denken die Physiotherapie ins 21. Jahrhundert begleitet hat und nachhaltig bewegt. Sie im Kontakt mit den Studierenden zu erleben, das war für alle Beteiligten ein großes Geschenk. Ich bin dankbar für ihre Begleitung in den letzten 13 Jahren. Es waren für mich intensive Jahre der Freundschaft mit ihr. Ich vermisse sie und die vielen Briefe mit kleinen Zeitungsausschnitten („Interessant? – Gruß Antje“).

Personenkult und Sentimentalität waren ihr zuwider, und so verweist sie uns optimistisch aber auch bestimmt an die Arbeit:

„Die Physiotherapie, die es in ihrer gut 100jährigen Geschichte geschafft hat, unvorhersehbare Situationen zu meistern, wird auch die Probleme des nächsten Jahrhunderts flexibel und einfallsreich zu lösen verstehen“ [1].

Die deutsche Physiotherapie verliert eine bedeutende Gestalterin unseres Berufes, eine Visionärin, eine mutige kluge Frau, Kollegin und auch Freundin. In dankbarer Erinnerung an Antje Hüter-Becker.

 
  • Literatur

  • 1 Zalpour C (Hrsg) Springer Lexikon Physiotherapie. Essay: Geschichte der Physiotherapie – Vom Hilfsberuf zur Profession. Berlin: Springer; 2010