physioscience 2014; 10(04): 136
DOI: 10.1055/s-0034-1385503
Leserbriefe
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Leserbrief zu: Wolf U. Editorial: Eine selbstkritische Reflexion physioscience 2014; 10: 89–90

L. Hirthe
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Publication Date:
19 November 2014 (online)

Das Editorial von Professor Wolf sprach mir aus der Seele und gehört meiner Meinung nach in jede deutschsprachige Fachzeitung auf dem Gebiet der Physiotherapie.

Es stellt sich die Frage, warum diese „Glaubenskriege“ im Fachbereich geführt werden? Hierbei spielen sicherlich viele Faktoren eine Rolle: Vielleicht persönliche Eitelkeiten oder Macht am Fortbildungsmarkt und damit verbundene finanzielle Aspekte?

Als Kursteilnehmer habe ich selbst erleben dürfen, wie man sich krampfhaft von anderen Konzepten abzugrenzen versuchte oder konsequent aktuellen Wissensstand ignorierte. Auch das Darstellen von Denkmodellen als ein unumstößliches Faktum ist ein weit verbreitetes Phänomen und zugleich Problem. Aus einem bestimmten Blickwinkel scheint es sogar verständlich. Warum? Es ist einfach und bequem. Ein Konzept bietet den Vorteil, die Komplexität von menschlichem Organismus, Therapie und Heilung stark zu vereinfachen und handhabbar zu machen. Man bekommt einen klaren Kurs mit Handlungsoptionen zugewiesen. Das ist unbestritten wichtig, um aktuell handlungsfähig zu sein, aber gefährlich, wenn es die Entwicklung und den Fortschritt bremst. Konzeptdogmatiker helfen uns nicht weiter.

Auch die regelmäßigen Hypes (Tapes, Osteopathie, Faszien) sind exemplarisch dafür, wie schnell und unreflektiert ein Thema auch ohne tiefergehende wissenschaftliche Unterfütterung für Furore sorgen kann. Zum derzeitigen Lieblingsthema „Faszien“ gibt es wenigstens grundlegende Ergebnisse. Aber auch diese dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich nur um eine einzelne untersuchte Struktur in einem Gesamtsystem handelt. Es sind noch deutlich mehr Fragen offen als beantwortet.

Was ist das Mittel dagegen? Grundlagenforschung? Mit Sicherheit. Dennoch steht auch diese vor Problemen, die wir Therapeuten nicht alleine lösen können. Zum einen benötigen wir hierzu Unterstützung aus anderen Fachbereichen wie z. B. Biologie, Physiologie, Biomechanik, Biochemie und Psychologie, zum anderen sind wir auch in der Grundlagenforschung auf unsere derzeitigen technischen Möglichkeiten begrenzt. Diese ermöglichen und begrenzen zugleich die Erfassung von Vorgängen im menschlichen System.

Weitere Säulen, die wir benötigen, umfassen freies, losgelöstes Denken in Ausbildung, Studium und Fachliteratur. Es darf sich nicht nur um den reinen Wissenserwerb drehen. Wir brauchen Therapeuten jeden Alters, die selbstständig denken, argumentieren, handeln, reflektieren und vor allem differenzieren können. Denn sowohl die Konzeptdogmatiker als auch die Evidenzpuristen unter den Therapeuten stellen den Fachbereich vor Probleme. Damit meine ich im übrigen Kursteilnehmer, Schüler und Studenten, aber auch die Dozenten. Gerade Letztere stellen eine sensible Schlüsselposition in der Vermittlung von Fakten\Nichtfakten, stetigem Erkenntniswandel und nötiger Selbstreflexion dar. In einigen Threads und Kursen ist es oft nur schwer möglich, frei zu diskutieren, da es sehr viele Anhänger irgendeiner Lehre gibt. Warum? Vielleicht auch, weil man sich nicht eingestehen will, etwas Überholtes gelernt oder gelehrt zu haben. Interessante und relevante Forschungsfragen sowie ehrliche Forschung werden nur durch abgelegte „Konzeptscheuklappen“ ermöglicht.