physioscience 2014; 10(04): 135
DOI: 10.1055/s-0034-1385502
Leserbriefe
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Leserbrief zu: Götz-Neumann K. Von Spastizität zu Aktivität: Exzitation statt Inhibition physioscience 2014; 10: 115–125

B. Irscheid
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Publication Date:
19 November 2014 (online)

Es ist mir ein besonderes Anliegen, als Kinderarzt und angehender Neuropädiater zum kürzlich veröffentlichten Artikel von Frau Götz-Neumann Stellung zu nehmen.

Das eigenständige Gehen hat im Rehabilitationskonzept der leicht bis moderat betroffenen Kinder mit Zerebralparese (Gross Motor Function Classification System 1 – 3) hat einen hohen, wenn nicht den höchsten Stellenwert. Die Mobilität bzw. Verbesserung der Fortbewegung stellt für die Therapeuten und Ärzte im Erstellen eines individuellen Behandlungskonzepts und für die Familie in der praktischen Umsetzung und Relevanz im Alltag eine besondere Herausforderung dar.

Als Kernpunkt des Artikels wird die Qualität des Gehens hervorgehoben, denn Gehen heißt nicht zwangsläufig physiologisches Gehen. Teilweise verstärkt das Gangbild einiger Patienten die bereits vorhandenen Pathologien (Überbeanspruchung von Muskelgruppen, Innenrotation der Hüfte, Eversion des Fußes, usw.).

Mir erscheint es besonders wichtig, ein Bewusstsein für den physiologischen Ablauf des Gehens und der daran beteiligten Muskeln samt Funktion zu entwickeln. Dies ist Frau Götz-Neumann besonders gut gelungen. Mit diesem Wissen gewinnt der Untersucher wichtige und grundlegende Informationen, die maßgeblich die Therapien beeinflussen: Hilfsmittelversorgung, Indikation der Botulinum-Toxin-Injektionen und Ziele in der Physiotherapie. Das Kind soll lernen, richtig zu gehen, d. h. in der Gangphase die richtigen Muskeln zum richtigen Zeitpunkt zu aktivieren. Dadurch werden seine Gelenke langfristig geschont und seine Mobilität im Physiologischen weitgehend erhalten. Es ist die Chance, dem eigenen Patienten neue Bewegungsansätze und Behandlungsmöglichkeiten anzubieten. Nur wer seine Denkweise ändert, bleibt sich treu. Dies ist ein Universalprinzip und gilt in meinen Augen besonders für Heilberufe.

Im Artikel wird der spastische Muskel rehabilitiert. Ihm werden Funktionen und durch die zentrale Ansteuerung sogar eine Lernfähigkeit und eine Weiterentwicklung zugesprochen. Der betroffene Muskel sollte also seinen Zweck erfüllen und nicht ignoriert oder gar künstlich geschwächt werden. Es gilt, Kompensationsmechanismen kritisch zu hinterfragen und nicht immer als Ressource anzusehen.

Das motorische Lernen gewinnt auch durch das aktive Miteinbeziehen der Patienten beim Video-Feedback an Intensität. Wenn die Patienten verstehen, worum es geht und welcher Bewegungsablauf optimalerweise erreicht werden soll, dann sind auch die Motivation und der Lerneffekt deutlich gesteigert. Die Stimulation und die Ekzitation finden mit diesem Konzept auch im Gehirn statt.

Passive Dehnübungen oder monotone Heimübungsprogramme verfehlen oft das übergeordnete Ziel. Der Artikel beschreibt auch, dass es wichtig ist, die Patienten individuell zu aktivieren –, sei es mit seiner Lieblingsmusik oder seinen Sonderinteressen. Gerade bei Kindern werden auf diesem Weg die Aufmerksamkeit und Motivation geweckt. Auch nach den persönlichen Zielen und Hoffnungen des Menschen muss immer gefragt werden, d. h. welche Funktion/Bewegungsabläufe haben für sein Leben und seinen Alltag eine besondere Relevanz? Mit der Mobilität erreichen wir auch Teilhabe.

Aktuell läuft in Deutschland eine gelungene Werbekampagne gegen Vorurteile: „Umparken“ im Kopf. Dies sollten wir Therapeuten und Ärzte auch bezüglich der Behandlung von Menschen mit einer spastischen Zerebralparese unbedingt tun –, wir sind es den Patienten schuldig.

In meiner Zeit im sozialpädiatrischen Zentrum habe ich nach dem Konzept von „Gehen verstehen“ erfolgreich mit Kindern und Physiotherapeuten gearbeitet. Dieses Umdenken hat unsere Arbeit sehr zum Positiven verändert.

Mit diesem Artikel werden hoffentlich viele Therapeuten erreicht. Danke an die Redaktion für die Veröffentlichung des Artikels und den neuen Denkanstoß für die Behandlung der spastischen Zerebralparese und danke an Kirsten Götz-Neumann für ihren leidenschaftlichen Einsatz im Dienste der Patienten.