physioscience 2014; 10(04): 133-134
DOI: 10.1055/s-0034-1385498
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Alltagsnah, zielgerichtet und aktiv – Gedanken zur Rehabilitation nach Schlaganfall

D. Brötz
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Publikationsdatum:
19. November 2014 (online)

Jedes Jahr erleiden etwa 200 000 Menschen in Deutschland einen Schlaganfall. Ein Drittel der Betroffenen behält auch nach den ersten Rehabilitationsmaßnahmen schwere Behinderungen zurück. Halbseitenlähmung, halbseitiger Gefühlsverlust, Wahrnehmungsstörungen (z. B. Neglekt, Pusher-Symptomatik), Konzentrationseinschränkungen, Handlungsplanungsstörungen (Apraxie) und Sprachstörungen (Aphasie) beeinträchtigen die Handlungs- und Bewegungsfreiheit. Depressionen sind eine häufige Folge. Ambulante Physio- und Ergotherapie werden in der Regel ein Leben lang verordnet. Sie sind wesentliche Maßnahmen, die die Bewegungskontrolle verbessern sollen.

Wissenschaftliche Untersuchungen zur Wirksamkeit von Rehabilitationsmaßnahmen befassen sich überwiegend mit verschiedenen Verfahren zur Verbesserung des Gehens und der Arm-/Handfunktion [5]. Sensible Stimulation [3] und einige Behandlungsansätze für neuropsychologische Störungen wurden ebenfalls untersucht. Zielparameter solcher Studien sind in der Regel die Erhöhung der Selbstständigkeit im täglichen Leben (gemessen z. B. mit dem Barthel Index) oder der motorischen Kontrolle (Maße dafür sind z. B. der 10-m-Gehtest, 6-Minuten-Gehtest, motorische Unterskala des Fugl-Meyer-Tests, Wolf-Motor-Function-Test). Dabei besteht häufig keine Korrelation zwischen den Maßen der Selbstständigkeit und der motorischen Kontrolle [7]. Sowohl für mehr Selbstständigkeit als auch für mehr Bewegungskontrolle sind aktive Maßnahmen passiven überlegen [1] [2] [6].

Welche Ziele sind aber für das alltägliche Leben des Patienten relevant? Darüber sprechen Therapeuten mit ihren Patienten und deren Angehörigen zu selten, so dass sie unter Umständen unterschiedliche Ziele verfolgen [4]. Ineffektive Behandlung und Frustration sind oft die Folge. Selbstbestimmte Formen der Motivation (oder Ziele) und der Übungsprogramme führen zu länger anhaltendem Üben als von außen bestimmte Ziele [8].

So viel kurz zusammengefasst zu den wissenschaftlichen Erkenntnissen. Was aber erleben Patienten in der ambulanten Behandlung?

Nachdem Patienten überrascht davon waren, dass sie trotz erheblicher Einschränkung ihrer motorischen Fähigkeiten im Rahmen einer Studie zum Greifen und Loslassen aufgefordert wurden und ein Heimübungsprogramm erhielten, interessierte sich unsere Arbeitsgruppe dafür, was Patienten in der ambulanten Physio- und Ergotherapie bisher erfahren hatten. Wir wollten wissen, ob mit ihnen Ziele vereinbart und sie zu aktiver Bewegung motiviert worden waren und ob sie ein Heimübungsprogramm erhalten hatten. Diese Punkte waren ja nach wissenschaftlicher Datenlage effektiv.

Unsere Arbeitsgruppe befragte Patienten, die sich für die Teilnahme an einer Studie zur Verbesserung der Handfunktion bei Halbseitenlähmung nach Schlaganfall gemeldet hatten. Es stellte sich heraus, dass nur mit 20 % der Befragten in der Physiotherapie ein Ziel vereinbart worden war und sowohl in der Physio- als auch in der Ergotherapie passive Maßnahmen überwogen. Nur 62 % der Befragten gaben an, zu aktiver Bewegung motiviert worden zu sein, und ein Viertel der Befragten hatte Eigenübungen erhalten. Der Antrieb zur Teilhabe am sozialen Leben kam überwiegend von den Patienten selbst oder ihren Angehörigen. Nur wenige hatten dazu Impulse von ihren Therapeuten erhalten. Genauere Fragen zu den Therapiemaßnahmen ergaben das typische Bild: „Die Ergo macht den Arm, und die Physio macht das Bein.“

Die Befragung spiegelt eine Tendenz der Behandlungskultur von Betroffenen nach Schlaganfall in der ambulanten Versorgung in Deutschland wider.

Da die Patienten befragt und nicht die Behandlungen beobachtet wurden, wird hier die Wahrnehmung der Patienten dargestellt. Allerdings sollten zumindest die Zielvereinbarung, ein selbstkontrolliertes Eigenübungsprogramm und die Motivierung zur Teilhabe am sozialen Leben so gestaltet sein, dass die Patienten dies wahrnehmen und wiedergeben können. Für einen Großteil der hier befragten Patienten war das nicht gegeben, so dass sich die Frage stellt, welches Ziel solche Behandlungen verfolgen. Vermutlich trugen sie zum Wohlbefinden der Patienten bei, sonst hätten sie die Therapie nicht über teilweise viele Jahre in Anspruch genommen.

Placeboeffekte wie Wohlfühlen durch Bewegtwerden und freundliche Zuwendung können durchaus gesundheitsförderlich sein, aber verhaltensrelevante Physiotherapie sollte mehr bewirken. In der Schlaganfallrehabilitation bedeutet Erfolg, alltagsrelevante Ziele zu erreichen. Nach einem Schlaganfall möchten die meisten Patienten wieder an Bewegungskontrolle gewinnen, um ihre gelähmten Extremitäten bei alltäglichen Aktivitäten einzusetzen. Außerdem wünschen sie sich, ihren Alltag selbstbestimmt zu gestalten und am sozialen Leben teilzunehmen.

Ein Teil der physiotherapeutischen Maßnahmen geht davon aus, dass Patienten nach einem Schlaganfall die ausgefallenen Bewegungen implizit wieder erlernen und ein aktives Training alltagsrelevanter Handlungen nicht unbedingt erforderlich ist. Dabei wird übersehen, dass sie bei den einmal gewählten Verhaltensstrategien verharren und ohne Unterstützung keine neuen Bewegungen erlernen. Da das Gehirn zielorientiert lernt, sollen die Definitionen der Ziele klar und konkret erfolgen. Therapieelemente wie das passive Bewegen von Gelenken, Massage zur Lockerung von Muskelverspannungen oder das Anbahnen von Bewegungsabläufen durch den Therapeuten mögen einen gewissen Nutzen haben. Selbstbestimmtheit und aktive Teilhabe am sozialen Leben kann Physiotherapie aber vermutlich am effektivsten auf Grundlage einer Zielvereinbarung unter Verwendung lernpsychologischer Strategien und mit Anleitung des Patienten zu zielorientierter, wiederholter aktiver Bewegung unterstützen.

Viele interessante Fragen warten auf ihre Beantwortung: Wie ist die Wahrnehmung der eigenen Therapie bezüglich Zielvereinbarung, aktivem Üben, Eigenübungsprogramm und Unterstützung der Teilhabe aus Sicht der Therapeuten? Werden wirklich überwiegend passive Maßnahmen in der ambulanten Schlaganfalltherapie eingesetzt? Warum? Welche Maßnahmen sind passiv, welche aktiv? Wie können die Patienten Aktivitäten in ihren Alltag umsetzen, die sie während der Therapie mithilfe der heilenden Hände der Therapeuten oder mit Trainingsgeräten durchgeführt haben? Welche Hürden müssen überwunden werden, um die existierenden wissenschaftlichen Erkenntnisse zur effektiven Behandlung dieser Patienten umzusetzen?

Vom Zentralverband der Krankengymnasten (ZVK) organisiert, hat eine Arbeitsgruppe in mehrjähriger Arbeit ein neues Modell zur physiotherapeutischen Versorgung von Patienten nach Schlaganfall erarbeitet. Auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse wurden Untersuchungsverfahren, Ergebnisdokumentation, Zielvereinbarung und Behandlungsstrategien zusammengestellt und ein Fortbildungskonzept erarbeitet. Und nun – liegt das Modell seit Jahren auf Eis. Krankenkassen, Ärzteverbände und nicht zuletzt die Lobbyisten bestehender Fortbildungskonzepte sträuben sich erfolgreich, Neues zu akzeptieren.