Dtsch Med Wochenschr 2013; 138(51/52): 2685-2690
DOI: 10.1055/s-0033-1359937
Weihnachtsheft
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Der Boykott gegen die deutschen Wissenschaftler und die deutsche Sprache nach dem Ersten Weltkrieg

The boycott against German scientists and the German language after World War I

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  • R. Reinbothe

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Publication Date:
16 December 2013 (online)

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Nach dem Ersten Weltkrieg verhängten die alliierten Akademien der Wissenschaften einen Boykott gegen die deutschen Wissenschaftler und die deutsche Sprache. Das Ziel dabei war, zu verhindern, dass deutsche Wissenschaftler, die deutsche Sprache und deutsche Publikationen im internationalen Wissenschaftsbetrieb wieder Einfluss gewinnen konnten wie vor dem Krieg. Deshalb schlossen die Alliierten die deutschen Wissenschaftler und die deutsche Sprache von internationalen Verbänden, Kongressen und Publikationen aus und gründeten unter ihrer Führung neue internationale Wissenschaftsorganisationen. Davon betroffen waren auch medizinische Vereinigungen und Kongresse, z. B. in der Chirurgie, Ophthalmologie und Tuberkuloseforschung. Alliierte Mediziner ersetzten die 1902 in Berlin gegründete „Internationale Vereinigung gegen die Tuberkulose“ durch die 1920 in Paris errichtete „Union Internationale contre la Tuberculose“/„International Union against Tuberculosis“. Nur noch Französisch und Englisch wurden in den neuen Wissenschaftsorganisationen – ebenso wie im Völkerbund – als die offiziellen Sprachen verwendet. Begründet wurde der Boykott damit, dass die deutschen Gelehrten in einem 1914 verbreiteten Aufruf „An die Kulturwelt!“ die Kriegsschuld und die Kriegsverbrechen Deutschlands geleugnet und den deutschen Militarismus verherrlicht hatten. Der Boykott begann 1919 und musste 1926 abgebrochen werden, als Deutschland Mitglied des Völkerbunds wurde. Viele deutsche und ausländische Mediziner protestierten ebenso wie andere Wissenschaftler gegen den Boykott; einige deutsche Wissenschaftler und Institutionen veranstalteten sogar einen Gegenboykott und erschwerten dadurch die Wiederaufnahme der internationalen Zusammenarbeit. Der Boykott bewirkte langfristig den Rückgang des Deutschen als internationale Wissenschaftssprache. Nach dem Zweiten Weltkrieg unternahmen die Wissenschaftler der westlichen Siegermächte eine umfassende Neuorganisation des internationalen Wissenschaftsbetriebs, die auf den 1919/1920 geschaffenen Organisationsstrukturen und Sprachenregelungen aufbaute. Gleichzeitig betrieben US-amerikanische Wissenschaftler eine aktive Sprach- und Publikationspolitik, um die Dominanz des Englischen im internationalen Wissenschaftsbetrieb durchzusetzen.

Abstract

After the First World War, the Allied academies of sciences staged a boycott against German scientists and the German language. The objective of the boycott was to prevent the re-establishment of the prewar dominance of German scientists, the German language and German publications in the area of international scientific cooperation. Therefore the Allies excluded German scientists and the German language from international associations, congresses and publications, while they created new international scientific organizations under their leadership. Medical associations and congresses were also affected, e. g. congresses on surgery, ophthalmology and tuberculosis. Allied physicians replaced the “International Anti-Tuberculosis Association” founded in Berlin in 1902 with the “Union Internationale contre la Tuberculose”/“International Union against Tuberculosis”, founded in Paris in 1920. Only French and English were used as the official languages of the new scientific organizations, just as in the League of Nations. The boycott was based on the fact that the German scientists had denied German war guilt and war crimes and glorified German militarism in a manifesto “To The Civilized World!” in 1914. The boycott first started in 1919 and had to be abolished in 1926, when Germany became a member of the League of Nations. Many German and foreign physicians as well as other scientists protested against the boycott. Some German scientists and institutions even staged a counter-boycott impeding the resumption of international collaboration. The boycott entailed an enduring decline of German as an international scientific language. After the Second World War scientists of the victorious Western Powers implemented a complete reorganization of the international scientific arena, based on the same organizational structures and language restrictions they had built up in 1919/1920. At the same time scientists from the U.S.A. staged an active language and publication policy, in order to establish the dominance of English in the international scientific arena.