Klin Monbl Augenheilkd 2013; 230(12): 1257-1258
DOI: 10.1055/s-0033-1351057
Editorial
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Editorial zu „Vom Auge eines Hingerichteten“

Editorial on „The Eye of an Executed Human“
D. J. M. Rohrbach
Department für Augenheilkunde, Forschungsbereich Geschichte der Augenheilkunde/Ophthalmopathologisches Labor, Eberhard-Karls-Universität Tübingen
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Publication History

eingereicht 13 October 2013

akzeptiert 14 October 2013

Publication Date:
10 December 2013 (online)

Die deutsche Medizin im Nationalsozialismus wird seit etwa 20 Jahren intensiv erforscht [1]. Die Kinderheilkunde hat dabei eine Vorreiterrolle eingenommen [2]. Es folgte die Dermatologie [3]. Beiden Fachdisziplinen war gemein, dass sie mit bis zu 50 % einen besonders hohen Anteil jüdischer Fachkollegen aufwiesen (Ophthalmologie 1934 ca. 13 % [4]), was einen wesentlichen Impuls zum Beginn der Forschungen zur NS-Vergangenheit darstellte. Anlässlich des Kongresses „Medizinische Fachgesellschaften im Nationalsozialismus“ im Oktober 2013 in Aachen wurde evident, dass mittlerweile mit ganz wenigen Ausnahmen alle deutschen medizinischen Fachgesellschaften Anstrengungen unternommen haben bzw. unternehmen, um die eigene Geschichte in der Zeit von 1933–1945 zu erforschen bzw. – zu einem großen Teil mit professioneller medizinhistorischer Unterstützung – erforschen zu lassen. Die während der NS-Zeit „politisch eher unbedeutende“ Augenheilkunde ist auf dem Weg der Aufarbeitung ihrer NS-Vergangenheit seit 1999 sehr gut vorangekommen [5], [6] und weiter als die meisten anderen Fachdisziplinen. Dennoch bleiben auch für die Ophthalmologie noch einige Forschungsdesiderate [5]. So stehen z. B. eingehendere Untersuchungen zu Gewebsproben „zweifelhafter Herkunft“, die von Augenärzten für Forschungszwecke verwendet wurden, noch aus. Stephan Töpel und Frank Tost kommt das Verdienst zu, mit ihrem nachfolgenden Beitrag „Vom Auge eines Hingerichteten“ [7] diesbezüglich einen wichtigen Anfang gemacht zu haben, ist doch Heinrich Krümmel wahrscheinlich der erste Ophthalmologe, dem dank dieser Recherchen eine „zweifelhafte Materialgewinnung“ nachgewiesen werden konnte. Es würde indes nicht ganz verwundern, wenn die Autoren nur an der Spitze des Eisbergs gekratzt hätten und weitere, ähnlich gelagerte Fälle bei (bisher noch nicht erfolgter) intensiver inhaltlicher Analyse der während der NS-Zeit entstandenen deutschen Publikationen zutage treten würden. Auf dem Gebiet von Neuropathologie, Pathologie und Anatomie [8] wurden Gewebsproben von Euthanasieopfern und Hingerichteten z. T. schon vor vielen Jahren identifiziert, aus Präparate- und Schausammlungen entfernt und bestattet. Die Diskussion, wie heute mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen umzugehen ist, die aus diesen seinerzeit juristisch legalen, vom heutigen Standpunkt aber amoralischen Untersuchungen gewonnen wurden, bleibt noch zu führen.

 
  • Literatur

  • 1 Jütte R. Medizin und Nationalsozialismus. Bilanz und Perspektiven der Forschung. Göttingen: Wallstein; 2011
  • 2 Seidler E. Kinderärzte 1933 – 1945: Entrechtet – geflohen – ermordet. Bonn: Bouvier; 2000
  • 3 Eppinger S. Das Schicksal der jüdischen Dermatologen Deutschlands in der Zeit des Nationalsozialismus. Frankfurt/Main: Mabuse; 2001
  • 4 Rohrbach JM, Süsskind D, Hennighausen U. Jüdische Augenärzte im Nationalsozialismus – eine Gedenkliste. Klin Monatsbl Augenheilkd 2011; 228: 70-83
  • 5 Rohrbach JM. Augenheilkunde im Nationalsozialismus. Stuttgart: Schattauer; 2007
  • 6 Rohrbach JM. Editorial zu „Augenheilkunde im Nationalsozialismus – das Greifswalder Berufungsverfahren 1938“. Klin Monatsbl Augenheilkd 2013; 230: 1257-1258
  • 7 Töpel S, Tost F. Vom Auge eines Hingerichteten. Klin Monatsbl Augenheilkd 2013; 230: 1259-1262
  • 8 Redies C, Hildebrandt S. Anatomie im Nationalsozialismus. Ohne jeglichen Skrupel. Dtsch Ärztebl 2012; 109: B-1968-1969
  • 9 Mitscherlich A, Mielke F. Medizin ohne Menschlichkeit. Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses. 15.. Aufl. Frankfurt/Main: S. Fischer; 2001
  • 10 Klee E. Deutsche Medizin im Dritten Reich. Karrieren vor und nach 1945. Frankfurt/Main: S. Fischer; 2001