Dtsch Med Wochenschr 2012; 137(51/52): 2683-2688
DOI: 10.1055/s-0032-1327364
Weihnachtsheft
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Heilkunst versus Heilkunde aus medizinhistorischer Perspektive

Art of healing versus medical science – a medico-historical view
R. Jütte
1   Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung
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Publikationsdatum:
11. Dezember 2012 (online)

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Kritik an der modernen Medizin

Unter den Kritikern der modernen Medizin finden sich nicht wenige Literaten. Einer der bekanntesten „Ärzte-Hasser“, den der Medizinjournalist Werner Bartens [1] allerdings nicht in seinem gleichnamigen medizinkritischen Bestseller erwähnt, ist der englische Dramatiker George Bernard Shaw (1856–1950). In der Vorrede zu seinem Theaterstück „Des Doktors Dilemma“ aus dem Jahr 1911 verneint er die Frage, ob Ärzte „Männer der Wissenschaft“ seien, und erklärt apodiktisch:

„Die Heilkunde ist eine Kunst, keine exakte Wissenschaft“ [2].

Der bekannte Bühnenautor knüpft mit dieser Behauptung an eine lange Tradition an, die die medizinische Tätigkeit als Heilkunst ansah und den zweiten Wortbestandteil semantisch ernst nahm.

Seit wann gibt es nun diese Dichotomie zwischen Heilkunst und Heilkunde? Die Wurzeln dieses Antagonismus reichen bis in das späte 18. Jahrhundert, als sich die Medizin von dem hippokratisch-galenischen Lehrgebäude zu verabschieden begann und nach einer neuen theoretischen Fundierung der ärztlichen Tätigkeit Ausschau hielt, die man – genauer gesagt: die Richtung der sogenannten Romantischen Medizin – zunächst in der Naturphilosophie glaubte gefunden zu haben. Machen wir uns zunächst auf die Suche nach der verlorenen Einheit und wenden wir uns der Antiken Medizin zu, in der es angeblich den Gegensatz von Heilkunde und Heilkunst noch nicht gab.