Dtsch Med Wochenschr 1914; 40(8): 382-385
DOI: 10.1055/s-0029-1190201
© Georg Thieme Verlag, Stuttgart

Ueber die Neurasthenie der Bleikranken

Samson Hirsch
  • Aus der Medizinischen Universitätsklinik in Heidelberg. (Direktor: Geheimrat Krehl.)
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Publication Date:
03 July 2009 (online)

Zusammenfassung

  1. Neben den verschiedenen körperlichen Aeußerungen des chronischen Saturnismus spielen allgemeine zentralnervöse Affektionen, die in vornehmlich subjektiven Beschwerden zutagetreten, eine Rolle. Diesen Symptomenkomplex, der zuerst von Westphal beschrieben wurde, können wir als eine psychische Manifestation der primären Bleiintoxikation (Dyskrasie), abgrenzbar gegen das Bild der bekannten Enzephalopathie, auffassen.

  2. Die „Neurasthenia saturnina” ist von allen Erscheinungen des Saturnismus eine der häufigsten. Die Dürftigkeit der bisherigen Statistik und das Unspezifische des Krankheitsbildes, das die Diagnose sehr erschwert, hat die Bedeutung dieser Erkrankung bisher wenig hervortreten lassen.

  3. Die Häufigkeit und Gleichartigkeit dieses Symptomenbildes bei Bleiarbeitern zwingt dazu, diese Verknüpfung als eine nicht zufällige zu betrachten. Der exakte wissenschaftliche Beweis für die saturnine Natur dieser Beschwerden ist freilich nicht erbracht und auch einstweilen nicht zu erbringen. Einige Autoren haben die neurasthenischen Symptome lediglich als Prodromi der Encephalopathia saturnina aufgefaßt (15). Wir können diese Frage nicht entscheiden, wollen aber betonen, daß eine Neurasthenia saturnina, die zu Enzephalopathie geführt hätte, bisher einwandfrei nicht beobachtet worden ist; man kann somit höchstens von einer Aehnlichkeit der diesen organischen, zentralnervösen Krankheitsprozeß einleitenden Phasen mit den neurasthenischen Symptomen sprechen. Aber davon abgesehen, ist der Begriff der Encephalopathia saturnina vielfach umstritten und im Laufe der geschichtlichen Entwicklung für verschiedenartige Erkrankungen angewandt worden.

Wir müssen es ablehnen, auf das Wesen der chronischen Bleivergiftung an sich hier näher einzugehen, und wollen nur darauf hinweisen, daß man außer mittels theoretischer Erwägungen in neuerer Zeit auch auf experimentellem Wege ihrer eigentümlichen Erscheinung näher gekommen ist (16). Wir glauben, daß die Neurasthenia saturnina eine innigere Beziehung zur Allgemeinintoxikation hat als etwa die Kolik, die Arthralgie, die Amblyopie etc., daß sie vielleicht — in einer gewissen Parallele mit der Anämie — als psychische Komponente der Dyskrasie, des allgemeinen somatischen Reizzustandes aufzufassen ist.[*)]

1 In neuerer Zeit haben Untersuchungen über das Wesen der Kachexie dazu geführt, daß man, analog der, Aetiologie endogener Intoxikationen — wie Basedowsche Krankheit. Morbus Addisonii, Karzinose etc. — auch für die auf Blei. Arsen und Quecksilber beruhenden Dyskrasien und Kaehexien eine ätiologische Beziehung zu den „Drüsen mit innerer Sekretion” vermutet hat. (Siehe Umber, in Handb. d. spez. Path. u. Ther. von Kraus und Brugsch. 1. Lief. 1913). Anderseits ließen vorübergehende Veränderungen des Blutbildes (besonders Lymphozytose) bei Neurasthenie (wie auch bei Basedowscher Krankheit, Myxödem, Asthma u. a.) auf einen Zusammenhang zwischen der Neurasthenie mit Funktionsstörungen der blutbildenden Drüsen spez. der Thymus schließen. (Siehe Hoesslin, M. m. W. 1913 Nr. 22.) Berücksichtigt man, daß Mosny und Malloizel (Revue de M. 1907 S. 505 ff.) eine auffallende Lymphozytose der Meningealflüssigkeit bei Bleikranken in allen untersuchten Fällen beobachtet haben, so liegt der Gedanke nahe, daß hier die Fäden für ätiologische Momente der Bleikrankheit und der Neurasthenie zusammentreffen.

1 In neuerer Zeit haben Untersuchungen über das Wesen der Kachexie dazu geführt, daß man, analog der, Aetiologie endogener Intoxikationen — wie Basedowsche Krankheit. Morbus Addisonii, Karzinose etc. — auch für die auf Blei. Arsen und Quecksilber beruhenden Dyskrasien und Kaehexien eine ätiologische Beziehung zu den „Drüsen mit innerer Sekretion” vermutet hat. (Siehe Umber, in Handb. d. spez. Path. u. Ther. von Kraus und Brugsch. 1. Lief. 1913). Anderseits ließen vorübergehende Veränderungen des Blutbildes (besonders Lymphozytose) bei Neurasthenie (wie auch bei Basedowscher Krankheit, Myxödem, Asthma u. a.) auf einen Zusammenhang zwischen der Neurasthenie mit Funktionsstörungen der blutbildenden Drüsen spez. der Thymus schließen. (Siehe Hoesslin, M. m. W. 1913 Nr. 22.) Berücksichtigt man, daß Mosny und Malloizel (Revue de M. 1907 S. 505 ff.) eine auffallende Lymphozytose der Meningealflüssigkeit bei Bleikranken in allen untersuchten Fällen beobachtet haben, so liegt der Gedanke nahe, daß hier die Fäden für ätiologische Momente der Bleikrankheit und der Neurasthenie zusammentreffen.

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