Zusammenfassung
Wenn wir die vorliegende Krankheitsgeschichte ganz kurz zusammenfassen, so finden
wir, daß bei einem gesunden 13jährigen Jungen (dessen Urgroßvater eine Myelitis subacuta
mit Defektheilung durchgemacht hatte) nach einer sehr starken Durchkältung und großen
körperlichen Anstrengung, die sich im Laufe von 8 Tagen (dazu kam noch ein heftiger
Fall aufs Gesäß) wiederholt hatte, anfänglich ein Zustand von „Muskelrheumatismus”
mit mäßiger Temperatursteigerung auftrat. Todesangstträume in der ersten und zweiten
Nacht decken deutlich das schwere subjektive Krankheitsgefühl auf. Als erstes zentrales
Symptom zeigt sich am 2. Krankheitstag — abgesehen von spontanen Muskelzuckungen —
eine Urinrentention, bis am gleichen Abend unter zunehmenden heftigsten — nur durch
Morphium bekämpfbaren —. Schmerzen hohes Fieber auftritt. Am 3. Krankheitstag setzt
eine bis zum Abend fast völlige Lähmung der unteren Extremitäten, der Becken-, Bauch-
und Rückenmuskeln ein. Auch die Arme und Hände sind subjektiv beteiligt. Die anfänglich
gesteigerten Patellar-, Achilles- und Fußsohlenreflexe schwächen sich ab und sind
am 4. Krankheitstag, nachdem Bauch- und Kremasterreflexe bereits tags zuvor nicht
mehr auslösbar waren, verschwunden. Gleichzeitig besteht rasch zunehmender Opisthotonus,
ein geringerer Grad von Nackensteifigkeit, starke Druckempfindlichkeit der gesamten
Muskulatur und Nervenstämme ohne Störungen der Sensibilität. Incontinentia alvi. Der
Urin ist im Sinne einer hochfieberhaften Allgemeininfektion verändert, die Zunge,
wie meist bei schweren Infektionskrankheiten, dick-weiß belegt. Dabei besteht schwerstes
Krankheitsgefühl, bei stets freiem Sensorium.
Das am 1. Krankheitstag gegebene Chinin (3mal 0,1) wird am 2. Krankheitstag nicht
mehr verabreicht, weil Pyramidon in kleinen Dosen als schmerzstillendes Mittel gegeben
werden mußte. Am 3. Krankheitstag, sobald der zentrale Charakter der Erkrankung sichergestellt
war, wird Chinin in großen Dosen (0,8 in 24 Stunden), ebenso Septojod (2mal am 1.
Tag) gegeben. Bereits am Tage der großen Chinin- und Joddosen sank das Fieber, und
am Tage danach (4, Krankheitstag) begann der Rückgang der Lähmungserscheinungen. Am
5. Krankheitstag sind Achilles- und Fußsohlenreflexe wieder auslösbar. Am 6. Krankheitstag
stellt sich die spontane Blasenfunktion, wenn auch anfangs noch etwas zögernd, ein.
Die Zunge reinigt sich. Die Muskellähmung ist an diesem Tag fast völlig, 2 Tage später
gänzlich geschwunden. Vom 7. Krankheitstag ist die Temperatur, die an dem einen Tag,
an dem Chinin und Septojod ausgesetzt waren (5. Tag) wieder deutlich angestiegen war,
nahezu normal. Die Eiweißtrübung im Urin ist fast verschwunden. Am 9. Krankheitstag
zeigt das Bild die so häufig nach schweren Infektionen auftretende Bradykardie, die
sich nach wenigen Tagen verliert. Am 11. Tag sind alle Reflexe wieder vorhanden, das
anfänglich so schwere Krankheitsgefühl ist so völlig verschwunden, daß Patient bereits
das Bett zu verlassen wünscht. Der Urin ist von nun an chemisch und mikroskopisch
normal.
Chinin wird in absteigenden Dosen bis zum 8. Tag, Septojod bis zur restlosen Normalisierung
der Temperatur (14. Tag), mit einer Ausnahme, täglich gegeben (etwa 10 ccm — meist
intravenös).
Bereits am 13. Tag kann der Junge (für eine Minute aus dem Bett geholt) gehen und
stehen. Am 24. Tag — nach 10 ganz fieberfreien Tagen — steht er zum erstenmal auf.
Die Rekonvaleszenz vollzieht sich normal, wenn vielleicht auch etwas langsam. 2 Monate
nach Beginn der Erkrankung geht Patient wieder zur Schule und ist restlos wiederhergestellt.
Ich glaube, daß die Diagnose Myelomeningoneuritis acutissima nach meiner Schilderung
keinem Zweifel unterliegt und daß deshalb irgendwelche differentialdiagnostische Erwägungen
an dieser Stelle überflüssig sind.
Erscheinungen von seiten des Gehirns, also rein enzephalitische Symptome, waren nie
vorhanden. Ob die anfänglich in so großer Heftigkeit auftretenden Schmerzen meningitischer
oder neuritischer Natur waren, läßt sich nicht entscheiden.
Sicherlich waren aber die hinteren Wurzeln, nach der Art der Schmerzen zu schließen,
ergriffen. Auch die unwillkürlichen Muskelzuckungen sprechen für motorische Reizerscheinungen
im Wurzelgebiet. Rückensteifigkeit, Opisthotonus, Nackensteifigkeit zeigen die Mitbeteiligung
der Meningen.
Eine Querschnittsmyelitis bestand nicht, wohl aber eine vom Sakralmark (Retentio urinae:
Initialsymptom, Incontinentia alvi) innerhalb 24 Stunden bis zum Halsmark aufsteigende
diffuse Myelitis, die in dieser Zeit zu schwerster Parese eines großen Teils der Muskulatur
und Areflexie führte. Vor der Medulla oblongata machte der Prozeß halt.
Viel schneller als bei der Landryschen Paralyse, ganz anders wie bei der Poliomyelitis,
vollzog sich die Ausbildung der Lähmung und restlose Rückbildung der gelähmten Muskeln.
Von neuritischen Symptomen bestand, abgesehen von der Druckempfindlichkeit der Muskeln
und Nervenstämme, nur die Hauthyperästhesie, da wir die anatomische Ursache der heftigsten
Schmerzen zentraler verlegen. Wenngleich selten vorkommend, ist es doch allgemein
bekannt, daß meningitische und neuritische Symptome den myelitischen Prozeß komplizieren
können. Schon Oppenheim betont, daß in zweifelhaften Fällen das Hervortreten von Rückenschmerzen,
ausstrahlende Schmerzen in die Extremitäten, Rückensteifigkeit, das Vorhandensein
meningoneuritischer Symptome anzeigen. Interessanterweise faßt er diese neuritischen
Symptome als Zeichen von relativ guter Vorbedeutung auf „wenn er berechtigt ist, aus
wenigen Beobachtungen diesen Schluß zu ziehen”.
Wenn wir nach der Ursache dieser ganz schweren Erkrankung forschen, so dürfen wir
wohl — besonders nach den eingangs erwähnten Ansichten, die schwere Durchkältung,
im Verein mit großer körperlicher Anstrengung (beides sich innerhalb 8 Tagen wiederholend)
und wohl zuletzt auch den Fall auf das Gesäß (Beginn im Sakralmark) als die letzten
äußeren ursächlichen Faktoren ansprechen.
Was die Frage der Therapie anlangt, so ist es selbstverständlich bei strenger Kritik
sehr schwierig, den günstigen Ausgang der Erkrankung allein oder vorzugsweise auf
die Behandlung zurückzuführen. Dies um so mehr, als ja Fälle bekannt sind, die auch
ohne alle Behandlung heilten. Blättert man in den Lehrbüchern, durchforscht man die
Literatur[1)] und sucht nach Medikamenten, die in solchen Fällen empfohlen werden, so stößt man
immer wieder auf die beiden, die vielleicht unseren Fall entscheidend beeinflußten:
Chinin und Jod.
Das am 1. Tag verabreichte Chinin (3mal 0,1) hat nach unserer Erfahrung bei anderen
Infektionskrankheiten (z. B. bei der Impfmalaria) nach etwa 24 Stunden seine Wirksamkeit,
wenn es überhaupt wirkt, eingebüßt: 26 Stunden nach der letzten Chinindosis des 1.
Tages setzt die unvermittelte Verschlimmerung ein. Am 3. Tag, dem Tag des rapiden
Fortschreitens des myelitischen Prozesses, wird Chinin und Jod in großen Dosen gegeben:
die Krankheit schreitet noch 12 Stunden fort und geht dann mit dem absinkenden Fieber
zurück. Am 11. XII. an dem wegen der Gefahr eines Arzneiexanthems Chinin und Jod ausgesetzt
werden, steigt die Temperatur deutlich an, um bei Wiedereinsetzen der Chinin-Jod-Darreichung
weiterhin rasch abzusinken. Das alles mag ein Zufall sein, und ich selbst möchte mich
keineswegs auf den Erfolg dieser Behandlung festlegen. Jedenfalls aber kann diese
Art der Therapie doch eine Richtschnur sein für analog gelagerte Fälle. Darin stimme
ich ganz mit Economo und den anderen zitierten Autoren auf Grund zahlreicher eigener
Beobachtungen überein: das Medikament, das sich uns bei der Enzephalitisbehandlung
am meisten bewährt hat (abgesehen von der gelegentlich bei akuten Fällen wirksamen
Inunktionskur) ist das Septojod[2)]. Und zwar ist es viel wirksamer bei der akuten als bei der subakuten und chronischen
Form der Enzephalitis, die ja einstweilen therapeutisch noch recht unbefriedigend
ist. Selbstverständlich sah ich aber auch bei der akuten Enzephalitis Fälle, die jeder
Behandlung trotzten. Vom Rekonvaleszentenserum halte ich nicht viel.
Eine Kontraindikation gegen das Chinin besteht nicht. Die Chininidiosynkrasie ist
ja glücklicherweise ungemein selten, wie all die Tausende von chininbehandelten Impfmalariafälle
beweisen, die dieses Medikament anstandslos vertragen.
Ich empfehle im Interesse intensivster Wirkung des Septojods— nach einer probatorischen
intramuskulären Injektion von 2,0 — bei akuten Fällen, wie bei dem unseren, das Septojod
intravenös zu geben, je nach der Schwere des Falles 5, 8, 10, 20 ccm täglich, eventuell
zweitägig. 48 Stunden nach intravenöser Septojodinjektion ist gewöhnlich Jod im Urin
nicht mehr nachweisbar.
Gelegentlich sah ich bei täglichen Septojoddosen von 10,0 leichten Jodismus auftreten,
der zu Reduktion der Dosis auf etwa die Hälfte, nicht aber zum Absetzen des Mittels
zwang.
Schädliche Folgen des Septojods sah ich, wenn man es in diesen Dosen täglich bzw.
zweitägig (bis zu 200 und 300 ccm Gesamtdosis) gab, bisher nur einmal bei einem Fall
von subakuter Myelitis. Hier wurde eine latente, keine Erscheinungen machende und
bei der Lungenuntersuchung nicht entdeckte Lungentuberkulose aktiviert. Es kam bereits
nach der 5. Injektion zu akuten Lungenerscheinungen, Fieber, Auswurf mit Tuberkelbazillen.
Diese höchst unerwünschte Provokation klang nur sehr langsam ab. Bisher sah ich aber
nie, auch bei B. Typ-Kranken, nach Septojod thyreotoxische Symptome auftreten. Die
Mög
lichkeit der Provokation solcher Symptome ist aber gewiß nicht von der Hand zu weisen,
und die Warnung bei latenter Tuberkulose und Thyreotoxikose, auch bei Patienten mit
deutlicher Struma vorsichtig zu sein, ist wohl nur allzu berechtigt. Sonst aber kann
ich auf Grund von Erfahrungen an einem relativ großen Material das Septojod bei akuten
und subakuten „Enzephalitisfällen” als das wirksamste — und mit obigen Einschränkungen
— auch ungefährliche Mittel empfehlen. Je akuter die Erkrankung, desto intensiver
und schneller wird man das Septojod dem Organismus zuführen, das geschieht am besten
auf intravenösem Wege. Ist keine unmittelbare Gefahr im Verzuge, dann kann man ebensogut
das Septojod intraglutäal geben. Zumeist wird es auch so schmerzlos und glatt vertragen.
Auch bei akuten Neuralgien hat sich mir das Septojod häufig sehr bewährt.
Bei chronischen Enzephalitisfällen versagt leider das Septojod nur allzu oft. Oft
hört man von solchen Patienten, daß die Beschwerden unmittelbar im Anschluß an die
Injektion nachlassen: Bald sind sie aber zumeist — auch bei prolongierter Behandlung
— wieder im alten Umfange da. Bei solchen Fällen wird man nach anderen therapeutischen
Wegen suchen müssen — soweit man überhaupt helfen kann. Vielleicht hilft uns hier
die Erzeugung künstlichen Fiebers weiter.