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DOI: 10.1055/s-0028-1135938
© Georg Thieme Verlag, Stuttgart
Zur Geschichte des coffeinfreien Kaffees
Publication History
Publication Date:
11 August 2009 (online)

Ueber den coffeinfreien Kaffee
Zusammenfassung
“Es ist alles schon dagewesen”, sagt der Weise, und er umgreift mit diesem Ausspruch alle Erscheinungsformen des Universums. Wollte ihn jemand etwa auch auf medizinische Publizistik und besonders auf die volksbeglückenden Gaben anwenden, zu denen eine tatkräftige Industrie von der fortschreitenden wissenschaftlichen Erkenntnis inspiriert wird, so müßte er entweder ein großer Ketzer sein oder ein Mann, der seine freie Zeit gerne dazu verwendet, in längst verschollenen Jahrgängen der medizinischen Fachliteratur nachzublättern, um von Zeit zu Zeit durch die bescheidene Freude belohnt zu werden, irgendeine der stolzesten Errungenschaften der Neuzeit unter die “Ollen Kamellen” rubrizieren zu dürfen.
“Das Sturmlaufen gegen unsere verbreitetsten und von den Erdbewohnern geschätztesten Genußmittel bildet eine eigentümliche Signatur unserer Zeit.” Mit diesen Worten leitet Professor Dr. Erich Harnack eine Abhandlung “Ueber den coffeinfreien Kaffee” in No. 45 dieser Wochenschrift ein. Nun, daß derartige Bestrebungen gerade nur unsere Zeit charakterisieren, stimmt so ganz nicht, auch längst vergangene Jahrzehnte empfanden ihre Segnungen. Da findet sich in No. 1 des ersten Jahrganges der “Berliner klinischen Wochensehrift” vom Jahre 1864 ein “Feuilleton”, in dem der anonyme Verfasser, ich vermute, es ist der verstorbene erste Redakteur der Zeitschrift, San.-Rat Posner, in höchst amüsanter Weise sich mit zwei für die Kinder des damals auch schon nervösen Zeitalters höchst erfreulichen Erzeugnissen vaterländischer Industrie, der nikotinfreien Zigarre und, man staune – dem coffeinfreien Kaffee, beschäftigt. Der Erfinder dieses “kastrierten Genussmittels” von Anno 64 ist ein Arzt namens Schulze, der sich auch anderweitig durch rekiamehafte Empfehlungen seiner ärztlichen Tüchtigkeit unliebsam bekannt gemacht zu haben scheint. Der Autor unseres Feulletons hat, wie er schreibt, es heldenmütig unternommen, entgegen dem Satze: fiat experimentum in corpore vili, die angeblich vorzüglichen Eigenschaften des neuen Produktes an seiner eigenen Person zu studieren. Er fand, daß Schulzes coffeinfreier Kaffee jeden epikuräischen Sinneskitzel ausschlösse und daß er geeignet sei, ein Geschlecht zu erziehen, das die fremdländische und depravierende Sitte 1es Kaffeetrinkens freudig aufgibt, um zur patriachalischen Mebisuppe zurütekzukehren.
So ist es nun nicht gekommen: allerorten ist der Kaffee, dieses Herz- und Nervengift, weiter getrunken worden, und Herr Schulze ist mit seinem coffeinfreien Volksbeglückungsmittel vom Schauplatze verschwunden.
Wie der coffeinfreie Kaffee unserer Tage bei seinem Erscheinen das Wort Ben Akibas nicht zu Schanden gemacht hat, so wird er es auch einst mit seinem Abtreten von der Weltbühne nicht tun, und nach 40 Jahren wird vielleicht wieder ein in alter Journal-literatur blätternder Mann auf die Spuren seines Erdenwallens stoßen.