Dtsch Med Wochenschr 1913; 39(28): 1346-1349
DOI: 10.1055/s-0028-1128573
© Georg Thieme Verlag, Stuttgart

Zur Aetiologie der akuten Psychosen1)

L. W. Weber - Direktor der Anstalt
  • Aus der Städtischen Nervenheilanstalt in Chemnitz
1) Nach einem Vortrag auf der Jahresversammlung des Deutschen Vereins für Psychiatrie zu Breslau am 14. Mai 1913.
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Publication Date:
26 May 2009 (online)

Zusammenfassung

Manchmal findet sich als anatomisch nachweisbare Grundlage einer scheinbar rein funktionellen Psychose eine Kombination verschiedener Krankheitsprozesse, von denen jeder einzelne die akute, tödlich verlaufende Geistesstörung nicht ausreichend erklären würde. Es handelt sich gewöhnlich um Einwirkung einer akuten Schädigung auf einen schon länger bestehenden chronischen Hirnprozeß. Der letztere kann derartig sein, daß er, obwohl er eine diffuse Veränderung des Gehirns darstellt, doch lange Zeit keine Funktionsstörungen hervorruft und deshalb symptomlos bleibt. Erst unter der Einwirkung der akuten Noxe versagt das durch den chronischen Prozeß beeinträchtigte Gehirn und reagiert mit einer schweren, oft tödlich verlaufenden Funktionsstörung.

Von solchen akuten Schädigungen kommen in Betracht: Traumen, Intoxikationen, Infektionen, Erkrankungen anderer Organe, namentlich Kreislaufstörungen.

Als chronische Hirnprozesse, die lange Zeit symptomlos bleiben können, finden sich diffuse, chronische, fibröse Leptomeningitis, vielleicht als Residuum einer früheren akuten Erkrankung, oder diffuse Sklerose der Hirngefäße. Die letztere, wenn sie in Form der fibrösen Entartung zahlreicher feinerer Gefäßäste auftritt, kann nicht nur längere Zeit symptomlos bleiben, sondern ist oft auch post mortem makroskopisch nicht erkennbar, sodaß erst durch die mikroskopische Untersuchung diese anatomische Grundlage festzustellen ist.

Es ist denkbar, daß auch bei akuten, nicht tödlich verlaufenden Psychosen gelegentlich ein ähnlicher Mechanismus zugrunde liegt, der, weil der chronische Prozeß für sich allein keine Symptome gemacht hat, schwer nachgewiesen werden kann. Dadurch würde sich für manche Fälle die elektive Wirkung akuter Schädigungen erklären, ohne daß man jedesmal zu der Hypothese einer endogenen Prädisposition seine Zuflucht zu nehmen braucht. Auch andere organische Hirnerkrankungen bestimmter Art, z. B. meningitische Prozesse, Tumoren, können gelegentlich durch eine solche Kombination von zwei ganz anders gearteten Veränderungen vorgetäuscht werden.