Dtsch Med Wochenschr 1935; 61(44): 1753-1757
DOI: 10.1055/s-0028-1122631
© Georg Thieme Verlag, Stuttgart

Die Bedeutung exogener und endogener Faktoren für Entstehung und Verlauf der Tuberkulose

Bruno Lange
  • Aus dem Institut „Robert Koch” in Berlin
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Publication Date:
03 September 2009 (online)

Zusammenfassung

Ich habe zu zeigen versucht, wie bei der Tuberkulose Krankheitsentstehung und Verlauf abhängt von dem Zusammenwirken äußerer und innerer Faktoren. Sie haben wohl gesehen, wie schwierig es ist, die Wirkungen dieser Faktoren gegeneinander abzugrenzen. Trotzdem glaube ich, auf Grund der gesamten experimentellen Erfahrungen und Beobachtungen am Menschen folgendes sagen zu dürfen.

Neben der Infektion, die eine conditio sine qua non für die Krankheitsentstehung ist, muβ die natürliche Resistenz als entscheidend für den Ablauf der Tuberkulose angesehen werden. In den Unterschieden der individuellen Resistenz und ihren zeitlichen Schwankungen ist in erster Linie die große Mannigfaltigkeit der Krankheitsformen begründet. Infektionsdosis, Virulenz der Erreger, Infektionsfolge und Wiederholung haben für Entstehung und Verlauf der Krankheit bei weitem nicht die Bedeutung, die diesen Faktoren noch heute vielfach zugesprochen wird. Die mit der tuberkulösen Infektion erworbene spezifische Immunität richtet sich gegen Superinfektionen von außen, sie formt bis zu einem gewissen Grade auch die Krankheit selbst nach Tempo, Umfang, Intensität der spezifischen Prozesse, auch die jeweils bestehende Allergie beteiligt sich an der Gestaltung des Krankheitsbildes, eine entscheidende Bedeutung für das Schicksal des Infizierten ist aber diesen spezifischen Abwehrkräften nicht zuzusprechen.

Diese Einschätzung der Tuberkuloseimmunität und Allergie, wesentlich aus neuen experimentellen Beobachtungen gewonnen, steht nun — und das scheint mir besonders wichtig — durchaus im Einklang mit den jahrzehntelangen Mißerfolgen einer spezifischen Prophylaxe der Tuberkulose auf dem Wege der Schutzimpfung und mit den vielen Enttäuschungen, die wir seit Koch auf dem Gebiet der spezifischen Therapie erlebt haben. Die Auffassung von der überragenden Bedeutung der natürlichen Resistenz für das Krankheitsgeschehen wird auf der andern Seite, wie Friedrich v. Müller mit Recht betont hat, gestützt durch den Erfolg der bekannten unspezifischen Behandlungsmethoden der Tuberkulose. Unsere ganze Tuberkulosetherapie läuft ja letzten Endes auf eine Stärkung der natürlichen Abwehrkräfte des Körpers hinaus.

Die natürliche Resistenz hat eine erblich konstitutionelle Grundlage, aber die in der erblichen Anlage enthaltenen Gestaltungsfaktoren werden weitgehend modifiziert durch Umwelteinflüsse, im besonderen durch die soziale Lage der Infizierten. Eine besondere erbliche Tuberkulosehinfälligkeit der Nachkommen aus Sippen mit Tuberkulösen hat sich bisher nicht sicher nachweisen lassen. Äußere Merkmale der Körperverfassung, an denen die ererbte Anlage zur Tuberkulose sichtbar wird, kennen wir nicht. Ein eugenisches Vorgehen gegen Tuberkulöse oder ihre Nachkommen muß deshalb als mangelhaft begründet abgelehnt werden, eine Empfehlung irgendwelcher Maßnahmen gegen die Tuberkulose unter dem Gesichtspunkt der Rassenhygiene kann, besonders wenn sie in breiter Öffentlichkeit erfolgt, nur Schaden stiften, indem sie die Aufmerksamkeit des Volkes und der Ärzteschaft von den Zielen einer vernünftigen Seuchenbekämpfung ablenkt, und weil sie bei den verantwortlichen Organisationen des Staates und der Gemeinden den Glauben erwecken könnte, als seien die Tuberkulösen zum großen Teil schlechtes Erbgut, dessen künstliche Erhaltung vom rassehygienischen Standpunkt aus nicht wünschenswert sei. Eine solche Propaganda könnte gerade in der heutigen Zeit mit ihrem katastrophalen Geburtenrückgang für unser Volk recht verhängnisvoll werden.

Auf der anderen Seite halte ich es nicht für richtig, wenn gesagt wird, die Tuberkulose sei für den Rassenhygieniker überhaupt kein Problem. Das ist sie in gewissem Sinne doch, denn die Bekämpfung der Tuberkulose dient ja nicht nur der Gesunderhaltung der lebenden Generationen, sondern sie dient wie die Bekämpfung jeder anderen Volksseuche zugleich der Zukunft unseres Volkes. Auch unter diesem Gesichtspunkt muß bei der Tuberkulosebekämpfung der Schwerpunkt auf die Prophylaxe gelegt werden, d. h. auf die Ansteckungsverhütung und die Verhütung der Krankheitsentstehung nach erfolgter Infektion. Eine erfolgreiche Prophylaxe ist aber nur möglich, wenn die Bedeutung exogener und endogener Faktoren für die Krankheitsentstehung und ihren Verlauf richtig eingeschätzt wird. Gelingt dies in Zukunft, und ist es möglich, auf diesen Erkenntnissen aufbauend, den Abwehrkampf in immer volikommenerer Weise zu organisieren, so würden wir damit zugleich am schönsten das Andenken des großen Meisters ehren, dessen Lebensarbeit wir es zu danken haben, daß sich unser Abwehrkampf gegen die Tuberkulose auf sicherer Grundlage aufbaut.

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