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DOI: 10.1055/s-0028-1121679
© Georg Thieme Verlag, Stuttgart
Sogenannte Arzneimittelidiosynkrasien
Publikationsverlauf
Publikationsdatum:
04. Mai 2009 (online)

Zusammenfassung
1. Die Nebenwirkungen, die dem Gebrauch verschiedener Medikamente folgten, werden zusammengestellt. So wurden beobachtet nach:
Ephedrin: Purpuraähnliche Hauteruptionen, Dermatitiden, Akne varioloformis (Lamson und Chambers [123]), Kopfschmerzen, Schwindel, Schlaflosigkeit, Frösteln, Hitzegefühl, Unruhe, Depressionen, Gewichtsabnahme, Nausea, Tremor, Schweißausbrüche, choreiforme Bewegungen, Mydriasis, Dyspnoe, Herzpalpationen, Extrasystolen, Arrhythmien, Harnverhaltung, Harnretention, Impotentia coeundi.
Chinin: Pruritus, Urtikaria, Ekzeme, Toxikodermien, Kopfschmerzen, Fieber, Lichtscheu, Konjunktivitis, vasomotorischer Schnupfen, Dyspnoe, Asthma bronchiale, Flimmerskotome, Erbrechen, Diarrhöen.
Jod: Jodakne, Urtikaria, erythematöse und bullöse Dermatitiden, Pemphigoide, skarlatiniforme Exantheme, vasomotorischer Schnupfen.
Barbitursäure-Präparate: Ekzeme, morbilliforme und skarlatiniforme Exantheme mit Fieberreaktionen.
Luminal: Lokal begrenzte und generalisierte exanthematöse und urtikarielle Hauteruptionen, Konjunktivitis, lokalisierte Ödeme, Kopfschmerzen, Mattigkeit, Temperaturerhöhung, gastrointestinale Erscheinungen.
Pyramidon: Exantheme, Asthma bronchiale.
Arsen: Urtikaria, Exantheme, Dermatitiden sowie Hautaffektionen von verschiedenstem Aussehen wie Roseolen, Papeln, Bläschen, juckende Pusteln oder begrenzte, von Fieber begleitete Ödeme; ferner Kopfschmerzen, Appetitlosigkeit, Nausea, Durchfälle abwechselnd mit Obstipation, trockene Konjunktivitis, Trockenheit in Nase und Rachen, Schnupfen, Heiserkeit, Bronchialkatarrh.
Salvarsan: Encephalitis haemorrhagica, Panmyelophthise, angioneurotischer Symptomenkomplex, fixe Salvarsanexantheme, universelle Salvarsanexantheme, Salvarsandermatitis.
Azetylsalizylsäure: Pruritus, Urtikaria, Erytheme, Ekzeme, Neigung zu Schleimhautblutungen, Asthma bronchiale, Angina pectoris-Syndrom, schwerer Schock und zwei Todesfälle.
Emetin: Ekzem an der Kontaktstelle.
Ipecacuanha: Konjunktivitis, vasomotorischer Schnupfen, Asthma bronchiale nach Inhalation.
Lokalanaesthetica (Novokain, Procain, Apothesin): Ekzem an der Kontaktstelle.
Essigsaure Tonerde: Ätzwirkung an der Kontaktstelle.
Desinficientia: Ekzem an der Kontaktstelle, universelles Ekzem.
Präcipitatsalbe: Fieber, generalisiertes Exanthem, Stomatitis, umschriebene Zyanosen an Händen und Füßen.
Zephirol: Ekzem, Urtikaria.
Graue Salbe: Generalisiertes Exanthem mit Temperaturanstieg, umschriebene Zyanosen an Händen und Füßen.
Gelbe Quecksilberoxydsalbe: Konjunktivitis und Blepharitis nach Kontakt.
Procainhaltige Augentropfen: Dermatitis mit atypischen Erysipelen an der Kontaktstelle.
1% Atropin-Augentropfen: Dermatitis mit atypischem Erysipel an der Kontaktstelle.
Insulin: Außer Lokalreaktionen wie Erythemen, schmerzhaften derben und phlegmonösen Infiltraten und sterilen Abszessen an der Injektionsstelle zahlreiche Allgemeinreaktionen: Erytheme, Pruritus, Urtikaria, Fieberattacken, Quincke-Ödeme, Tachykardien, Blässe, Zittern, Konjunktivitis, Atemnot, Abort Mens V, voll ausgebildeter Generalschock.
Serum: Serumkrankheit, Serumschock, Serumneuritiden.
Lebertherapie: Lokalreaktionen: schmerzhafte und urtikarielle Infiltrate an der Injektionsstelle; Allgemeinreaktionen: Eosinophilie, Urtikaria, Fieberattacken, Gelenkschwellungen, Gewichtsabnahme, Unruhe, Schwächegefühl, Tachykardien, Absinken des Blutdruckes, gastrointestinale Erscheinungen (Erbrechen, Durchfall).
2. Die Zahl der Präparate ist hiermit jedoch keineswegs erschöpft. Es sollte hier nur eine kleine Auswahl gegeben werden. Eine sinngemäße Übertragung der Darstellung auf andere — wahrscheinlich alle! — Arzneimittel ist möglich und muß in allen Fällen bedacht werden, wenn Schäden verhütet oder „ungewöhnliche” Symptome verstanden werden sollen. Treten unerwartete Nebenwirkungen nach Verabfolgung eines Medikaments auf, so ist zu entscheiden, ob es sich um eine allergische Reaktion oder um eine Intoxikationserscheinung handelt. Beide sind voneinander zu trennen; fließende Übergänge scheint es nur bei den Kapillargiften (u. a. Goldpräparate — Sanokrysin) zu geben, doch ist dieser Frage an anderer Stelle noch näher nachzugehen. Intoxikationserscheinungen treten nach Überdosierung auf; das klinische Bild ist abhängig von der selektiven Giftwirkung des auslösenden Medikaments. Kennzeichnend für die allergische Reaktion dagegen ist, daß sie schon nach Resorption kleinster Mengen des auslösenden Medikaments auftritt. Ihr klinisches Erscheinungsbild ist mannigfaltig, doch sind uns die einzelnen Symptome als Begleit- und Teilerscheinung des anaphylaktischen Schocks bekannt. HierZu gehören: Bindehautreizungen und Katarrhe der Konjunktiva, Reizungen der Nasenschleimhaut (Juckreiz, Schnupfen, Niesanfälle), Laryngitis, akute Heiserkeit, asthmoide Zustände, Bronchospasmen, akute Bronchitis, Tracheitis, eosinophiler Auswurf, akute Magenschmerzen, Erbrechen, Singultus, spastische Obstipation, paroxysmale Diarrhöen, Herzklopfen, Bradykardien, Tachykardien, Hautwallungen, „Hitzen”, Frösteln, Zirkulationsstörungen (Hautblässen, Parästhesien, Kribbeln, Hautrötungen, Akrozyanosen), Hautschweiße, Juckreiz, Urtikariaquaddel, Quincke-Ödem, Kopfschmerzen, echte Migräneanfälle, Erregungszustände, motorische Unruhe, akute Angstzustände, Temperatursteigerungen. Andere Symptomenbilder — wie manche Dermatitiden und Ekzeme — sind uns schon lange als Ausdruck einer spezifischen Antigenantikörperreaktion bekannt.
3. Zur Diagnostik der Arzneimittelallergie werden epikutane, perkutane und intrakutane Proben verwendet. Bei den Epikutantesten wird die verdächtige Substanz in wäßriger Lösung oder in Glyzerinsalbengrundlage verteilt und in Form einer Läppchenprobe für 24—48 Stunden appliziert. Die Reaktion wird nach 6, 12, 24 und 48 Stunden abgelesen. Die Probe wird als positiv gewertet, wenn sich die Applikationsstelle durch eine Hautrötung oder ein ödematöses Erythem deutlich von der Umgebung abhebt. Tm gleichen Sinn zu bewerten ist, wenn em bereits völlig abgeklungenes Ekzem oder Exanthem wieder aufflammt. In solchen Fällen beginnt die Hauteruption in der Umgebung des Läppchens. Es empfiehlt sich, bei allen Formen der Hautproben stets Kontrollen an normergisch reagierenden Personen mitlaufen zu lassen, damit eine unspezifische Reizwirkung des betreffenden Medikaments mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann. — Bei der perkutanen Probe werden wäßrige Lösungen auf die skarifizierte Haut gebracht und kurz eindringen lassen. Die Reaktion wird als positiv angesehen, wenn die Ränder der Skarifikationsstelle erhaben und von einem stärkeren roten Hof umgeben sind. Eine Kontrolle mit physiol. NaCl-Lösung ist unbedingt erforderlich. — Bei der Intrakutanprobe beginnt man zweckmäßig mit möglichst großen Verdünnungen und steigert, wenn keine lokalen und Allgemeinreaktionen aufgetreten sind, weiter. So werden die intrakutanen Reaktionen mit folgenden Verdünnungen angestellt:
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Natrium kakodylicum 1:100, 1:10, 1:2
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Neosalvarsan 1:100 000, 1:10 000, 1:1000
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Exhepar 1:1000, 1:100, 1:10
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Serum 1:100
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Emetin 1:100
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Ipecac.-Mazeration 1:100
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Natr. salicyl. 1:10 000, 1:1000, 1:100
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Chininum dihydrochloric.carbamidat. Merck 1:1000, 1:500
Das Insulin wird für die Intrakutanprobe mit 0,9% NaCl so verdünnt, daß die Injektionsmenge (0,05 cm3) 0,008, 0,04, 0,08 Einheiten Insulin enthält.
Die Intrakutanproben werden im Sinne einer positiven Reaktion gedeutet, wenn die Quaddel sich vergrößert hat, eventuell Pseudopodienbildung sichtbar wird, die Haut darüber gespannt und die Quaddel von einem roten Hof umgeben ist. Die Diagnose kann weiterhin gesichert werden durch den Versuch der passiven Übertragung und durch eine vorsichtige Exposition.
4. Bei einer sicheren Arzneimittelallergie verschwinden in den meisten Fällen alle klinischen Symptome bald nach Absetzung des auslösenden antigenfähigen Stoffes. In den Fällen, in denen die anaphylaktischen Schockfragmente durch em für den Kranken unentbehrliches lebenswichtiges Arzneimittel ausgelöst werden, muß eine desensibilisierende Behandlung durchgeführt werden. Em Schema für die Desensibilisierung gibt es nicht. Die Zeit, in der eine solche Behandlung durchgeführt werden muß, wird durch die Schwere der Grundkrankheit und die Stärke der anaphylaktischen Reaktionen bestimmt; sie ist von Fall zu Fall verschieden lang zu bemessen. Man beginnt mit kleinster Antigenbelastung und steigert die peroral oder parenteral zugeführten Antigenmengen so lange, bis man — ohne Schock-reaktion auszulösen — die therapeutische Dosis erreicht hat. Störende anaphylaktische Schockfragmente werden durch Rückgehen mit der Antigenbelastung vermieden und ferner durch Kalzium, Belladonna und Ephedrin, wenn erforderlich, unterdrückt.
5. Wesentlich für die Differentialdiagnose (medikamentöse Vergiftung oder Arzneimittelallergie?) ist, daß kleinste Mengen des Medikamentes sofort zum Schockfragment führen (allergische Reaktion). Klinisch wichtig ist, daß auch feinste Ausschläge und nicht nur der voll ausgebildete Schock frühzeitig als Antigenantikörperreaktion erkannt und behandelt werden. Im Gegensatz zur allergischen Reaktion führt die chronische Intoxikation zur allmählichen Manifestation der Symptome. Die akute Intoxikation ist ja sowieso allein durch die Menge des zugeführten Medikaments gekennzeichnet. Die Diagnose allergischer Reaktionen darf nur gestellt werden, wenn der Nachweis eines pathogenen Antigens, das dem Körper schon früher zugeführt (Sensibilisierung) und dem Organismus kurz vor Ausbruch der Symptome erneut verabfolgt wurde (em der Reinjektion gleichzusetzender Vorgang), erbracht worden ist. Eine anamnestisch angegebene einmalige Überdosierung kann, da eine solche massive Antigenbelastung die Resorptionsverhältnisse verändert, in manchen Fällen als Zeitpunkt der Sensibilisierung angesehen werden.
6. Die Darstellung lehrt, daß jedes Medikament nur bei strenger Indikation und nur mit größter Kritik und Vorsicht angewendet werden soll und nicht, wie es leider vielfach üblich ist, „so leichthin”. Dies gilt ganz besonders für alle parenteralen und noch mehr für alle intravenösen Verabfolgungen. Vor allem aber sollte die Serumtherapie nur auf die wirklich bewährten und lebensrettenden Seren (Tetanus, Diphtherie, Botulismus, Giftschlangenbiß) beschränkt, hier allerdings nicht aus Vorurteil oder falscher Angst unterlassen werden.