Dtsch Med Wochenschr 2025; 150(24/25): 1478-1482
DOI: 10.1055/a-2716-9637
Übersicht

150 Jahre Patellarsehnenreflex: Entdeckung, Deutung und klinische Etablierung

150 years of the patellar tendon reflex: Discovery, interpretation and clinical establishment

Authors

  • Marta Leonora Frank

Ein kurzer schmerzloser Hieb unter die Kniescheibe, gefolgt von einem kurzen Schreck – und schon schnellt ruckartig der Unterschenkel nach vorne. Und das ganz von allein. Diese Szene kennen wir, und schnell kommen Bilder neurologischer Untersuchungen oder auch von Spielen aus Kindheitstagen in den Sinn. Der Patellarsehnenreflex ist uns heute gut bekannt. Doch vor 150 Jahren beschäftigte dieses Phänomen ganz unvermittelt die westliche nervenärztliche Fachwelt außerordentlich.

Abstract

In 1875, two German neurologists simultaneously described a previously unknown phenomenon in the same medical journal: Carl Westphal (1833–1890) referred to it as the “phenomenon of the lower leg”, while Wilhelm Erb (1840–1921) called it the “patellar tendon reflex”.

This novel observation quickly attracted significant attention from the international medical community. Yet many questions remained unanswered: Was this truly a reflex transmitted via the tendons? Nothing comparable had been described before. Where in the spinal cord could its neural circuitry be localized? And how might this phenomenon be clinically useful?

Further complicating its classification was the observation that the reflex could occur in both patients and healthy individuals – but inconsistently, and at times not at all.

Moreover, critical voices from neighboring France repeatedly claimed that Erb and Westphal had merely repackaged previously known findings as their own.

Drawing on extensive research of 19th-century medical literature, this account traces the initial descriptions of the reflex, the subsequent scientific investigations, and its eventual incorporation into clinical neurological practice.

Kernaussagen
  • Die deutschen Nervenärzte Wilhelm Erb und Carl Westphal beschrieben im Jahr 1875 erstmals und unabhängig voneinander das Phänomen des Patellarsehnenreflexes bzw. „Unterschenkelphänomens“ in derselben Fachzeitschrift.

  • Diese neuartige Beobachtung fand in der internationalen medizinischen Fachwelt rasch große Resonanz.

  • Als Ausdruck deutsch-französischer Rivalität auf wissenschaftlicher Ebene werteten französische Nervenärzte die Entdeckung als in Frankreich längst bekannt.

  • Das Konzept der „Sehnenreflexe“ war bis dahin noch nicht beschrieben und wurde nun intensiv erforscht.

  • Der klinische Nutzen musste zunächst geprüft werden – insbesondere, da das Phänomen sowohl bei Gesunden als auch bei Erkrankten auftrat.

  • Erstmals fand der Patellarsehnenreflex breite klinische Anwendung als Diagnostikum bei der Untersuchung von Patientinnen und Patienten mit Tabes dorsalis, einer damals weit verbreiteten Erkrankung.

  • Seither haben Muskeleigenreflexe – trotz nachlassender klinischer Relevanz der Syphilis – als diagnostisches Instrument bis in unsere Gegenwart Bestand.



Publication History

Article published online:
25 November 2025

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