physioscience 2021; 17(04): 145-147
DOI: 10.1055/a-1623-6016
Editorial

Digitalisierung im Gesundheitswesen – wo steht die Physiotherapie heute?

Marina Bruder-Hofstetter

Die Digitalisierung im Gesundheitswesen nahm schon vor der COVID-19-Pandemie an Fahrt auf, propagiert und unterstützt durch die Politik. Exemplarische Beispiele dafür sind der Aufbau des elektronischen Patientendossiers in der Schweiz oder die Verabschiedung des Digitale-Versorgung-Gesetzes in Deutschland. Zudem sind die technischen Voraussetzungen in beiden Ländern weitestgehend vorhanden. Der Internetzugang funktioniert nahezu flächendeckend und die Smartphone-Nutzung im Alltag ist für die Mehrheit der Bevölkerung in der Schweiz und in Deutschland eine Selbstverständlichkeit [1]. Trotz aller Bestrebungen und Errungenschaften verläuft die Digitalisierung in der Physiotherapie in Deutschland aber eher zögerlich. Während vor allem Kliniken und einzelne ambulante Physiotherapiepraxen telemedizinische Angebote oder digitale Möglichkeiten nutzen, um Patient*innen zu informieren, sind andere eher skeptisch bei der Umsetzung. Die Maßnahmen zum Schutz vor der COVID-19-Pandemie haben die Digitalisierung in der ambulanten Gesundheitsversorgung jedoch in den Fokus gerückt und beschleunigt, was zu einer sichtbaren Zunahme an digitalen Angeboten führte, aber auch die Grenzen aufzeigte und den Handlungsbedarf in mehreren Bereichen aufdeckte.

Bevor über den Stand der Digitalisierung in der Physiotherapie geschrieben werden kann, bedarf es einer begrifflichen Definition, was mit Digitalisierung im Gesundheitssystem gemeint ist. Die World Health Organisation (WHO) kategorisiert die digitale Technologie für die Gesundheit, die sogenannte digitale Gesundheitsinterventionen, nach der Art und Weise, wie digitale und mobile Technologien genutzt werden, um den Bedürfnissen des Gesundheitssystems zu begegnen [2]. Die digitalen Gesundheitsinterventionen sind breit gefasst und umfassen beispielsweise soziale Netzwerke, webbasierte Portale für Patient*innen, elektronische Dossiers für Patient*innen, Entscheidungshilfen für die Behandlungsplanung, Apps und Wearables sowie telemedizinische Behandlungen und Konsultationen [3]. Digitale Gesundheitsinterventionen sollen die Möglichkeit bieten, für „wirksame, kosteneffiziente, sichere und skalierbare Interventionen zur Verbesserung der Gesundheit und Gesundheitsversorgung“ [4]. Die klinische Versorgung von Patient*innen könnte durch die Integration von verschiedenen digitalen Gesundheitsinterventionen entlang des Behandlungsprozesses profitieren, z. B. das Management von Patient*innen, das Gesundheitsverhalten, die Behandlungszufriedenheit und die Behandlungsergebnisse [3]. Für die Physiotherapie hat die Digitalisierung im Gesundheitswesen bereits Einfluss sowohl auf Therapieangebote, im Sinne von ergänzenden oder substituierenden digitalen Therapieangeboten, als auch im Bereich der Kommunikation, Administration und Dokumentation, im Bereich der Bildung und in der Forschung – und wird diesen auch zukünftig haben.

Im Internet sind zahlreiche Webseiten von Kliniken und Physiotherapiepraxen zu finden. Einzelne Praxen nutzen bereits Online-Buchungssysteme, die den Alltag bei der Terminfindung im Gegensatz beispielsweise zur telefonischen Terminvereinbarung deutlich vereinfachen, sowohl für Physiotherapeut*innen als auch für Patient*innen. Auch auf anderen Ebenen könnten Physiotherapeut*innen von der Digitalisierung profitieren: in der elektronischen Behandlungsdokumentation, bei der Erstellung von Therapieberichten oder bei der Nutzung von elektronischen Akten von Patient*innen, respektive Dossiers für Patient*innen. Die Kommunikation mit anderen Akteur*innen des Gesundheitswesens könnte mit Hilfe der Digitalisierung deutlich vereinfacht werden. Die gesetzlichen und technischen Umsetzungen sind im Ländervergleich jedoch sehr unterschiedlich. In der Schweiz besteht beispielsweise Handlungsbedarf bei der ambulanten Gesundheitsversorgung im Bereich der Rechtsgrundlagen, des Datenschutzes und der Datensicherheit, der Interoperabilität und der Vergütung [1], wohingegen in Deutschland die gesetzlichen und technischen Rahmenbedingungen dafür bereits geschaffen wurden. Zudem ist in Deutschland die Einbindung der Physiotherapie in den Transformationsprozess Realität, ein Beispiel dafür ist das Projekt DigiPro Physio (www.digiprophysio.de).

Die Task Force der „World Confederation for Physical Therapy (WCPT)“ und das „International Network of Physiotherapy Regulatory Authorities (INPTRA)“ definierten in ihrem Bericht zur digitalen Physiotherapie die „digitale Praxis“ als Begriff, der verwendet wird, um Dienstleistungen, Unterstützung und Informationen im Gesundheitswesen zu beschreiben, die Informationen über digitale Kommunikation und Geräte bereitstellen. Digitale Praxis habe das Ziel, eine effektive Erbringung von Physiotherapieleistungen zu erleichtern, indem der Zugang zur Versorgung und Informationen verbessert wird und die Ressourcen des Gesundheitswesens besser genutzt werden können [5].

Digitale Physiotherapieangebote sind bei der Prävention, Sekundärprävention und der Behandlung von spezifischen Krankheitsbildern bereits zu finden und werden zudem vermehrt von Patient*innen nachgefragt und genutzt. Intuitiv erscheinen vor allem digitale Bewegungsangebote sinnvoll, die orts- und zeitunabhängig (asynchron) angeboten werden können, mit oder ohne Unterstützung von Physiotherapeut*innen. Ein weiteres Gebiet, das sich zur Digitalisierung anbietet, sind Edukationsangebote für Patient*innen. Doch für welche Bereiche wurde die Wirksamkeit bereits untersucht? Eine aktuelle Literaturübersicht zur Beurteilung der Wirksamkeit von digitalen Angeboten in der Physiotherapie schloss insgesamt 53 systematische Reviews aus unterschiedlichen Fachbereichen ein [6]. Die Interventionen reichten von körperlichem Training und funktionellem Training (physical exercise) bis hin zur Edukation, die meisten eingeschlossenen Reviews berücksichtigten nur synchrone Angebote. Verschiedene Plattformen wurden zur digitalen Physiotherapie genutzt: Webseiten, Video- oder Telefonkonferenzsysteme, aber auch Anwendungen von Virtual Reality (VR). Bezüglich der Effektivität schlussfolgerten die Autor*innen der Studie, dass die Wirksamkeit von digitaler Physiotherapie bezogen auf die Funktionsfähigkeit vergleichbar ist mit konventioneller Physiotherapie und besser als keine Behandlung im muskuloskelettalen Bereich (Arthrose, Low Back Pain, Knie- und Hüftgelenksersatz), im neurologischen Bereich (Multiple Sklerose) und im Bereich der kardiopulmonalen Rehabilitation. Die Autor*innen bemängelten jedoch die Qualität der vorhandenen Evidenz und formulierten den unbedingten Bedarf an weiterer Forschung [6].

Obwohl adaptierbare, digitale Physiotherapie-Angebote eine Möglichkeit bieten, die Einschränkungen beim Zugang zu einer Behandlung oder die Kosten zu reduzieren und obwohl sie individualisiert an die Bedürfnisse und Erwartungen von Patient*innen angepasst werden können, bleibt unklar, wie es um die Akzeptanz und Umsetzung digitaler Behandlungsangebote aus Sicht der Patient*innen sowie der Physiotherapeut*innen steht, gerade nach den Erfahrungen während der COVID-19-Pandemie. Eine Umfrage unter Therapeut*innen in der Schweiz hat gezeigt, dass während des ersten Lockdowns eine bemerkenswert große Anzahl die Möglichkeiten der digitalen Physiotherapie nutzten, aber nur eine Minderheit der Meinung war, diese Form der Physiotherapie könne die konventionelle Physiotherapie ersetzen [7]. Entsprechend wenig Physiotherapeut*innen beabsichtigen daher, in Zukunft digitale Physiotherapieangebote einzusetzen [7]. Für Patient*innen sind verschiedene Limitationen für den Einsatz von digitalen Therapieangeboten beschrieben worden: z. B. technische Limitation (fehlender Internetzugang), Patient*innengruppe (vulnerable Personen) oder die Möglichkeit, zwischen Angeboten von verschiedenen Physiotherapeut*innen wechseln zu können [5]. Des Weiteren gilt es zu bedenken, dass Patient*innen ausreichende Fähigkeiten im Umgang mit digitalen Medien (digital literacy) benötigen, um diese nutzen zu können. Eine Umfrage unter Patient*innen während der COVID-19-Pandemie in Deutschland hat soziale Faktoren beschrieben, die begünstigen, dass Patient*innen digitale Medien nutzen können, wie beispielsweise ein Online-Buchungssystem [8]. Eine Studie in Australien im Bereich der nachgeburtlichen Inkontinenz-Physiotherapie zeigte gleichzeitig, dass der Einsatz eines Online-Buchungssystem dazu führte, dass mehr Patientinnen als zuvor das Angebot einer Klinik nutzten und den vereinbarten Termin auch tatsächlich wahrnahmen [9]. Aufgrund der Erfahrungen während der COVID-19-Pandemie zeichnet sich aber auch immer deutlicher ab, dass nicht jede konventionelle Behandlung durch digitale Angebote ersetzt werden kann [10]. Zudem bleibt die Frage nach der Sichtweise von Patient*innen bezüglich digitaler Physiotherapie-Angebote zur Einzelbehandlung offen.

Ein weiterer Bereich der Physiotherapie, der von den Hygiene- und Schutzmaßnahmen während der COVID-19-Pandemie betroffen war, ist die Bildung [11]. Bildungsinstitutionen der Physiotherapie und deren Studierende waren über lange Zeit damit konfrontiert, dass der Unterricht nur online stattfinden konnte. Mit weitreichenden Konsequenzen: Studienabschlüsse mussten verschoben werden, ebenso der Unterricht von Skills und Lerninhalten, die sich nicht für den Online-Unterricht eignen, was zu einem hohen organisatorischen und administrativen Aufwand führte; und nicht zuletzt mussten die Lehrkräfte ihre Präsenzangebote in kürzester Zeit auf Online-Unterricht umstellen. Es konnte jedoch auch eine positive Bilanz gezogen werden, die vermutlich die Lehre in Zukunft beeinflussen wird: Dazu gehört die Feststellung, dass Blended Learning eine sinnvolle und erstrebenswerte Lehrform auch in der grundständigen Lehre sein kann [11].

Die digitale Transformation im Gesundheitswesen ist Realität, unabhängig davon, wie die jeweiligen persönlichen Präferenzen und Einstellungen der digitalen Welt gegenüber sind. Daher sollten Physiotherapeut*innen ihre Patient*innen bei der Wahl und Nutzung von Apps und Wearables in Zukunft beraten können. Die Digitalisierung im Gesundheitswesen bietet viele Chancen für die Physiotherapie, sowohl in den Bereichen Kommunikation, Administration und Dokumentation als auch bei der Behandlung. Nicht zuletzt könnte die Physiotherapieforschung von qualitativ hochwertigen und zugänglichen Daten profitieren, um relevante Fragestellungen der Praxis beantworten zu können. Um das zu erreichen, müssten die Daten in einer einheitlichen Form und in einem international nutzbaren System vorhanden sein, was allerdings in der Physiotherapie noch Zukunftsmusik ist.

Unabhängig davon, in welchem Bereich Physiotherapeut*innen tätig sind, in der Klinik, der ambulanten Praxis, der Lehre oder Forschung, es ist unbedingt notwendig, dass sich die Physiotherapie am Transformationsprozess Digitalisierung aktiv beteiligt, damit die Bedürfnisse und Erwartungen von Physiotherapeut*innen ebenso wie die Bedürfnisse ihrer Patient*innen in der digitalen Realität berücksichtigt werden.

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Dr. Marina Bruder-Hofstetter


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Article published online:
23 November 2021

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