Z Sex Forsch 2008; 21(3): 199-202
DOI: 10.1055/s-2008-1076950
Editorial

© Georg Thieme Verlag Stuttgart ˙ New York

Junge Sexualstraftäter

P. Briken
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Publication Date:
22 September 2008 (online)

Im angloamerikanischen Sprachraum wurden seit Anfang der 1990er-Jahre spezielle Behandlungsangebote für junge Sexualstraftäter implementiert und begleitend evaluiert. Eine entsprechende Entwicklung setzte einige Zeit später in den Niederlanden und der Schweiz ein, während sich in Deutschland eine gezielte Versorgung erst seit wenigen Jahren entwickelt. Seit September 2007 wird in Hamburg ein Modellprojekt für sexuell auffällige Minderjährige durchgeführt. Minderjährige, die einer Sexualstraftat verdächtigt oder überführt worden sind, werden einem speziellen Jugendamtsbereich zur Versorgung delinquenter Jugendlicher gemeldet. Die Umsetzung der Aufgaben des Modellprojekts, wie beispielsweise die Teilnahme an speziellen Therapieprogrammen, erfolgt in Kooperation mit einem freien Träger der Jugendhilfe, dem Wendepunkt e. V. Das Institut für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf evaluiert das Projekt. In diesem Zusammenhang entstand die Idee zu einem Schwerpunktheft der Zeitschrift für Sexualforschung, das aktuelle empirische Arbeiten und Erfahrungsberichte zum Umgang mit jungen Sexualstraftätern zusammenstellt.

In Deutschland ist zwischen 1992 und 2004 die Anzahl tatverdächtiger Jugendlicher pro 100 000 Einwohner bei Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung kontinuierlich gestiegen. Bis zum Jahr 1997 lag die Tatverdächtigenbelastungsziffer unter 100, seit dem Jahr 2002 fortlaufend über 150 pro 100 000 Einwohner (Habermann 2008). Diese Zunahme der Kriminalitätsbelastung geht wahrscheinlich auf die vermehrte Sensibilisierung der Öffentlichkeit, ein gesteigertes Anzeigeverhalten, Alterskohorteneffekte, Veränderungen der rechtlichen Bestimmungen und eine Intensivierung der Strafverfolgung zurück. Etwa 1 000 Jugendliche und Heranwachsende werden jährlich wegen Sexualdelinquenz verurteilt. Sexualdelinquenz von Jugendlichen bleibt damit im Vergleich zur Gesamtdelinquenz ein Randphänomen (Günter 2005), das jedoch eine hohe mediale Präsenz und emotionale Aufladung erfährt.

Die gegenwärtig vor allem in der Presse verhandelten Auswirkungen des Pornografiekonsums im Internet auf die sexuelle Entwicklung oder gar auf Sexualdelinquenz sind bisher nicht systematisch untersucht worden (vgl. Hill et al. 2007). Wir wissen auch wenig über kurz- oder längerfristige, negative oder positive Auswirkungen von Pornografiekonsum auf die Gesamtgruppe aller Jugendlichen. Eine aktuelle Untersuchung von Stulhofer et al. (2008) legt einen Zusammenhang zwischen Störungen der Intimität in Beziehungen im jungen Erwachsenenalter und dem Interesse an Bilddarstellungen mit paraphilen Inhalten in der Jugend nahe.

Stärker als bei Erwachsenen geht es bei Jugendlichen darum abzugrenzen, ob es sich bei sexuellen Auffälligkeiten um eine phasenspezifische Besonderheit handelt. Sexuell auffälliges Verhalten kann in einer Experimentierphase entstehen, vor dem Hintergrund von Entwicklungs- und Reifungsdefiziten auffallen oder den Beginn einer längerfristigen Delinquenzentwicklung und / oder Paraphilie mit Gefahr für Sexualdelinquenz andeuten. Viele paraphile Patienten berichteten in der Rückschau über den Beginn devianter Fantasien während, manchmal vor der Pubertät. In Untersuchungen über junge Sexualstraftäter wurde häufig von traumatisierenden Erfahrungen in der eigenen Vorgeschichte, unsicheren Bindungsstilen, instabilen Herkunftsfamilien, Defiziten in der sozialen Kompetenz und wenig prosozialen Peers berichtet (Barbaree und Marshall 2006).

Worling und Langström (2006) verglichen 22 zwischen 1990 und 2004 durchgeführte Studien zur Rückfälligkeit jugendlicher Sexualstraftäter. Bei sehr unterschiedlichen Katamnesezeiträumen (6 Monate bis 9 Jahre) variierten die einschlägigen Rückfallraten zwischen 0 und 40 %. In Studien, in denen das Rückfallkriterium eine neue Anklage wegen einschlägiger Delikte war, betrug die Rate im Durchschnitt 15 %. Für jegliche erneute Delinquenz (einschließlich Sexualdelikten) betrug die mittlere Rückfallrate 54 %. Wie in Studien zu erwachsenen Sexualstraftätern, bestand auch bei Jugendlichen ein deutlicher Zusammenhang zwischen der Länge des Katamnesezeitraums und der Rückfälligkeit mit einem Sexualdelikt.

Zur Effektivität von Behandlungsprogrammen gibt es bisher nur wenige Untersuchungen. Eine erste Metaanalyse weist auf positive und auch rückfallpräventive Wirkungen von Therapie hin (Reitzel und Carbonell 2006).

Relative Einigkeit herrscht darüber, dass bei jungen Sexualstraftätern nicht die gleichen Risikofaktoren für erneute Delinquenz vorliegen wie bei erwachsenen Tätern (Barbaree und Marshall 2006; O'Reilly 2004; Rich 2003). Worling und Langström (2003) haben anhand eines Überblicks über Ergebnisse aus empirische Studien, klinischen Richtlinien und Checklisten Risikofaktoren zusammengestellt und hinsichtlich ihres prädiktiven Wertes unterschieden. Empirisch gestützte Risikofaktoren sind demnach: deviante sexuelle Interessen, frühere Sanktionierungen wegen Sexualstraftaten, mehr als ein Opfer bei Sexualdelikten, Sexualdelikte mit fremden Opfern, soziale Isolation sowie keine oder eine nicht abgeschlossene deliktspezifische Behandlung. Diese Risikofaktoren unterscheiden sich allerdings kaum von denen erwachsener Sexualstraftäter. Die jugendspezifischen Risikofaktoren wie eine problematische Beziehung zu den Eltern, ein stark belastetes familiäres Umfeld und Zugehörigkeit zu einer negativ beeinflussenden bzw. antisozialen Peer-Gruppe sind dagegen noch wenig empirisch abgesichert. Unsicher ist die Datenlage auch für die Bedeutung eigener sexueller Missbrauchserfahrungen als Risikofaktor für Sexualdelinquenz Jugendlicher. 

Sowohl auf Seite der Sexualforschung als auch in Bezug auf die praktische Versorgung junger Sexualstraftäter sind gegenwärtig viele Fragen offen. Um die Besonderheit junger Sexualstraftäter besser zu verstehen und im Umgang mit ihnen berücksichtigen zu können, müssen wir wissen,

ob es Veränderungen der Jugendsexualität gibt, die Erscheinungsformen und Ausprägung von Sexualdelinquenz beeinflussen; ob, wann und bei welchen Jugendlichen Hilfebedarf besteht und wie wir vermeiden können, unnötig zu pathologisieren und zu kriminalisieren, ohne gleichzeitig Entwicklungen zu übersehen, bei denen Hilfen notwendig sind; welche Risikofaktoren für junge Sexualstraftäter spezifisch, und welche therapeutischen Hilfen effektiv sind.

Das vorliegende Schwerpunktheft versucht sich einigen diese Fragen zu nähern und veröffentlicht einen Beitrag zu Entwicklungspfaden bei schwerer Sexualdelinquenz (Habermann et al.), einen Vergleich der Risikofaktoren von Sexualstraftätern und Gewaltstraftätern (Hinrichs et al.), eine Methode der Screeninguntersuchung junger Sexualstraftäter (Gutschner et al.) und einen aktuellen Erfahrungsbericht aus einem ambulanten Therapieprogramm (Priebe).

Welche Erscheinungsformen und Veränderungen Jugendsexualität gegenwärtig zeigt und ob es einen gesondert zu betrachtenden, relevanten Einfluss auf Störungsbilder oder Delinquenz gibt, ist unklar und sollte Ziel zukünftiger Forschungsbemühungen sein.

Literatur

  • 1 Barbaree H E, Marshall W L. The juvenile sex offender. New York: Guilford Press, 2006
  • 2 Günter M. Jugendliche und erwachsene Sexualstraftäter im Vergleich. Psychiatrische Charakteristika und späteres Rückfallrisiko. In: Clauß M, Karle M, Günter M, Barth G, Hrsg. Sexuelle Entwicklung – sexuelle Gewalt. Grundlagen forensischer Begutachtung von Kindern und Jugendlichen. Lengerich: Pabst 2005; 62–79
  • 3 Habermann N. Jugendliche Sexualmörder. Lengerich: Pabst; 2008
  • 4 Hill A, Briken P, Berner W. Pornographie und sexuelle Gewalt im Internet.  Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz. 2007;  50 90-102
  • 5 O'Reilly G, Marshall W L, Carr A et al. The handbook of clinical interventions with young people who sexually abuse. London: Routledge, 2004
  • 6 Rich P. Understanding, assessing and rehabilitating: Juvenile sex offenders. Hoboken, NJ: John Wiley & Sons; 2003
  • 7 Reitzel L R, Carbonell J L. The effectiveness of sexual offender treatment for juveniles as measured by recidivism: a meta-analysis.  Sexual Abuse. 2006;  18 401-21
  • 8 Stulhofer A, Buško V, Landripet I. Pornography, sexual socialization and satisfaction among young men. Arch Sex Behav 2008 Jun 17. DOI 10.1007/s10508-008-9387-0
  • 9 Worling J R, Langström N. Assessment of criminal recidivism risk with adolescents who have offended sexually.  Trauma Violence Abuse. 2003;  4 341-362
  • 10 Worling J R, Langström N. Risk of sexual recidivism in adolescents who offend sexually: Correlates and assessment. In: Barbaree HE, Marshall WL, Hrsg. The juvenile sex offender. New York: Guilford Press 2006; 219–247

PD Dr. med. P. Briken

Institut für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie
Zentrum für Psychosoziale Medizin
Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf

Martinistraße 52

20246 Hamburg

Email: briken@uke.uni-hamburg.de

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