Klinische Neurophysiologie 1995; 26(1): 19-37
DOI: 10.1055/s-2008-1060215
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Über das Elektroenzephalogramm in der Psychiatrie: Eine kritische Bewertung

Electroencephalography in Psychiatry - A critical evaluationG. Winterer, W. M. Herrmann
  • Labor für Klinische Psychophysiologie der Psychiatrischen Klinik und Poliklinik der Freien Universität Berlin
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Publication Date:
18 March 2008 (online)

Summary

Under resting conditions anxiety does not show typical deviations from normality. However, EEG-recordings under experimentally induced anxiety do show typical changes: in normal persons there is usually an increase in desynchronous fast β-activity (hyperarousal accompanied by cognitive coping), whereas patients with anxiety disorder show hypersynchronized α-activity, as it is usually found in deep relaxation. Thus, hypersynchronized α-activity might be an expression of a compensatory effort of the system to relax. Anxiolytics induce synchronous β- or sub-α activity, which may force the system into more rigid patterns (relaxation) and thus, could counteract anxiety in normal persons, if hyperarousal going along with desynchronisation is not sufficient. Furthermore, benzodiazepines show also an increase in desynchronous fast β-activity which could be useful in chronic anxiety, in order to support cognitive efforts.

While depressive disorders cause a variety of changes in the wake EEG, that can only partly linked with the clinical picture (neurotic versus endogenous), the sleep EEG shows a decrease in REM- latency, an increase in REM density and a decrease in sleep efficiency in patients with depressive symptoms. However, nosological specifity is not established yet. Successful antidepressive therapy counteracts these changes. The common feature in the wake EEG is the interaction with vigilance dependent variables in both directions: stimulation and sedation.

Schizophrenia shows different patterns for acute and chronic states. In acute schizophrenia there is a dysrhythmic activity with an increase in β-activity. This is counteracted by neuroleptics, inducing slowing of frequency and an increase of synchronization. In chronic schizophrenics, there is an increased synchronization with low variability of amplitude. In contrast to the treatment in acute schizophrenics, in chronic schizophrenia the therapy response under neuroleptics is indicated by an increase in β-activity and a decrease in synchronization.

Zusammenfassung

Der Arbeitskreis „Psychophysiologic” der Arbeitsgemeinschaft für Methodik und Dokumentation in der Psychiatrie (AMDP) formulierte für die kommenden Jahre die Aufgabe, den Beitrag des EEG zur psychiatrischen Diagnose, Verlaufskontrolle und Prognose auf einer breiten, noch zu schaffenden Datenbasis zu verbessern. Dieses Unterfangen scheint berechtigt, da in den vergangenen Jahren in verschiedenen Studien übereinstimmend Ergebnisse erzielt werden konnten, die zumindest den Versuch rechtfertigen, ein mehr nach psychiatrischen Interessen ausgerichtetes EEG zu etablieren. Mitglieder des Arbeitskreises haben Literaturrecherchen zum psychiatrischen EEG durchgeführt und Übersichtsarbeiten geschrieben, die in diesem Beitrag zusammengefasst und bewertet werden. Aufgrund der umfangreichen Literatur beschränkten wir uns auf die Krankheitsbilder Schizophrenie, affektive Erkrankung und Angststörung, wobei aus den Jahren 1924-1994 von über 3000 verfügbaren Arbeiten in der Weltliteratur 500 ausgewertet und in dieser Zusammenfassung 216 berücksichtigt wurden. Diese Auswertung stellt die Basis für die zukünftige Arbeit des Arbeitskreises dar und liefert die Arbeitshypothesen, die es zu überprüfen gilt. Besondere Berücksichtigung gilt dabei der Frage, ob sich für einzelne Krankheitsdiagnosen oder Syndrome spezifische EEG-Veränderungen finden lassen und ob das EEG eine Aussage über den Krankheitsverlauf und das zu erwartende Therapie-Ergebnis in Abhängigkeit vom Ausgangs-EEG erlaubt.

Während Angstpatienten im Ruhe-EEG keine eindeutigen Normabweichungen zeigen, ist das EEG unter situativ erzeugter Angst verändert: bei Normalpersonen wird vermehrt desynchrone, schnelle β-Aktivität gefunden (Hyperarousal mit kognitiver Gegenregulation), Patienten mit Angsterkrankung zeigen häufig eine rigide α-Aktivität, wie sie sich üblicherweise im Zustand tiefer Entspannung findet. Aus verschiedenen pharmako-elektroenzephalographischen Untersuchungen ist bekannt, daß Anxiolytika häufig synchrone, rigide 14-16/s β-und/oder Sub-α-Aktivität erzeugen, was der Angst im Sinne einer Entspannung entgegenwirken könnte. Weniger bekannt ist, daß Benzodiazepine auch eine Erhöhung schneller desynchroner β- Aktivität fronto-zentral erzeugen, was (gegenregulatorische) kognitive Prozesse begünstigen könnte. Anxiolytika entfalten nach dieser Vorstellung also einen zweifachen angstmindernden Effekt und können sowohl kognitive Prozesse zur Angstbewältigung als auch Entspannung fördern. Möglicherweise kommt dabei je nach Ausgangssituation (akute Angst - chronische Angst) mehr der eine oder andere Wirkmechnaismus zum Tragen.

Bei Depressionen werden im Wach-EEG von verschiedenen Autoren Veränderungen beschrieben. Für neurotisch-depressive Patienten werden Auffäl-ligkeiten berichtet, die hypothetisch im Sinne einer dynamisch labilen Vigilanzregulation (Desynchronisation der Grundaktivität sowie irreguläre β-Aktivität im Spontan-EEG) interpretiert werden können. Bei endogen-depressiven Patienten scheint dem gegenüber eine dynamisch rigide Vigilanzregulation (nach frontotemporal ausgebreitete α-Aktivität) zu bestehen. Das möglicherweise einzige gemeinsame bei der EEG-Wirkung von Antidepressiva ist, daß sie vigilanzabhängige Variablen beeinflussen und, je nach Substanztyp und Ausgangs-EEG, sowohl eine leichte Stimulation als auch eine Sedierung bewirken können. Klarere Ergebnisse liefert das Schlaf-EEG. Bei Vorliegen von Depressivität wird eine Abnahme der REM-Latenz, eine Zunahme der REM-Dichte sowie eine Abnahme der Schlaf-Effizienz beschrieben. Allerdings ist bis heute nicht abschließend geklärt, inwieweit diese Auffälligkeiten als Nosologie-spezifisch zu werten sind, da sie auch bei Depressivität als Begleitsymptom anderer Erkrankungen beschrieben werden. Von den meisten Antidepressiva ist bekannt, daß sie diesen Veränderungen entgegen wirken und die REM-Latenz verlängern, die REM-Dichte erniedrigen sowie die Schlaf-Effizienz erhöhen.

EEG-Veränderungen bei akuter und chronischer Schizophrenie sind unterschiedlich. Bei akuter Schizophrenie wird vor allem eine dysrhythmische Grundaktivität mit Zunahme der β-Aktivität beschrieben. Neuroleptika bewirken hier eine Erhöhung der Synchronisation und eine Abnahme der Aktivität im schnellen Frequenzbereich. Bei chronischer Schizophrenie ist demgegenüber eine erhöhte Synchronizität und eine reduzierte Amplitudenvariabilität vorherrschend. Anders als bei akuter wird bei chronischer Schizophrenie der Therapieerfolg unter Neuroleptika von einer Zunahme schneller β-Aktivität sowie einer Abnahme der Synchronisation begleitet.

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