ZFA (Stuttgart) 2007; 83(12): 475
DOI: 10.1055/s-2007-1004517
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Gegen den Vertrauensverlust - Arzneimittelsicherheit

W. Niebling
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Publication Date:
19 December 2007 (online)

„Vertrauen ist akzeptierte Abhängigkeit”

Dietrich Rössler

Bonn, die alte Bundeshauptstadt…dort fand Ende November der 2. Deutsche Kongress für Patientensicherheit bei medikamentöser Therapie statt, veranstaltet u. a. von der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, dem Aktionsbündnis Patientensicherheit und dem Bundesministerium für Gesundheit. Vorgestellt wurde der „Nationale Aktionsplan zur Verbesserung der Arzneimitteltherapiesicherheit in Deutschland”, daneben praxistaugliche Strategien zur Risikominimierung bei der Pharmakotherapie im stationären und ambulanten Bereich. Die Veranstaltung bewies: Risikomanagement, Fehlerkultur und Arzneimitteltherapiesicherheit sind zu prioritären Themen der gesundheitspolitischen Agenda geworden.

Eine historische, in diesen Tagen fast überfällige Konnotation drängt sich auf: Vor ziemlich genau 50 Jahren, am 1. Oktober 1957 wurde das rezeptfreie Beruhigungsmittel Thalidomid unter dem Handelsnamen Contergan in Deutschland zugelassen. Die Einnahmeempfehlungen der Herstellerfirma reichten von Nervosität und Schlafstörungen bis zu Affektlabilität, Angst und Kontaktstörungen. Das Präparat war gut verträglich und wurde zum Kassenschlager. Mitte 1958 wurden die ersten thalidomidgeschädigten Kinder geboren, heute leben in Deutschland noch etwa 2500 Betroffene, weltweit etwa 8-10 Tausend. Der Name Contergan wurde zum Menetekel einer Arzneimittelkatastrophe in Deutschland.

Mitten hinein in unser Wirtschaftswunder und den ungebrochenen Fortschrittsglauben traf die Nachricht, dass ein Medikament neben Wirkungen katastrophale Nebenwirkungen hatte.

Tierversuche hatten vor Einführung von Thalidomid keine Hinweise auf Nebenwirkungen erbracht. Es dauerte bis Juni 1961, ehe der Hamburger Kinderarzt Widukind Lenz nach der Auswertung der Krankenakten von mehr als 20 betroffenen Kindern, der Befragung der Mütter und Inspektion deren Hausapotheken erstmals den Verdacht äußerte, Contergan sei die Ursache der kindlichen Missbildungen. War es in Deutschland ein einzelner Arzt, der die fatalen Zusammenhänge aufdeckte, so war es in den USA eine mutige Ärztin, die Pharmakologin Frances Kelsey, die, - gerade einmal einen Monat bei der FDA tätig -, gegen alle Widerstände dafür sorgte, dass Thalidomid in den USA nicht zugelassen wurde. Und dennoch wurden in den USA 17 Kinder mit Conterganfehlbildungen geboren, Folge der bei etlichen Ärzten hinterlegten Muster der Firma Richardson- Merrell.

Und heute? Wo stehen wir heute? Am 11. September diesen Jahres wurde in den Archives of Internal Medicine eine Auswertung von schwerwiegenden Arzneimittelereignissen publiziert, die im Rahmen des Spontanmeldesystems zwischen 1998 und 2005 bei der US-amerikanischen Food and Drug Administration registriert wurden. Es sind beunruhigende Zahlen, wie ich meine.

So stiegen gemeldete schwerwiegende Arzneimittelereignisse von ca. 35 000 im Jahre 1998 auf fast 90 000 im Jahre 2006 an. Die berichteten Todesfälle erhöhten sich von 5 519 auf 15 107 im genannten Zeitraum. Insgesamt war der relative Anstieg der gemeldeten schwerwiegenden AM-Ereignisse viermal größer als der Anstieg der AM-Verschreibungen im selben Zeitraum.

Unter den 15 am häufigsten im Zusammenhang mit Todesfällen genannten Arzneimittel finden sich sieben Analgetika (so z. B. Oxycodon, Fentanyl, Morphin, Paracetamol, Methadon und Rofecoxib), drei Immunmodulatoren (Infliximab, Etanercept und Interferon-Beta), drei Antipsychotika (Clozapin, Risperidon, Olanzapin) sowie das Antidepressivum Paroxetin und das Zytostatikum Paclitaxel.

Für die biotechnologisch hergestellten Produkte aus der Klasse der TNF-alpha Antagonisten und der Interferone alpha und beta fand sich ein besonders ausgeprägter Anstieg von 598 Meldungen 1998 auf 9 181 im Jahre 2005.

Vor dem Hintergrund dieser Zahlen fordern die Autoren Moore, Cohen und Furberg präzisere und leistungsfähigere Systeme zur Überwachung von Arzneimitteln nach deren Markteinführung. Diese Forderung kann man sich nur zu Eigen machen:

Arzneimitteltherapiesicherheit und eine transparente Fehlerkultur sind notwendig, um uns das Vertrauen unserer Patientinnen und Patienten zu erhalten und da, wo es schon ein Stück verlorenging, wieder zu gewinnen.

Ihr Wilhelm Niebling

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. W. Niebling

Facharzt für Allgemeinmedizin

Lehrbereich Allgemeinmedizin

Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Schwarzwaldstr. 69

79822 Titisee-Neustadt

Email: wniebling@t-online.de

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