Handchir Mikrochir Plast Chir 2006; 38(6): 430-431
DOI: 10.1055/s-2006-924743
Kommentar

Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Kommentar zur Arbeit von V. L. Moser et al.: Ist eine unterschiedliche Behandlung bei verschiedenen Schweregraden des Sulcus nervi ulnaris-Syndroms sinnvoll?

Handchir Mikrochir Plast Chir 2006; 38: 172 - 177Commentary on the Article of V. L. Moser et al.: Is a Differentiated Treatment Depending on the Degree of Severity Justified in Cubital Tunnel Syndrome?Handchir Mikrochir Plast Chir 2006; 38: 172 - 177C. Bultmann1
  • 1Klinik für Handchirurgie (Chefärzte: Priv.-Doz. Dr. K.-J. Prommersberger und Priv.-Doz. Dr. J. van Schoonhoven), Bad Neustadt/Saale
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Publication History

Eingang des Manuskriptes: 15.9.2006

Angenommen: 21.9.2006

Publication Date:
11 January 2007 (online)

Die moderne Medizin, so auch die Handchirurgie, kennzeichnet sich unter anderem durch eine stadienadaptierte Behandlung von Krankheitsbildern unter Berücksichtigung individueller Einflussfaktoren seitens des Patienten. Ziel solch einer maßgeschneiderten Therapie unter Berücksichtigung der Ausprägung des Krankheitsbildes einerseits und Respektierung des Patienten mit seinen individuellen Bedürfnissen und anatomisch-pathologischen Eigenheiten andererseits ist die Vermeidung einer Unter- als auch Übertherapie zur Erlangung eines optimalen Behandlungsergebnisses für den individuellen Patienten.

Grundvoraussetzungen für solch eine stadienorientierte Therapie eines Krankheitsbildes sind ein stadienhafter Verlauf einer Erkrankung und das Vorhandensein verschiedener Therapieverfahren. Dabei müssen sich die einzelnen Therapieverfahren jeweils in der Behandlung des Krankheitsbildes bewährt haben und sich untereinander graduell unterscheiden, sodass sich in der Zusammenschau eine Stufentherapie beziehungsweise eine therapeutische Leiter ergibt. Beim Sulcus ulnaris-Syndrom (SUS) wäre dies durchaus denkbar, allerdings wird ein als überlegen bewiesener Algorithmus zur differenzierten Therapie des Sulcus ulnaris-Syndroms bis heute vermisst.

Die Beantwortung der im Titel aufgeworfenen Fragestellung wäre daher wissenschaftlich sehr wertvoll. Allerdings erfordert diese Fragestellung eine prospektiv randomisierte Studie, bei der Patienten mit verschiedenen Stadien des SUS verschiedenen Therapien zugeführt werden. Hierfür sind Kontrollgruppen unerlässlich. Leider wird in der vorliegenden Arbeit auf Kontrollgruppen gänzlich verzichtet, was bedeutet, dass ein Algorithmus hierauf nicht aufgebaut werden kann. Die Arbeit ist insofern enttäuschend, als dass die großen Erwartungen der Titelfrage nicht gestillt werden. Hätten die Autoren für ihre Arbeit den Titel „Wiener Vorgehensweise bei Sulcus nervi ulnaris-Syndrom“ gewählt, so würde dies den Kern der Arbeit besser treffen. Trotzdem würden zahlreiche Fragen verbleiben.

Bezüglich der vorgeschlagenen Stadieneinteilung drängen sich folgende Fragen auf: Welchem Krankheitsstadium wird ein Patient zugeordnet, der zwar über intermittierende Symptome klagt, eine Zweipunktdiskrimination ≤ 5 mm aufweist, aber eine Grobgriffkraft von > 90 % bietet? Wie wird die Dominanz in die Bewertung der Grobkraft beziehungsweise Schlüsselgriffkraft einbezogen? Im Hinblick auf den vorgeschlagenen Behandlungsalgorithmus ergeben sich folgende Fragen: Wie werden Patienten behandelt, bei denen das SUS nach konservativer Therapie zwar keine Progression zeigt, aber die Behandlung auch nicht zum Verschwinden der Symptome geführt hat? Welche Kriterien entscheiden über die Therapiewahl „offene versus endoskopische Dekompression“ beim SUS mittlerer Ausprägung?

Auch das gelieferte Datenmaterial wirft zahlreiche Fragen auf: Bei wie vielen der 44 in die Studie eingeschlossenen Patienten wurde präoperativ das SUS als leicht, mittel oder schwer eingestuft? Bei wie vielen Patienten mit einem leichten SUS führte die konservative Therapie zu keinem Erfolg, sodass sie in der Folge einer Operation zugeführt wurden? Bei wie vielen Patienten mit einem mittleren SUS wurde eine endoskopische und bei wie vielen eine offene Dekompression des N. ulnaris durchgeführt? Neben den hier aufgeführten Fragen hätte es manchen Leser sicher interessiert, wie zum Beispiel die konservative Therapie, aber auch die postoperative Nachbehandlung, aussah.

Als weiterer Kritikpunkt ist anzumerken, dass auf eine Beschreibung der Operationsmethode gänzlich verzichtet wurde. Zugegebenermaßen muss eine einfache Dekompression beziehungsweise eine submuskuläre Vorverlagerung nicht mehr beschrieben werden, interessanter wird die Situation jedoch, wenn man in dem gezeichneten Algorithmus den einzigen Hinweis auf eine „endoskopische Dekompression“ entdeckt. Die endoskopische Dekompression des N. ulnaris ist eine noch junge Operationsmethode, die bislang nur an sehr wenigen Zentren durchgeführt wird. Der Erstbeschreiber der Methode, Dr. Reimer Hoffmann, führte die erste Operation 2001 durch. Die vorliegende Arbeit wurde meines Wissens erstmals 2003 auf dem 44. Symposium der DAH in Stuttgart vorgetragen. Sollte die endoskopische Dekompression des N. ulnaris danach in den Behandlungsalgorithmus der Autoren aufgenommen worden sein, so wäre eine Beschreibung der Operationsmethode durchaus interessant, genauso wie eine Bemerkung zur Lernkurve und der Anzahl der Operateure, die die Methode durchführten.

Zuletzt folgen kritische Bemerkungen zu den Ausführungen der Autoren bezüglich der neurophysiologischen Untersuchung. Es scheint verwunderlich, dass in vorliegendem Patientengut in nur 61 % der Fälle die Diagnose eines SUS durch den neurophysiologischen Befund gestellt werden konnte. In unserem eigenen Patientengut kann diese Diagnose in etwa 95 % der Fälle sicher gestellt werden. Die Autoren berufen sich auf Literaturangaben, die eine Korrelation zwischen elektrodiagnostischen Verfahren und Klinik bereits infrage stellen. Diese Studien liegen 17 Jahre zurück. In der Zwischenzeit dürften sich die neurologischen Erkenntnisse und Messgeräte deutlich weiterentwickelt haben. In unserem Patientengut korrelieren die Befunde durchaus.

Zusammenfassend ist die vorliegende Arbeit enttäuschend, da die Titelfrage nicht beantwortet wird und die Arbeit methodische Nachteile aufweist, die letztendlich dahingehend münden, dass der Informationsgewinn durch die Arbeit nicht ganz augenscheinlich ist. Die Aussage, dass in fortgeschrittenen Stadien eine Neurolyse die zugrunde liegende Pathologie nicht beseitigen kann und eine Vorverlagerung beziehungsweise mediale Epikondylektomie notwendig ist, kann durch die Arbeit, durch das Fehlen der Kontrollgruppe, nicht untermauert werden und sollte daher unterbleiben. Die eigene, bisher unveröffentlichte Erfahrung zeigt im Gegenteil, dass sich mit der endoskopischen Dekompression des N. ulnaris auch in schweren Fällen eines SUS zumindest gleich gute Ergebnisse erzielen lassen wie mit einer Ventralverlagerung des Nervs.

Dr. med. Christine Bultmann

Klinik für Handchirurgie

Salzburger Leite 1

97616 Bad Neustadt/Saale

Email: christinebultmann@t-online.de

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