PiD - Psychotherapie im Dialog 2006; 7(1): 94-95
DOI: 10.1055/s-2005-915426
Resümee
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Kinder und Kindertherapien - Was aus ihnen später mal werden kann

Rüdiger  Retzlaff, Jochen  Schweitzer
Further Information

Publication History

Publication Date:
23 February 2006 (online)

Wir hoffen, uns ist ein für KindertherapeutInnen wie für ErwachsenenpsychotherapeutInnen interessantes Heft gelungen. Welche Schlussfolgerungen ziehen wir selbst aus einem halben Jahr schreibender Zusammenarbeit mit den AutorInnen dieses Heftes?

PiD-LeserInnen werden nicht davon überrascht sein, dass auch in der Kindertherapie eine außerordentlich große Bandbreite von diagnostischen, therapeutischen und theoretischen Zugängen nebeneinander existiert, die schon für Eltern und mehr noch für Eltern als potenzielle Kunden von psychotherapeutischen Dienstleistungen für ihre Kinder unübersichtlich erscheinen mag.

Wieder einmal und auch in der Kindertherapie scheinen sich im Methodeninstrumentarium unterschiedliche Therapieschulen zuweilen ähnlicher zu sein, als sie sich üblicherweise selbst darstellen. Fast alle Autoren

spielen, malen, erzählen Geschichten fördern die Aktivierung von Konflikten und den Ausdruck von Emotionen in den Therapiesitzungen achten auf eine gut verträgliche Mischung von Anspannung und Entspannung in den Sitzungen arbeiten mit der persönlichen Beziehung zwischen ihnen und dem Kind - dies allerdings auf außerordentlich unterschiedliche Weise.

Weitaus stärker als in der Vergangenheit fließen in die unterschiedlichen kinderpsychotherapeutischen Behandlungskonzepte Ergebnisse der entwicklungspsychologischen Grundlagenforschung ein. Das empirische Wissen über den Zusammenhang zwischen frühen Sozialisationsbedingungen, Bindungsverhalten, familiären Milieus, belastenden oder gar traumatischen Lebensumständen und der kindlichen Entwicklung bis hinein ins Erwachsenenalter ist enorm gewachsen. Gewachsen ist allerdings auch die Kenntnis von protektiven, resilienzfördernden sozialen und familiären Schlüsselfaktoren. Die Ergebnisse der Säuglingsforschung und der Entwicklungspsychopathologie unterstützen die Bedeutung eines wertschätzenden, förderlichen, empathischen, feinfühligen, gut abgestimmten familiären Umfeldes und fließen in präventive Maßnahmen/Programme für Kinder und Eltern aus Risikopopulationen ein.

Ungeachtet dieser Gemeinsamkeiten gibt es jedoch auch deutliche Unterschiede zwischen den verschiedenen therapeutischen Richtungen (genauer: zwischen deren Selbstbeschreibungen durch ihre in diesem Heft schreibenden führenden VertreterInnen). Sie unterscheiden sich, auch dies nicht überraschend, in folgenden Punkten:

Manche Autoren heben in ihrem Blick auf die Eltern eher deren psychische Defizite, Erziehungsinkompetenzen und geringe Verfügbarkeit für die Therapie hervor. Entsprechend suchen sie eine konfliktarme und niedrig dosierte Kooperation mit den Eltern, die diesen keine wesentliche Rolle für den Therapiefortschritt zuschreibt. Andere Autoren suchen eher eine enge Kooperation mit den Eltern, gehen auf die Suche nach deren bislang noch ungenutzten Ressourcen an Zuneigung und Kompetenz, machen sie möglichst zu „Kotherapeuten” - oder auch Eltern und Kinder zu „Kotherapeuten füreinander”. Spiegelbildlich dazu wird in der Wahrnehmung der Kinder, besonders wenn sie in Therapie kommen, mehr eine „traumaorientierte” oder mehr eine „kompetenzorientierte” Brille aufgesetzt. Für beides gibt es empirische und therapeutische Argumente - nur ganz entgegengesetzte. Eine aktive Strukturierung der therapeutischen Situation wird von manchen Autoren sehr angestrebt, um in kurzer Zeit intensive Lernerfahrungen zu ermöglichen. Andere hingegen bemühen sich um Zurückhaltung, um Schaffung einer möglichst offenen Situation, um den Kindern eine spontane Entfaltung und eine Übertragung ihrer außertherapeutischen Beziehungserfahrungen in die Therapiesituation gerade zu ermöglichen. Pädagogische Elemente, meist die Vermittlung sozialen Handlungswissens in Geschichten, Cartoons etc. wird in manchen Ansätzen mehr praktiziert, in anderen eher sehr wenig oder gar nicht. Das soziale Umfeld und insbesondere die Familie werden in sehr unterschiedlichem Ausmaß aktiv in die Therapien einbezogen. Und wenn diese einbezogen werden, dann mit sehr unterschiedlich optimistischen (oder pessimistischen) Annahmen darüber, in welchem Umfang sie die Therapie voranbringen können. Neben der umfangreichen und für die sozialpolitische Begründung therapeutischer Versorgungsangebote verdienstvollen Erforschung von belastenden Lebensumständen und ihrer Langzeitfolgen hat sich - bislang empirisch noch auf schwächeren Beinen stehend, aber von ihren Vertretern mit guten therapeutischen Argumenten auf die Tagesordnung gebracht - eine salutogenetische Forschung etabliert, die sich auf protektive (schützende) und resilienzfördernde (die Widerstandkraft stärkende) Entwicklungsbedingungen konzentriert.

Ein Beispiel dafür, wie unterschiedlich wir auf Defizite oder Ressourcen fokussieren können, bietet unser Titelfoto. Wir können darauf zwei Kinder sehen, die (wie wir über E-mail-Kontakt mit dem Fotografen wissen) in Armut aufwachsen in einer wirtschaftlich deprivierten mittelosteuropäischen Region, die noch nicht einmal über ein eigenes Bad verfügen, und uns Gedanken über ihre Zukunft machen. Oder wir können zwei fröhliche, lebendige Geschwister sehen, die mit ihrer Ausstrahlung über einen großen Reichtum verfügen, und die Hoffnung haben, dass die beiden ihren Weg schon gehen werden. Die Wissenschaft wird nicht feststellen, welche Perspektive „richtiger” ist.

Der Wettbewerb lebt, auch die Konkurrenz. Erstaunlich war für uns, dass im Kindertherapiebereich sich ein Autor mit seinem Ansatz (nämlich der Kinderverhaltenstherapie) als ausgegrenzten Underdog beschreibt, während dieser Ansatz von anderen Richtungen eher als vorherrschende Schule stilisiert wird.

Ein wenig haben wir in diesem Heft zur Selbstbespiegelung unserer Zunft eingeladen - von PsychotherapeutInnen als Väter und Mütter, von Kindheiten als Determinanten psychotherapeutischer Berufswahl. Die „Ergebnisse” haben uns beruhigt: Psychotherapeuten scheinen als Kinder nicht so viel anders gewesen zu sein, und mit ihrem Job als Väter und Mütter haben sich zumindest die von uns Befragten ganz zufrieden geäußert.

Wir Herausgeber finden alle Beiträge in diesem Heft gut. Einen aber - das können wir nicht verschweigen - finden wir ganz besonders gut: den Aufsatz von Eia Asen über „Kinder und Erwachsene in der Multifamilientherapie”. Er zeigt eine Richtung an, in die nach unserer Auffassung eine integrierte Kinder-, Jugend- und Erwachsenentherapie in der heutigen Zeit gehen sollte:

Erwachsene (Eltern) und Kinder sollten nicht immer gemeinsam, aber mit Respekt vor ihrer existenziellen Verbundenheit miteinander therapiert werden - ihre gegenseitigen Unterstützungspotenziale nutzend. Therapie sollte auf Dauer nicht nur in Psychotherapieräumen stattfinden, sondern vermehrt in den natürlichen Lebensräumen ihrer Klienten. Die Verbindung von Psychotherapie und Gemeinwesenarbeit/Gemeindepsychologie steht auf der Tagesordnung, um gerade für arme, ausgegrenzte und Migrantenkinder eine gerechte Teilhabe an der psychotherapeutischen Versorgung zu erlauben.

Verbindet man diese drei Prinzipien mit der schulenübergreifenden Nutzung von Techniken, wie sie in diesem Heft umfangreich vorgestellt werden, so wird die Kinderpsychotherapie (die dann mit der Erwachsenenpsychotherapie eng verbunden ist) eine präventive Potenz entfalten, von der sie derzeit noch etwas entfernt ist.

    >