ZFA (Stuttgart) 2004; 80(11): 451-454
DOI: 10.1055/s-2004-832302
Versorgung

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Spezialisierung in der Allgemeinmedizin - eine Entwicklung in Primärarztsystemen, am Beispiel der Niederlande[*]

Specialisation in General Practice - A Development in Primary Care Systems: The Netherlands as an ExampleH. Crebolder1
  • 1Dpt. of General Practice, Maastricht University, The Netherlands
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Publication Date:
23 November 2004 (online)

Primärarztsysteme zeichnen sich dadurch aus, dass der Primärarzt, der Generalist, der Allgemeinarzt oder der Hausarzt die Anlaufstelle ist, die im Regelfall immer primär aufgesucht werden muss. Diese Arztgruppe hat die Funktion, über die Frage zu entscheiden, ob sie selbst für die Versorgung zuständig ist, oder ob nach ihrer Meinung eine Überweisung zum Spezialisten (ambulant) oder in eine stationäre Einrichtung notwendig ist. Die Mehrzahl der Länder mit Primärarztsystemen haben Spezialisten für den ambulanten Bereich in nur geringer Anzahl und dann fast immer nur am Krankenhaus für sowohl den stationären als auch den ambulanten Bereich dort tätig.

Ein solches System hat über die Jahrzehnte dazu geführt, dass die Allgemeinmediziner relativ breit gebildet, weil breit zuständig geblieben sind. Andererseits hat dies jedoch mit zunehmender Spezialisierung innerhalb der gesamten Medizin auch zu dem Problem geführt, dass die Zahl der Spezialisten für die sich stellenden Probleme in diesen Ländern zunehmend nicht mehr ausreichend war. Dabei stellte sich aber auch heraus, dass ein Teil der als „spezialistisch” angesehenen Problemen sehr wohl in den Händen von Hausärzten weiter versorgt werden kann. Der dann aber verbleibende andere Teil bedarf jedoch in der Tat hochspezialisierter Kenntnis oder Technologie.

Anders als in Deutschland war es für diese Länder also das Problem, mehr Spezialkenntnisse bei den Generalisten zu akquirieren, weil die Zahl der Spezialisten nicht ausreichte, die Probleme zu bearbeiten. Wohingegen es in Deutschland eher durchgehend so war und ist, dass Spezialisten auch generalistische Funktionen und Fragestellungen - unter Inkaufnahme des Verlustes spezialistischer Erfahrung - versorgen: die täglichen Arbeitsanforderungen stellen eine Mischung spezialistischer und - übernommener - generalistischer Arbeit dar.

Im Folgenden soll von der Entwicklung „Spezialisierung in der Allgemeinmedizin” in den Niederlanden berichtet werden. Um das zu verstehend einordnen zu können, was hier berichtet wird, ist es notwendig, sich vor Augen zu halten, dass auch in den letzten Jahren schon in den Niederlanden weitaus breiter als in Deutschland - und damit nach deutschem Verständnis in den spezialistischen Bereich hinein - in der Allgemeinmedizin gearbeitet wird. So versorgen selbstverständlich in den Niederlanden die Allgemeinärzte die Kinder, die Frauen, die orthopädischen Probleme, einen Großteil der psychiatrischen Probleme, die Mehrzahl der urologischen Probleme und der Hals-Nasen-Ohren-Probleme etc. Dennoch wurde zunehmend gespürt, dass die Versorgung in dieser Breite für bestimmte Fragestellungen auch Vertiefungen - Spezialisierungen - braucht.

Allgemeinmedizin und Spezialisierung in einem Atemzug erscheint ein Paradox. Wie kann ein Arzt in einer Person Generalist und Spezialist sein, mit generalistischem Arbeitsansatz und zugleich spezialistischem arbeiten? Diese Frage ist für die Niederlande von noch größerer Bedeutung als für Deutschland, da in den Niederlanden eine klare Trennung sowohl der Funktion als auch der Position im System zwischen Allgemeinarzt (Hausarzt) und den anderen medizinischen Spezialisten besteht - wobei das Fach Allgemeinmedizin auf einer formalen Ebene (z. B. im EU-Recht) wieder eine Spezialisierung selbst darstellt.

Ein organisatorisches Charakteristikum der Allgemeinpraxis in den Niederlanden ist das so genannte Listen-System, jeder Bürger - nicht unbedingt immer Patient - ist auf der Liste einer Allgemeinmedizin-Praxis, die immer der Ort ersten ärztlichen Kontaktes bei Gesundheitsproblemen ist. In dieser Weise arbeitet der Allgemeinmediziner als Gatekeeper zum sekundären Versorgungssystem, den medizinischen Spezialisten, die in den Niederlanden alle am Krankenhaus tätig sind. Der Allgemeinmediziner - zusammen mit seinen Patienten - wählt aus, welche Behandlungsverfahren er anwenden kann und wo eine Überweisung notwendig ist. Ein jüngst durchgeführter Überblick hat gezeigt, dass 96 % der Behandlungsanlässe bei den Allgemeinärzten verbleiben, also dort behandelt werden.

Heutzutage ist auch der Begriff „Lotse” im Gebrauch: Die Person, die den Patienten durch die Komplexitäten des Gesundheitssystems hindurchführt und an den rechten Ort bringt, und die Person, die in diesem System den Patienten mit seinen Interessen vertritt (Anwaltsfunktion).

Die gatekeeper-Funktion wird deutlich, wenn man sich die primäre und sekundäre Versorgungsebene mit ihren Aufgaben innerhalb der Versorgung von Krankheit und Unwohlsein in der Gesellschaft anschaut. Wenn 100 Prozent alle Erkrankungen und Beschwerden beschreibt, dann kommen nur 10 Prozent zur Vorstellung beim Allgemeinarzt und von diesen 10 Prozent wiederum nur 5 Prozent über eine Überweisung zum medizinischen Spezialisten oder ins Krankenhaus.

Ich wage zu sagen, dass dieses System der Listen und der gatekeeper-Funktion Auswirkungen auf die Gesundheitsausgaben eines Landes insgesamt hat, weil es einen effizienten und kosteneffektiven Gebrauch der Ressourcen eines Landes ermöglicht. Die Gesundheitsausgaben (Tab. [1]) liegen in den Niederlanden zwischen denen von Großbritannien - mit einem ähnlichen System wie das der Niederlande - und denen von Deutschland und Frankreich sowie den USA.

Tab. 1 Kosten und Finanzierung. Absolute Ausgaben in der Gesundheit (% des Bruttosozialprodukts) Niederlande 8,0 % Großbritannien 7,5 % Frankreich 9,5 % Deutschland 10,6 % USA 13,0 %

1 Bearbeite Fassung eines Referates, gehalten beim 3. Deutschen Kongress für Versorgungsforschung, Bielefeld, 18. bis 19. Juni 2004. Übersetzung aus dem Englischen von H.-H. Abholz, H. Crebolder.

1 Bearbeite Fassung eines Referates, gehalten beim 3. Deutschen Kongress für Versorgungsforschung, Bielefeld, 18. bis 19. Juni 2004. Übersetzung aus dem Englischen von H.-H. Abholz, H. Crebolder.

Prof. Dr. Harry FJM Crebolder

Maastricht University

PO Box 6 16

6200 MD Maastricht

The Netherlands

Email: harry.crebolder@unimaas.nl

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