Z Sex Forsch 2004; 17(1): 60-69
DOI: 10.1055/s-2004-822588
Im Gespräch

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

„Homosexualität und Heterosexualität sind doch Fiktionen …”

Jeffrey Weeks
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Publication Date:
04 May 2004 (online)

Jeffrey Weeks ist Professor für Soziologie an der London Southbank University. Sein Hauptforschungsgebiet ist die Soziologie der Sexualität mit den Schwerpunkten Sozialgeschichte und sozialer Wandel der Sexualität, intime Beziehungen und Homosexualität.[*] Weeks ist einer der herausragenden Vertreter eines konstruktivistischen Denkansatzes in der Sexualforschung.

Auf der 21. Wissenschaftlichen Tagung der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung im September 2003 in Hamburg hielt Weeks einen Vortrag über seine jüngsten Forschungen zu gleichgeschlechtlichen Beziehungen. Über diesen Vortrag und über sein Buch „Same Sex Intimacies” (2001) sprach Gunter Schmidt mit Jeffrey Weeks.[*]

Die Redaktion

Schmidt: Vor 25 Jahren publizierten Sie einen Ihrer ersten Aufsätze zur Homosexualität. Es war das Vorwort zur englischen Ausgabe von Guy Hocguenghems Buch „Homosexual Desire”. [ ] Wenn Sie auf das letzte Vierteljahrhundert zurückblicken, welches sind für Sie die wichtigsten Veränderungen in der Lebenssituation von Schwulen und Lesben?

Das Wichtigste ist die Leichtigkeit, mit der wir heute über Homosexualität reden und schreiben können, und beides hängt eng miteinander zusammen. Als ich Mitte der 1970er damit anfing, über Homosexualität zu schreiben, war es ziemlich schwierig, diese Arbeiten zu publizieren. Es gab kaum seriöse Möglichkeiten, Beiträge zur Homosexualität, die von der Schwulenbewegung geprägt waren, zu veröffentlichen. Wir standen vor Mauern. Heute ist das Schreiben über Homosexualität gleichsam eine Industrie geworden. Und das kennzeichnet den enormen Wandel in den Haltungen zur Homosexualität und zur Sexualität ganz allgemein, darin spiegeln sich die dramatischen Transformationen „von unten” in den Einstellungen zur Sexualität wider.

Hätten Sie diese Entwicklung vor 25 Jahren erwartet?

In den 1970ern dachten wir eine Zeit lang, dass sich alles dramatisch ändern würde, dass wir in der Mitte einer gewaltigen Revolution steckten, dass alles über Nacht anders würde. Am Ende der 1970er hingegen erwarteten wir, dass sich nichts ändern würde. Alles schien tiefgefroren. Und wenn man sich die politische Kultur in England ansieht, dann blieb das so bis weit in die 1980er. Rückblickend ist aber Folgendes bemerkenswert: Unter der Oberfläche eines tiefen Konservatismus in sozialen und kulturellen Fragen vollzog sich ein enormer Wandel „von unten”, auf der „grass roots”-Ebene. Die Menschen bastelten einfach ihre eigene Geschichte, wenn auch nicht unter Umständen, die sie unbedingt selbst gewählt hätten. Als dann das Eis in den 1990ern zu tauen begann, beobachteten wir dramatische Veränderungen, allerdings nicht solche, wie wir sie in den 1970ern erwartet hatten. Eines der interessantesten Beispiele dafür sind die Einstellungen zur Familie und zur Paarbeziehung. In den 1970ern erwarteten wir, also diejenigen, welche in der Schwulenbewegung aktiv waren, das Ende der Familie und das Aufkommen ganz anderer Formen von Beziehungen. Als ich in den 1990ern mit meinen Studien über den Wandel der Lebensformen von Lesben und Schwulen begann[*], stellte ich fest, dass es eine intensive Beschäftigung mit alternativen Mustern des Familienlebens gab, mit Formen, die ich „families of choice”, Wahlfamilien, genannt habe. Die Wichtigkeit von Intimität, besonders von Paar-Intimität wurde mit Nachdruck betont. Unsere utopischen Hoffnungen, dass wir die Macht und die Ideologie der Familie und des Paares überwinden können, verwandelte sich in die Erkenntnis, dass Menschen familienähnliche Beziehungen, Paarbeziehungen wollten, allerdings zu ihren eigenen Bedingungen. Sie wollten ein kreatives Familienleben, sie wollten kreative Paarbeziehungen, sie wollten neu definieren, was feste Beziehungen bedeuten, neu definieren, was Intimität heißt. Das ist nun ein Wandel, den ich nicht erwartet hätte, obwohl ich ihn teilweise selbst gelebt habe.

Sie haben kürzlich einen Aufsatz geschrieben mit dem Titel „An unfinished revolution”. [*] Was blieb unvollendet?

Ich wollte in dieser Arbeit die Idee diskutieren, dass wir uns in der Mitte einer permanenten Revolution befinden. Und eine permanente Revolution ist per definitionem immer unvollendet.

Ich wollte von der Vorstellung wegkommen, dass sich in den 1960ern alles geändert hat und dass wir es heute nur mit den Folgeerscheinungen der „sexuellen Revolution” zu tun haben. Die Revolution setzte sich fort und ihr Einfluss auf den kulturellen Wandel blieb zunächst durchaus begrenzt. Blickt man heute zurück, dann erkennt man, dass sie eher eine Revolution einer besonderen Elite war als ein Massenphänomen. Die wirkliche Revolution der letzten 30 Jahre fand unter der Oberfläche der öffentlichen Ereignisse statt, sie war eine „grass roots”-Revolution. Mal ging es langsam voran, dann wieder schneller, das Tempo wechselte immer wieder. Wir sind noch mitten in diesem Prozess, und es ist kaum abzusehen, wo und wie es einmal enden wird. Haben Sie eine Idee, wo es enden könnte?

Soziologen können die Vergangenheit besser vorhersagen als die Zukunft. Doch wenn ich schon etwas vorhersagen soll, möchte ich drei Dinge erwähnen: Zum einen sind die Veränderungen, die stattgefunden haben, unumkehrbar. Menschen, die einen „backlash” erwarten, also eine Rückkehr zu traditionellen Werten, irren sich. Nun gibt es vielerorts durchaus hässliche Anzeichen eines „backlashs”, die mit dem Aufstieg des Fundamentalismus zusammenhängen, und im Hinblick auf die Gesetzgebung gehen wir gelegentlich drei Schritte vorwärts und dann wieder zwei zurück. Dennoch glaube ich, dass diese Veränderungen tief verwurzelt sind. Zweitens glaube ich, dass die Demokratisierung von Beziehungen ein wichtiges Kennzeichen dieser Veränderungen ist. Das Muster, das ich als „emotionale Demokratie” bezeichnet habe, ist heute tief verankert. Es geht darum, dass Menschen ihre eigenen Entscheidungen treffen wollen über die Art und Weise, wie sie ihr Leben leben. Doch zur gleichen Zeit sehen sie, und das ist der dritte Punkt, dass sie trotz des demokratischen Impetus immer noch durch alle möglichen Formen von Macht, Differenzierungen und Grundannahmen eingeschränkt werden und ungleich sind. Männer und Frauen, vor allem jüngere, haben oft den Anspruch auf volle Gleichheit in sexuellen und intimen Beziehungen; doch in der Praxis stößt dieser Anspruch immer wieder an Grenzen, wie etwa die ungleiche Arbeitsteilung im Haushalt und in der Kinderversorgung zeigt. So ist der Traum von Gleichheit da, aber im Alltag bestehen Machtdifferenzen und Ungleichheit fort. Wir leben keineswegs in einer Gesellschaft von Gleichen. Aber der Wunsch nach Demokratie, der Impuls, all diese Schranken zu durchbrechen, ist sehr stark. Und das ist nun nicht die Folge davon, dass Frauen gerade mal feministisch sind oder dass Männer plötzlich mal zu fürsorglichen und anteilnehmenden Menschen konvertieren; da ist etwas Dynamisches unter der Oberfläche der Erscheinungen.

Was Sie „emotionale Demokratie” oder Anthony Giddens [*] „reine Beziehung” nennen, ist offenbar in gleichgeschlechtlichen Beziehungen weiter entwickelt als in gegengeschlechtlichen. Warum ist das so?

Der wesentliche Grund dafür, warum emotionale Demokratie bei gleichgeschlechtlichen Paaren weiter verbreitet sein dürfte, liegt darin, dass sie weniger darum kämpfen müssen, den traditionellen Unterscheidungen, die Menschen voneinander trennen, zu entkommen. Irgendwie mussten wir alles neu erschaffen. Es gab keine spezifischen Ehe- oder Familienmuster, an die wir uns hätten halten können, und keine Rollen, aus denen wir flüchten mussten. Alles musste diskutiert werden, alles musste verhandelt werden, von Anfang an. Der Prozess des Aushandelns kann schmerzvoll sein. Er kann auch zu Rollendifferenzierung führen, aber die Rollendifferenzierung ist dann eine gemeinsame Entscheidung, sie ist diskutiert, man hat sich darauf geeinigt. In gleichgeschlechtlichen Beziehungen ist alles flüssiger, flexibler, verhandelbarer. Die Lebensexperimente, die nach Anthony Giddens heute alle unternehmen müssen, sind für das Leben von Schwulen und Lesben schon immer essenziell gewesen. Für Heterosexuelle sind sie nicht in gleicher Weise notwendig, für diese haben sie nicht die gleiche imperative Kraft. Aber die Logik des kulturellen Wandels im Sinne von Individualisierung und mehr Gleichheit zwischen den Geschlechtern wird schließlich ähnliche Veränderungen bei heterosexuellen Paaren erzwingen.

Hat die HIV/AIDS-Krise diese Entwicklung beeinträchtigt oder gefördert?

Das ist eine interessante Art und Weise, es zu betrachten. Sie hat die Entwicklung sowohl gefördert als auch gestört. So bestand in den späten 1980ern die Gefahr, die Homosexualität wieder zu medikalisieren. Homosexualität wurde als ein Problem im Hinblick auf die Verbreitung von HIV/AIDS gesehen. Das führte zu dem Versuch, solche Freiheiten einzuschränken, von denen die Leute glaubten, dass sie etwas mit der Krise zu tun hatten. Konservativere Kräfte benutzten die Krise, um auf die Homosexuellen einzudreschen und einen „backlash” zu befördern. Ohne Zweifel passierte das hier und da. Andererseits half die Krise auch, schwule Sexualität zu etwas Normalem zu machen. Bis dahin waren viele Aspekte schwuler Sexualität hinter den Kulissen versteckt, nun wurden sie plötzlich Thema der öffentlichen Diskussion. Dies eröffnete ein größeres Wissen über die Sexualpraktiken schwuler Männer und machte deutlich, dass homosexuelle Praktiken nicht notwendigerweise mit einer schwulen Identität verknüpft sind. Es gibt ein Spektrum von Sexualitäten, die sich den Kategorien Homosexualität und Heterosexualität entziehen. Schließlich und gleichermaßen wichtig: Die Krise zwang die schwule Community, Verantwortung und Fürsorge füreinander zu übernehmen. Was bis dahin eine überwältigend hedonistische Kultur gewesen war, wurde immer stärker eine Kultur der Sorge um den anderen, des Kümmerns um die eigenen Leute, der Verantwortung für die eigenen Lebensweisen. Man sieht das am Aufkommen einer Kultur des „safer sex” - und in der zunehmenden Anerkennung der Bedeutung des „Familiemachens” („doing family”) und dessen, was ich Wahlfamilie nenne.

Was ist mit dem Sex, wenn die schwule Community so bestrebt ist, familienähnlich zu leben? In der Diskussion über Ihren Vortrag heute morgen deuteten Sie an, dass das Leben schwuler Männer im Vergleich zu den 1970ern desexualisiert wirke, weniger fokussiert auf den Sex.

Desexualisiert würde ich nicht sagen. Sie können doch in jeder größeren Stadt der Welt beobachten, wie die Möglichkeiten für ganz unterschiedliche Formen der Sexualität zunehmen. So gesehen schreitet die Sexualisierung der Kultur fort. Aber auf eine merkwürdige Art und Weise macht diese Sexualisierung der Kultur den Sex zu einer weniger potenten Angelegenheit, auch in der schwulen Community. Nun, da Sexualität ständig um uns herum ist, hat die Sexualität das Obsessive verloren.

Alles ist entspannter?

Sexualität wird entspannter, irgendwie normaler, Gelegenheiten gibt es ja genug. Und wenn Gelegenheiten vorhanden sind - real auf den Straßen von London, Hamburg oder Amsterdam oder virtuell auf dem Highway des Internet -, dann nutzt man sie oder man lässt es. Das ist in der Tat eine Lektion der letzten 30 oder 40 Jahre: Wir sind vom Sex besessen, wenn er uns verweigert wird. Wenn die Möglichkeiten vorhanden sind, werden wir ein bisschen lässiger damit. Also, der Sex ist nicht tot, natürlich nicht, aber er beschäftigt uns nicht mehr so, wir sind nicht mehr so darauf fixiert, neue sexuelle Freiheiten zu erreichen. Wir denken eher über die Beziehungsaspekte des Lebens nach, wollen Anerkennung für unsere Partnerschaften finden, gleiche Rechte in Bezug auf Elternschaft erreichen, dafür sorgen, als naher Angehöriger betrachtet zu werden, wenn unser Partner im Krankenhaus liegt. All diese Fragen, die in der HIV-Krise so deutlich wurden, sind in den Vordergrund gerückt.

Wenn man die Wissenschaftsgeschichte betrachtet, dann sind Sie ein „PräQueer-Theoretiker”. Welchen Einfluss hatte die Queer-Theorie auf Ihr Denken und Ihre Forschung?

Meine erste Reaktion war die eines Dejä-vu. Um ehrlich zu sein, ich sah nicht allzu viel Neues in den frühen Stadien der Queer-Theorie, kaum etwas, das sich wesentlich unterschieden hätte von dem, was Forscher wie ich in den 1970ern niederzuschreiben versuchten.

Nur ein neues Wort?

Nur ein neues Wort. Für Dennis Altman[*], einen der Pioniere schwuler Theorie, ist es das Ziel der Schwulenbewegung, dass der Homosexuelle und der Heterosexuelle verschwinden. Und im Grunde war das der Kernpunkt dessen, was die Queer-Theorie versuchte, nämlich die kategoriale Unterscheidung „Homosexualität/Heterosexualität” einzureißen. Die Arbeit von jemandem wie Guy Hocquenghem im Frankreich der 1970er oder meine Anmerkung zu Guy Hocquenghem in dem Essay, den Sie vorhin erwähnten, waren im Grunde „Proto-Queer-Theorie”, wenn Sie dieses Wort verwenden wollen. Denn wir sprachen über fließende Identitäten, darüber, dass die Geschichte und nicht die Natur Identitäten fixiert hatte. Wir erkannten, dass die Festlegung von Identitäten und die Entstehung von positiven Versionen solcher fixierten schwulen Identitäten durch die Homosexuellenbewegung den Weg bahnten für eine Vervielfältigung und damit für eine Fragmentierung von Identitäten. Diesen Denkansatz gab es 20 Jahre bevor die Queer-Theorie entstand. Zum Teil war die Queer-Theorie eine Revolte der jüngeren Generation gegen die Pioniere. Ein Wechsel der intellektuellen Strömung spielt sicherlich auch eine Rolle: Die Pioniere der lesbischen und schwulen Theorie kamen vor allem aus den Bereichen der Geschichtswissenschaft, der Soziologie oder verwandter Fächer. Einige der führenden Queer-Theoretiker hingegen kamen aus der Literaturwissenschaft und -theorie.

Sie erwähnten Altmans Bemerkung über das Ende von Homosexualität und Heterosexualität. Was heißt dies heute für Sie?

Zunächst: Wir müssen die Kategorien Homosexualität und Heterosexualität historisieren und anerkennen, dass sie keine ontologischen Kategorien sind. Sie sind doch nur Fiktionen. Sie sind Erfindungen unseres Kopfes, und was wir erfinden, können wir auch weg-erfinden. Das heißt nicht, dass wir die Besonderheit unseres sexuellen Verlangens nicht emotional besetzen, und selbstverständlich wird unser sexuelles Verlangen besonders effektiv dadurch organisiert, dass wir uns soziale Welten schaffen, in denen wir es verwirklichen können. Wir sollten die Existenz des Homosexuellen, des Heterosexuellen oder was auch immer also nicht verleugnen oder in Abrede stellen. Aber wir brauchen einen Sinn für die Kontingenz dieser Kategorien. Sie haben schließlich nicht immer existiert, nicht einmal in unserem eigenen Leben. Ich wurde nicht dazu erzogen zu glauben, ich sei homosexuell. Meine Affinität zu dieser Kategorie fand ich erst in meinen späten Teenagerjahren und in meinen frühen Zwanzigern. Damals lernte ich eine besondere Sprache des Verlangens und der Identität, die seitdem meine Wahrnehmung der Welt prägt. Ich denke, dies ist ein ganz allgemeiner sozialer Prozess, durch den wir alle gehen. Es ist also erstens wichtig, dass wir die Kontingenz und die Historizität der Etiketten „homosexuell” und „heterosexuell” verstehen. Zweitens, und damit zusammenhängend, ist es notwendig anzuerkennen, dass es unterschiedliche soziale Welten gibt. Und die Bedeutungen von Homosexualität und Heterosexualität variieren enorm in diesen unterschiedlichen Welten.

Wenn man sich als „homosexuell” oder „heterosexuell” definiert, dann definiert man sich als „monosexuell”, wie John Money [*] es genannt hat.

Das sexuelle Verlangen ist häufig strukturiert durch ein Geschlecht.

Können Sie sich vorstellen, dass diese Art von Monosexualität auch verschwinden könnte? Ist es das, was Altman auch meinte?

Das ist eine interessante Frage. Ich habe Altman immer so gelesen, dass es nicht wichtig ist, ob man homosexuell oder heterosexuell ist oder keins von beidem. Die meisten Menschen erleben ihre Sexualität als ziemlich festgefügt. Doch wir wissen, dass Menschen sich im Verlauf ihres Lebens ändern können, manchmal allmählich, manchmal abrupt; nicht alle, nicht einmal die Mehrheit, aber einige Menschen verändern ihre Sexualität. Sie durchlaufen schwule Phasen und Hetero-Phasen und dann vielleicht wieder schwule Phasen. Einige verändern ihre Vorlieben, ohne ihre Identität zu ändern, zum Beispiel wenn sie eine klare bisexuelle Identität haben. Andere wiederum verändern ihre Identität. Ich kenne Männer, die sich auf dramatische Weise von schwul zu hetero und vice versa gewandelt haben. Die meisten von uns aber haben ein Gefühl der Sicherheit, wenn sie bei dem bleiben, was sie einmal sind. Wenn die Kategorien „heterosexuell” und „homosexuell” aber eines Tages ihre rigide normative Kraft verlieren, dann kann es durchaus sein, dass Menschen ihre Sexualität eher plurisexuell als monosexuell leben. Die sexuelle Organisation mancher Menschen ist beweglicher als die anderer. Entscheidend ist, dass wir uns darum nicht so viele Sorgen machen. Wir müssen nicht damit hadern, dass es diese Kategorien gibt, und wir sollten nicht damit hadern, wenn sie irgendwann einmal verschwinden. Wir sollten uns erst recht keine Sorgen machen, wenn sich Menschen entscheiden, sich so oder so zu definieren, denn diese Definitionen sind schließlich individuelle Entscheidungen und Affinitäten mit besonderen sozialen Welten und nichts, das fixiert oder ewig ist.

Sie haben den Begriff „heterosexual assumption” geprägt, was man vielleicht mit heterosexueller Erwartung oder Annahme übersetzen könnte, um zu beschreiben, was andere die heterozentristische Organisation des Lebens genannt haben. Warum wählen Sie einen neuen Begriff für eine alte Kondition?

Diesen Begriff habe ich mit meinen Kollegen Brian Heaphy und Catherine Donovan[*] entwickelt. Wir wollten wegkommen von den Implikationen der alten Begriffe „Heterosexismus”, „heterosexuelle Agenda”, „heterosexuelle Matrix”, „Zwangsheterosexualität”, „Heteronormativität”. All diese Begriffe sind ein Versuch, in Worte zu fassen, dass Homosexualität, trotz der größeren Toleranz, immer in Bezug auf die dominante Form, die Heterosexualität definiert wird. Das haben alle Begriffe mit dem unseren gemeinsam. Mit der „heterosexuellen Annahme” wollten wir aber andeuten, dass dies alles weniger imperativ und ultimativ ist, als es die anderen Begriffe nahe legen. Es ist eher etwas, das sich im Hinterkopf abspielt, etwas, das uns wie ein Hintergrundgeräusch begleitet.

Ist Ihr Begriff weniger ideologisch?

Er ist weniger ideologisch. Aber es gibt noch dieses Restgeräusch in der Welt, in der wir leben. Immer wieder ist die heterosexuelle Annahme im Vordergrund. Das ist das Problem - nicht, dass die Strukturen so rigide sind, dass kein Wechsel möglich ist. Einige Befürworter der alten Begriffe geraten in eine schreckliche Falle, wenn sie sagen, dass es unmöglich sei, die zwangsheterosexuellen Imperative zu zerstören, dass also kein Wandel möglich sei. Als Sozialwissenschaftler und Historiker müssen wir zweifellos anerkennen, dass Veränderungen stattgefunden haben. Und deshalb mussten wir das Konzept modifizieren. Aber, wie gesagt, da ist immer noch dieses Geräusch in unserem Hinterkopf, das anzeigt, dass es keine volle Akzeptanz, keine volle Toleranz gibt. Und deshalb ist der Begriff „Annahme” ein besserer Weg, die Verhältnisse zu beschreiben.

Wenn Sie durch die Straßen gehen oder durch die Stadt, wo treffen Sie die heterosexuelle Annahme?

Nun, wir erkennen sie an der Tatsache, dass sich ein heterosexuelles Paar im Bus bei den Händen halten kann und ein schwules oder lesbisches Paar dies selten tut. Sie sehen auf der Straße heterosexuelle Paare, die sich küssen; aber zwei Männer oder zwei Frauen gucken sich erst einmal um, bevor sie sich küssen. Sie sehen die heterosexuelle Annahme, wenn die Gerichte in Scheidungsprozessen immer noch zögern, das Sorgerecht dem schwulen Vater zu geben und nicht der heterosexuellen Mutter. Gleichgeschlechtlichen Paaren, die in legalisierten Partnerschaften leben, ist in den meisten Ländern Europas immer noch das Recht auf Adoption verwehrt. Und Sie sehen die heterosexuelle Annahme in den vielfältigen Beispielen dafür, was passiert, wenn Ihr Partner krank im Hospital liegt oder was in Erbangelegenheiten passiert, wenn der Partner stirbt. Die Rechtsprechung mag egalitärer sein als früher, aber sie ist nicht gleich. Allein die Tatsache, dass die Ehe von Kirche und Staat sanktioniert und in der katholischen Kirche ein Sakrament ist, während es für Homosexuelle nur die anerkannte Partnerschaft gibt, sagt viel über die herrschende heterosexuelle Annahme.

Lassen Sie uns zurückkommen auf Ihre Studie über gleichgeschlechtliche Partnerschaften. In der Diskussion nach Ihrem Vortrag heute morgen wurde kritisch angemerkt - und es schien mir einleuchtend -, dass in Ihrem Buch viel die Rede ist von emotionaler Demokratie, Harmonie, netten Leuten, Füreinander-Dasein, Vertrauen, Offenheit usw. Was ist mit Aggressivität, Destruktivität, Gemeinheit, Ausbeutung, Wut und Kampf in Beziehungen?

Die dunkle Seite von Beziehungen kommt in dem Buch sehr wohl zur Sprache.

Aber nur im Hinblick auf Macht.

Nun, wir haben am Konzept „Macht” die Grenzen der Gleichheit diskutiert. Und wir diskutieren auch Aggression, Gewalttätigkeit und Formen von Ungleichheit, also ungleiche ökonomische Macht, ungleiche emotionale Macht, ungleiche Macht in Bezug auf ethnische Unterschiede. So führen wir eine Reihe von Beispielen an, die zu Gewalttätigkeit führen können. Unser Buch ist keine Erkundung von individuellen Antrieben, Energien oder Wünschen. Wir untersuchten die Geschichten, die wir um unsere Leben herum weben. Es ist bewusst organisiert um die Idee des „Geschichtenerzählens”, wie Ken Plummer sie entworfen hat.[*] Wir wollten keinen tiefenpsychologischen Blick auf die Quellen von Gewalt und Aggression werfen.

Sie möchten die Geschichten der Befragten erzählen, keine Expertengeschichten?

Ich denke, die Geschichten der Befragten sind selber Expertengeschichten. Manchmal denken Experten, sie hätten die besseren Geschichten.

Offensichtlich. Ich will das gar nicht in Frage stellen, aber das ist nicht das, was wir in unserem Buch versuchen. Dies sind Geschichten „von unten”. So haben wir unsere Forschung gemacht, so haben wir unser Buch geschrieben.

Ist es für Soziologen wichtig, sich mit diesen Geschichten zu befassen?

Absolut. Diese Geschichten geben Auskunft darüber, wie wir unserem individuellen Leben Bedeutung verleihen. Und es sind Geschichten, die zirkulieren und die die Geschichten anderer Leute über ihr Leben beeinflussen. Auch unsere Studie, unser Buch, unsere Aufsätze über „same sex intimacies” tragen zu diesen Geschichten bei, wir sind selbst Geschichtenweber. In unserem Buch geht es um eine Reflexion der vielfältigen subjektiven Beziehungswahrheiten der Männer und Frauen, die uns ihre Geschichten erzählten. Diese Geschichten repräsentieren nur einen Aspekt der Wahrheit, aber einen unbestreitbaren. Es gibt eine Vielzahl unterschiedlicher Wahrheiten über das alltägliche Leben.

Ist das Konzept des Geschichtenerzählend eine kühle, britische Antwort auf das französische Konzept des Diskurses und der Diskursanalyse? Was ist der Unterschied zwischen einer Geschichte und einem Diskurs?

Nun, in gewisser Hinsicht sind sie ähnlich, denn beide handeln von narrativen Strukturen, von der Art und Weise, wie wir unsere Wahrheit im Rahmen eines Narrativs schaffen. Ken Plummers Gebrauch der „Geschichten” ist ein wichtiger Perspektivwechsel. In der Tradition Foucaults postuliert das Diskurskonzept eine enge Beziehung zwischen Wissen und Macht; Diskurse sind organisierende Rahmenbedingungen, die Formen der Macht verkörpern. Durch Diskurse werden Subjektivitäten geformt, aber sie werden geformt als eine Funktion des Diskurses. Die Grundidee Plummers ist, dass wir alle Geschichtenerzähler sind und dass wir alle versuchen, unserem Leben Bedeutung zu geben, indem wir Narrative schaffen. Die Geschichten erklären uns unser Leben von den Anfängen an, individuell und kollektiv, in den Begriffen der sozialen Welten, die wir bewohnen. Plummers Geschichten sind, anders als die Diskurse, ein „grass roots”-Konzept, Geschichten „von unten”, nicht „von oben”. „Diskurse” sind offenbar das komplexere Konzept, und die „Geschichten” mögen demgegenüber weniger sophisticated erscheinen. Aber wenn wir offen sein wollen gegenüber der Art und Weise, wie wir alle unsere Narrative über unsere Leben schaffen, dann ist die Idee der Geschichten sehr nützlich - und sie ist auch sehr einflussreich.

Lassen Sie uns noch einmal auf Ihr Buch zurückkommen. Gestern diskutierten wir auf der Tagung die Frage der Assimilation und der Differenz im Hinblick auf die Homosexualität. Was glauben Sie: Deuten die von Ihnen gefundenen Veränderungen in den „Same Sex Intimacies” mehr auf Differenz oder mehr auf Assimilation hin? Und wer nähert sich wem an?

Das ist eine interessante Frage. In meinem Buch „Invented Moralities”, aber auch in „Same Sex Intimacies”[*] habe ich argumentiert, dass soziale Bewegungen, die mit Sexualität zu tun haben, zwei Phasen durchlaufen: die Transgression und die Einforderung von Bürgerrechten. Das Moment der Transgression liegt in der Herausforderung herkömmlicher Lebensformen - Familie, Partnerschaft usw. -, im Betonen der Differenzen, im Beharren auf dem Recht, anders zu sein. Das Moment der Bürgerrechte zeigt sich in der Forderung nach Anerkennung der eigenen Lebensweise, der eigenen Formen der Familie und der Partnerschaft. Beide Phasen sind vermutlich in der Geschichte jeder sozialen Bewegung notwendig. Eine scharfe Trennung oder Opposition zwischen Assimilation und Differenz verschleiert die Komplexitäten unserer Lebenssituation. Selbst die „assimilative” Forderung nach zivilrechtlicher Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften oder nach der gleichgeschlechtlichen Ehe provoziert die monolithischen Bedeutungen der traditionellen Formen, unterwandert sie und beginnt, sie zu ändern. Doch ich sehe keinen Sinn darin, ein ganzes Leben im transgressiven Modus, im oppositionellen Modus zu verbringen, weil die meisten Menschen auch Teil der Gesellschaft sein wollen. Sie wollen nicht außerhalb der Gesellschaft bleiben. Differenzen werden verstärkt, wenn Gleichheit verneint wird. Aber sobald bestimmte Formen der Gleichheit erreicht sind, sollten wir das anerkennen und uns dann dem nächsten Problem zuwenden, weil Ungleichheit und Unterschiedlichkeit nicht verschwinden werden. Doch die Formen von Gleichheit und Ungleichheit wandeln sich. Wir werden nie in einer perfekten Gesellschaft leben, aber wir können bestimmte Formen des Ausschlusses loswerden. Wir können bestimmte Formen des Einschlusses erreichen und uns dann weiteren Formen des Ausschlusses zuwenden.

Dies klingt wieder ziemlich optimistisch.

Es ist sehr leicht für Sozialwissenschaftler, immer nur die negative Seite von irgendwelchen Veränderungen zu sehen. Soziologen, vor allen Dingen jene, die von Foucault beeinflusst sind, werden nicht müde, uns zu suggerieren, dass Macht überall lauert, dass wir der Macht nie entkommen können. Und wenn wir glauben, Freiheiten hinzugewonnen zu haben, dann haben wir uns nur einer anderen Maske der Macht angepasst, das ist alles. Ich möchte diesen Pessimismus durchbrechen. Ich will uns nicht einreden, dass alles wunderbar ist oder dass wir in der besten aller Welten leben; aber ich glaube, einige Dinge haben sich tatsächlich zum Besseren gewandelt. Natürlich müssen wir die Schattenseite des sozialen Wandels benennen, aber wir müssen auch die bessere Seite sehen. Ich bin überzeugt, dass sich während meiner Lebenszeit seit 1945 erhebliche Durchbrüche vollzogen haben, nicht nur im Hinblick auf materielle Annehmlichkeiten, sondern tatsächlich auch im Hinblick auf sexuelle Freiheiten. Auch hier gibt es Schattenseiten, wir dürfen jedoch nicht verkennen, dass es wirkliche Gewinne gegeben hat. Würden wir das verkennen, dann wären alle Kämpfe, um etwas zu verändern, absolut nutzlos und sinnlos gewesen. Warum wurde weiter gekämpft? Weil die Kämpfe erfolgreich waren. Sie haben nicht alle Probleme gelöst. Sie haben neue Probleme geschaffen und sichtbar gemacht. Notwendig ist beides: ein Gespür dafür, was sich zum Besseren gewandelt hat, und eine Sensibilität für die weiterhin bestehenden Formen des sozialen Ausschlusses und für die Art und Weise, in der Macht operiert. Diese Balance zu finden und zu halten ist eine der größten Herausforderungen für Sozialwissenschaftler heute.

Vielen Dank, Jeffrey Weeks.

1 Vgl. u. a. die Buchpublikationen: Coming out. Homosexual politics in Britain from the nineteenth century to the present. London: Quartet, 1977, rev. ed. 1990; Sex, politics and society. The regulation of sexuality since 1800. London: Longman, 1981; Sexuality and its discontents. Meanings, myths and modern sexualities. London: Routledge, 1985; Between the acts. Lives of homosexual men 1885 - 1967. London: Routledge, 1990, 2. ed. London: Rivers Oram, 1998 (hrsg. gemeinsam mit Kevin Porter); Against nature. Essays an history, sexuality and identity. London: Rivers Oram, 1991; Invented moralities. Sexual values in an age of uncertainty. Cambridge: Polity Press, 1995; Making sexual history. Cambridge: Polity Press 2001; Same sex intimacies. Families of choice and other life experiments. London: Routledge, 2001 (gemeinsam mit Brian Heaphy und Catherine Donovan); Sexuality. London: Routledge, 2004

2 Die Tonbandaufzeichnung des Interviews transkribierte Johannes von Stritzky, Hamburg. Gunter Schmidt übersetzte das Gespräch aus dem Englischen.

3 Hocquenghem G. Homosexual desire. London: Allison and Busby, 1978 (franz. Orig.: Le desir homosexuel. Paris, 1972; dt.: Das homosexuelle Verlangen. München, 1974)

4 Weeks J, Heaphy B, Donovan C. Same sex intimacies. Families of choice and other life experiments. London: Routledge, 2001

5 Weeks J. An unfinished revolution: Sexuality in the twentieth century. In: Weeks J. Making sexual history. Cambridge: Polity Press, 2000

6 Giddens A. Wandel der Intimität. Sexualität, Liebe und Erotik in modernen Gesellschaften. Frankfurt/M: Fischer Taschenbuch Verlag, 1993

7 Altman D. Homosexual oppression and liberation. New York: New York University Press, 1971/1993

8 Money J. Homosexuell, bisexuell, heterosexuell. Zum psychoendokrinologischen Forschungsstand. Z Sexualforsch 1988; 1 : 123 - 131

9 Weeks et al. 2001, vgl. Fußn. 4

10 Plummer 1(. Telling sexual stories. Power, change and social worlds. London: Routledge, 1995; vgl. auch Plummer I( (im Gespräch mit Gunter Schmidt). Telling sexual stories. Z Sexualforsch 1997; 10 : 69 - 81

11 Vgl. Fußn. 1

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