ZFA (Stuttgart) 2004; 80(1): 23-25
DOI: 10.1055/s-2004-44890
Versorgung

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

„Gesundheitsreform” behindert rationale Therapie

“Healthcare Reform” Hind Rational TherapyW. Becker-Brüser1
  • 1A. T. I. Arzneimittelinformation Berlin GmbH, Berlin
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Publication Date:
10 February 2004 (online)

Die vielen Versuche der Kostendämpfung im Arzneimittelbereich blieben bislang ohne relevanten Erfolg, haben aber die Kreativität des Pharmamarketings beflügelt. Kaum wurde die aut-idem-Regelung festgeschrieben, tauchten in den Preisverzeichnissen virtuelle Produkte zu Fantasiepreisen auf. So wird der Bereich des unteren Preisdrittels der aut-idem-Regelung künstlich ausgeweitet. Seitdem die Anfang Januar in Kraft getretene Gesundheitsreform Kontur bekam, begannen Arzneimittelhersteller, diese zu unterlaufen. Produzenten rezeptfreier Arzneimittel stellen seit einigen Monaten Hunderte von Anträgen auf Neuzulassungen. Galt jahrzehntelang der rezeptfreie OTC (Over The Counter)-Status als lukrativ, sollen jetzt Veränderungen von Dosis, Indikationen und Risikoangaben Produkte wieder unter die Verschreibungspflicht bringen.

Ab Januar 2004 erstattet die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) nur noch verschreibungspflichtige Arzneimittel (Ausnahmen sollen bis spätestens 1. April 2004 festgelegt werden). Dies mag für Verwaltungsbeamte bequem sein, mit Sicherung der Therapiequalität hat eine solche Regelung jedoch nichts zu tun. Im Gegenteil: Etablierte Therapiestrategien werden umgekrempelt. Ausweichen auf fragwürdige beziehungsweise medizinisch unsinnige, aber erstattungsfähige Produkte droht. Dabei geht es nicht um die von Interessenvertretern häufig erwähnten „Forte”-Verordnungen, etwa eines Benzodiazepins statt Baldrian. Hier wäre Verzicht auf die medikamentöse Therapie nach entsprechender Aufklärung der Patienten die Strategie der Wahl. Dies gilt auch für viele Leber-, Venen- und andere Produkte mit unzureichendem Wirksamkeitsbeleg. Es ist aber zu befürchten, dass aus Gründen fehlender Erstattungsfähigkeit von bewährten, gut verträglichen und daher rezeptfreien Mitteln auf weniger erprobte verschreibungspflichtige und teurere Produkte ausgewichen wird, beispielsweise von Antihistaminika wie Loratadin (Lorano u. a.) auf Desloratadin (Aerius) oder von Clotrimazol-Vaginalzubereitungen (Canesten Gyn 1 oder 3 u. a.) auf Varianten vom Typ Oxiconazol (Myfungar).

Das Firmen-Marketing reagiert prompt: So verbreitet Ratiopharm Austauschlisten, in denen beispielsweise statt Paracetamol das verschreibungspflichtige Metamizol empfohlen wird [1], ein Analgetikum, das wegen des Agranulozytose- und Schock-Risikos in vielen Ländern nicht (mehr) vertrieben werden darf. Auch fast vergessene Altprodukte wie die Oxytetracyclin-Myrtol-Kombination Tetra-Gelomyrtol werden jetzt wieder beworben: „Die verschreibungspflichtige Alternative” [2]. Und Henning propagiert jetzt statt Jodid die „erstattungsfähige” verschreibungspflichtige Jodid-Schilddrüsenhormon-Kombination Thyronajod [3]. Der Aufruf der Bundesgesundheitsministerin an Ärzte, weiterhin rezeptfreie Medikamente zu verordnen, auch wenn diese nicht mehr von den Kassen erstattet würden [4], erscheint angesichts der administrativ induzierten Umschichtungen als hilfloser Appell.

Etablierte Strategien für kostengünstige Behandlungen laufen seit dem Jahreswechsel ins Leere. Das gesamte Arzneimittel-Preisgefüge ist umstrukturiert worden. Statt der degressiven Arzneipreisberechnung - höhere Handelsspanne bei niedrigem Einkaufspreis und geringerer Aufschlag bei höherem Einkaufspreis - werden in den Apotheken seit Januar generell 3 % auf den Einkaufspreis verschreibungspflichtiger Produkte aufgeschlagen plus ein Festzuschlag von 8,10 € (zuzü glich 16 % MWST, abzüglich Rabatt von 2 € für GKV). Durch diesen Systemwechsel werden bislang preiswerte Arzneimittel - beispielsweise Augenmittel - beträchtlich teurer. Heute noch teure Produkte werden preisgünstiger, z. B. AIDS-Mittel und viele Antibiotika (Tab. [1]). Die Preise rezeptfreier Medikamente für die Selbstmedikation werden in den Apotheken jetzt frei kalkuliert.

Tab. 1 Preisentwicklung - niedrig- vs. hochpreisige PräparateJetzt billige Produkte werden teuer: Ein verschreibungspflichtiges Arzneimittel wird mindestens 9,41 € kosten (bei einem theoretischen Apothekeneinkaufspreis von 0,01 €). Im teuren Arzneisegment müssen Apotheken dafür deutliche Einbußen hinnehmen, z. B. 201,70 € bei Rebif Preisvergleiche „vorher” und „nachher” Apothekeneinkauf Apothekenverkauf* Dez. 2003 ab 1.1.04 Differenz€ Pilopos 1 % Augentr. (10 ml) 1,74 3,27 11,48 + 8,21 Ciprobay 750 (20 Tbl) 141,38 213,20 178,32 - 34,88 Rebif 44 µ g (12 Spr) 1 211,11 1 658,13 1 456,43 - 201,70 * Preisberechnung zum 1. Jan. 2004 aus Gründen der Vergleichbarkeit unter der Annahme eines unveränderten Apotheken-Einkaufspreises. Dieser wird jedoch wegen Absenkung auch des Großhandelsaufschlages etwas niedriger liegen, sofern der Herstellerabgabepreis gleich bleibt. Einkaufspreise ohne MWST, Verkaufspreise einschließlich 16 % MWST, alle Preisangaben in €.

Auch die Umstellung der Preisberechnung dürfte einschneidende Konsequenzen für therapeutische Entscheidungen haben. Durch den Festaufschlag wird vor allem im unteren Preisbereich der Preisabstand zwischen Klein- und Großpackungen unscheinbar. Ein Trend zu Großpackungen und damit zu noch mehr Arzneimittelmüll ist absehbar, da sich Sparsamkeit durch Kleinpackungen nicht mehr rechnet (Tab. [2]) und pro Arzneimittel mindestens 5 € Selbstbeteiligung fällig werden (10 % des Preises, aber mindestens 5 € und maximal 10 €).

Tab. 2 Niedriger Kostenbereich - Klein- vs. Großpackung Die Preise von Klein- und Großpackungen gleichen sich an. Sind 100 Tabletten Diclo 50-1 A im Dezember 2003 doppelt so teuer wie die 50er-Packung Packung (9,87 vs. 4,92 €), schrumpft der Preisabstand ab Januar auf 27 % (15,87 vs. 12,53 €) Preisvergleiche „vorher” und „nachher” Apothekeneinkauf Apothekenverkauf* Dez. 2003 ab 1.1.04 Differenz€ Diclo 50-1 A 50 Tbl 2,62 4,92 12,53 + 7,61 100 Tbl 5,42 9,87 15,87 + 6,00 * Preisberechnung zum 1. Jan. 2004 aus Gründen der Vergleichbarkeit unter der Annahme eines unveränderten Apotheken-Einkaufspreises. Dieser wird jedoch wegen Absenkung auch des Großhandelsaufschlages etwas niedriger liegen, sofern der Herstellerabgabepreis gleich bleibt. Einkaufspreise ohne MWST, Verkaufspreise einschließlich 16 % MWST, alle Preisangaben in €.

Auch der Abstand zwischen teuren Originalen und preiswerten Generika schrumpft (Tab. [3]). Entsprechend versucht die Firma Aventis das im Vergleich zum Ramipril-Original Delix 22 % preisgü nstigere Ramipril Hexal auszubremsen, indem sie bereits seit November 2003 auf die Preissenkung im folgenden Januar hinweist: „Weitere Preissenkung 2004” [5]. Ein billiges Versprechen für Aventis, da die Preise der meisten Delix-Zubereitungen ab Januar auch ohne Absenkung des Herstellerabgabepreises durch die geringere Handelsspanne sinken werden.

Tab. 3 Mittlerer Kostenbereich - Original vs. GenerikumDer Preisabstand wird geringer: Das Aciclovir-Original Zovirax 800 wird 8,32 € billiger, das Nachfolgeprodukt Acerpes 0,44 € teurer Preisvergleiche „vorher” und „nachher” Apothekeneinkauf Apothekenverkauf* Dez. 2003 ab 1.1.04 Differenz€ Acerpes 800 (35 Tbl) 21,08 34,14 34,58 + 0,44 Zovirax 800 (35 Tbl) 56,57 85,31 76,99 - 8,32 * Preisberechnung zum 1. Jan. 2004 aus Gründen der Vergleichbarkeit unter der Annahme eines unveränderten Apotheken-Einkaufspreises. Dieser wird jedoch wegen Absenkung auch des Großhandelsaufschlages etwas niedriger liegen, sofern der Herstellerabgabepreis gleich bleibt. Einkaufspreise ohne MWST, Verkaufspreise einschließlich 16 % MWST, alle Preisangaben in €.

Einige Hersteller verwenden jetzt in der Werbung detaillierte Angaben zur Preisbildung. Diese gaukeln Transparenz und Exaktheit vor. Es handelt sich jedoch um typische Desinformation des Marketings: Relevantes wird weggelassen, falsche Fährten werden gelegt. So schlüsselt die Firma UCB den Preis des Antiallergikums Xusal (Levocetirizin) auf. Ausgehend vom Herstellerpreis von 20,69 € für 50 Tabletten und den im Detail deklarierten Aufschlägen von Großhandel, Apotheken und Mehrwertsteuer sowie Abzug von Patientenzuzahlung und GKV-Rabatt der Apotheken nennt die Firma einen „budgetrelevanten Preis” von 28,85 € [6]. Dass dieser immerhin fast doppelt so teuer ist wie für preiswerte Generika der patentfreien Muttersubstanz Cetirizin (meist unter 15 €), bleibt unerwähnt (Levocetirizin ist das aktive Enantiomer des Razemats Cetirizin, klinische Belege eines Vorteils der patentgeschützten und teuren neuen Variante sind nicht bekannt). Die relevante Differenz des Herstellerabgabepreises von 20,69 € von Xusal und 12,90 € für ein wirkidentisches Cetirizin-Generikum wird nicht erklärt. Dabei wird gerade hier deutlich, wohin ein wesentlicher Teil der Erlöse aus Arzneimitteln fließt. Die UCB-Werbung will die Aufmerksamkeit indes in eine andere Richtung lenken: „Denken Sie bitte an Ihren Patienten! Für ein adäquates Generikum zahlt der Patient mehr!!!” [6]. Tatsächlich tragen jedoch gerade solche teuren Scheininnovationen dazu bei, dass die Arzneimittelkosten nicht in den Griff zu bekommen sind und die Versicherten höhere Beiträge zahlen müssen. Und die so genannte Gesundheitsreform kann dieses Problem weiter verschärfen. Die Anbieter von Arzneimitteln haben die Schwachstellen der Reform wieder einmal früher erkannt als der Gesetzgeber.

Interessenkonflikte: keine angegeben.

Literatur

  • 1 Ratiopharm .„Loten Sie jetzt mit ratiopharm durch Differenzialdiagnose Therapiealternativen aus”. Nov. 2003
  • 2 Pohl-Boskamp .Tetra-Gelomyrtol-Werbung. Medical Tribune vom 18. Nov. 2003
  • 3 Henning .Musteranforderungs-Fax. Nov. 2003
  • 4 Schmidt U. Zit. nach Ärzte Zeitung. vom 27. Nov. 2003
  • 5 Aventis .Delix-Werbung. Ärzte Zeitung vom 14./15. Nov. 2003
  • 6 UCB .Werbung für Xusal und Corifeo: „Wie berechnen sich Arzneimittelpreise zum 1. Januar 2004”. Nov. 2003

Eine Vorversion dieses Artikels ist im arznei-telegramm 2003; 34: 107-108 erschienen. Auch dieser Text wurde im Dezember 2003, also noch vor Inkrafttreten der Reform, verfasst.

Wolfgang Becker-Brüser

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