Laryngorhinootologie 2003; 82(7): 522-523
DOI: 10.1055/s-2003-40893
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Visuell-vestibuläre Interaktionen während vertikaler linearer Beschleunigung

Visual-Vestibular Interactions During Linear Vertical AccelerationF.  Schmäl1
  • 1HNO-Klinik des Universitätsklinikums Münster, Münster
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Publication Date:
29 July 2003 (online)

Die Blickfeldstabilisierung ist eine der Hauptfunktionen des vestibulo-okulären Reflexes (VOR). Fehlt dieser, so kommt es im Rahmen von Körperbewegungen zu Oszillopsien (Dandy-Phänomen). Die bisher zum linearen VOR publizierten Untersuchungen beschäftigen sich überwiegend mit dem horizontalen und kaum mit dem vertikalen linearen VOR, obwohl der Mensch im täglichen Leben ständig vertikalen linearen Beschleunigungen (Gehen, Rennen) ausgesetzt ist. Ziel dieser Arbeit war es, den vertikalen linearen VOR in einem physiologischen Stimulusbereich (Amplitude 5 cm; Frequenz 1,2 Hz) zu untersuchen.

Die vertikale lineare Stimulation erfolgte durch Auf- und Abwärtsbewegung der Testpersonen mittels eines computergesteuerten Hubstuhl-Prototyps (DFG-Projekt Sto 133/3 - 1). Folgende visuell-vestibuläre Stimuli wurden getestet: Fixationssuppression, isolierte vestibuläre, isolierte visuelle und kombinierte visuell-vestibuläre Stimulation sowie statisches und dynamisches Sehvermögen. Neben der Testung von gesunden Probanden wurden bei Patienten (Pat.) mit einem beidseitigen Ausfall der horizontalen Bogengangsfunktion und bei Pat. mit einer Hyperreaktion in der Rotationsprüfung die Intensität des angulären und des vertikalen linearen VOR verglichen. Darüber hinaus wurden die visuell-vestibulären Interaktionen sowie das Sehvermögen während vertikaler Ganzkörperoszillation bei gesunden Probanden vor und nach Alkoholkonsum analysiert.

Gesunde Testpersonen wiesen bei isolierter visueller und isolierter vestibulärer Stimulation vertikale Augenbewegungen auf. Diese waren bei vestibulärer Reizung ein der Körperauslenkung entgegengerichteter Kompensationsmechanismus. Es zeigte sich jedoch, dass bei isolierter vestibulärer oder isolierter visueller Reizung im Rahmen der gewählten Stimulusparameter keine suffiziente optische Kompensation der induzierten vertikalen Körperauslenkung auftrat, da die erzeugte Augengeschwindigkeit zu gering war. Demgegenüber bewirkte die gleichzeitige Stimulation beider Systeme eine ausreichende Augengeschwindigkeit und somit auch eine befriedigende Blickfeldstabilisierung - das dynamische Sehvermögen.

Ursächlich liegen einem eingeschränkten dynamischen Sehvermögen eine verlängerte Latenzzeit und somit eine unterschiedlich ausgeprägte Verzögerung zwischen Reizbeginn und Start der vertikalen Augenbewegung zugrunde.

Nur bei einem Teil der untersuchten Pat. mit beidseitig fehlender Erregbarkeit des horizontalen Bogengangs fand sich gleichzeitig auch eine eingeschränkte Blickfeldstabilisierung während vertikaler Körperauslenkung als Zeichen eines gestörten linearen VOR. Von einer fehlenden Erregbarkeit des horizontalen Bogengangs auf einen Funktionsverlust des gesamten vestibulären Labyrinthes zu schließen ist somit unzulässig. Bei den Pat. mit nachweisbarem Dandy-Phänomen waren im Vergleich zu den gesunden Probanden bei isolierter vestibulärer Stimulation keine und bei kombinierter visuell-vestibulärer Stimulation schwächere Reizantworten zu registrieren. Diese Pat. waren zwar in der Lage, durch Aktivierung ihres okulomotorischen Systems eine Teilkompensation zu entwickeln, die jedoch für eine suffiziente Blickfeldstabilisierung nicht ausreichte.

Bei Pat. mit einer Hyperreaktion während der Rotationsprüfung war ebenfalls eine gesteigerte Reaktion des vertikalen linearen VOR nachweisbar, die sich in beiden Fällen in einer erhöhten Augengeschwindigkeit äußerte. Pathophysiologisch kann nur eine zentrale Ursache vorliegen, die dort zu einer Störung führt, wo die Informationen des angulären und linearen VOR auf die gleichen neuronalen Strukturen konvergieren. Bei diesen Pat. bestand zudem eine tendenziell gesteigerte Augengeschwindigkeit bei isolierter visueller Stimulation. Diese ist Ausdruck einer erhöhten Aktivität des okulomotorischen Systems. Tierexperimentell fanden sich Neurone, die sowohl auf visuelle als auch auf vestibuläre Reize reagieren. Die Ursache für die visuelle und vestibuläre Enthemmung muss demnach auf dieser höheren neuronalen Ebene zu suchen sein. Eine zerebrale mikroangiopathische Genese, die z. T. auch im MRT nachgewiesen werden konnte, ist zu vermuten.

Alkohol bewirkte bei einer Atemalkoholkonzentration (AAK) von ca. 0,32 mg/l eine Dämpfung des okulomotorischen Systems, die sowohl bei isolierter visueller als auch bei kombinierter visuell-vestibulärer Stimulation zu einer verlängerten Latenzzeit führte. Diese Latenzzeitzunahme ist ursächlich für die nach Alkoholkonsum auftretende Störung des dynamischen Sehvermögens verantwortlich.

Sowohl die Latenzzeitverlängerung bei isolierter visueller Stimulation als auch die Einschränkung des dynamischen Sehvermögens zeigen eine signifikant positive Korrelation mit dem subjektiven Betrunkenheitsgefühl, jedoch nicht mit der AAK.

Abschließend bleibt festzustellen, dass das vorgestellte Untersuchungskonzept zur Prüfung des vertikalen linearen VOR sowie des dynamischen Sehvermögens interessante Einblicke in die Physiologie und die zentralen Mechanismen der Blickfeldstabilisierung während vertikaler linearer Ganzkörperbeschleunigungen liefert. Darüber hinaus sind die verschiedenen visuell-vestibulären Stimuli geeignet, Störungen nach Alkoholkonsum, bei Pat. mit beidseitigem Ausfall der horizontalen Bogengangsfunktion oder einer Hyperreaktion des angulären VOR aufzudecken.

Priv.-Doz. Dr. med. Frank Schmäl, Jahrgang 1966.

Priv.-Doz. Dr. med. Frank Schmäl

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