Rofo 2002; 174(11): 1355-1357
DOI: 10.1055/s-2002-35338
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Die radiologische Fehldiagnose:
Was wir nicht ändern können und was wir tun sollten

Radiological Error: What we Cannot Change and What we Should DoJ.  W.  Oestmann1
  • 1Strahlenklinik der Charité, Campus Vhirchow, Berlin
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Publication Date:
08 November 2002 (online)

Einleitung

Der in der primären Bildgebung übersehene Tumor, der dann schließlich verspätet erkannt und therapiert wird - mit katastrophalen Folgen für den Patienten und bedrückenden psychischen, rechtlichen und vielleicht finanziellen Konsequenzen für den diagnostizierenden Arzt: Wer würde sich nicht davor fürchten? Wir ahnen alle, dass es sich um ein relevantes Problem handelt. Das Thema wird trotzdem - aus unterschiedlichsten Gründen - mit großer Zurückhaltung behandelt. Dass wir uns diese Zurückhaltung nicht leisten können, sondern das Problem klar erkannt und angegangen werden sollte, soll mit ein paar Fakten und Gedanken dargelegt werden.

Es ist zunächst einmal beruhigend, festzustellen, dass in der Radiologie keineswegs mehr Irrtümer vorkommen als in anderen Fächern. Der Anteil von Verfahren, die vor der Schlichtungsstelle für Arzthaftpflichtfragen der norddeutschen Ärztekammern - der größten deutschen ärztlichen Schiedsstelle - gegen Radiologen anhängig sind, ist glücklicherweise gering. In 103 Fällen aus dem Land Berlin, die im Jahre 2001 mit einem Schadensersatzanspruch des Patienten endeten, war nur 4 mal ein diagnostischer Radiologe der Beklagte. 60 Fälle kamen aus den vorwiegend chirurgischen Fächern. Nichtsdestotrotz lagen auch hier häufig Fehler der Diagnostik vor [1]. Die Zahlen für die Gesamtheit der Medizin zeigen die Größenordnung des Problems. Mehrere Studien aus den USA belegen, dass pro stationärem Patienten bis zu 1,7 Irrtümer pro Tag vorkommen [2].

In 45 % aller Patienten werden Fehler gemacht, die in 1/3 der Fälle auch Folgen für den Patienten haben [4]. Bis zu 4 % der stationären Patienten verlassen das Krankenhaus mit iatrogenen Schäden, wobei in 70 % der Fälle ärztliche Irrtümer im Spiel waren. Schließlich die bedrückendste aller Zahlen: Es wird angenommen, dass bis zu 90 000 Patienten pro Jahr in den USA an ärztlichen Irrtümern versterben. Nichts deutet darauf hin, dass die Lage bei uns grundsätzlich anders sein sollte.

Es handelt sich also um ein Problem, das auch andere Spezialitäten und medizinische Kulturen betrifft. Trotzdem haben wir als Radiologen das Gefühl, besonders verwundbar zu sein. Dieses Gefühl ist berechtigt, denn die Radiologie nimmt eine einzigartige Rolle in der medizinischen Versorgung ein: Typischerweise fällt ein Radiologe aufgrund begrenzter klinischer Informationen täglich hunderte diagnostischer Entscheidungen und ordnet sie differentialdiagnostisch ein. Er stellt in bis zu 80 % aller Fälle die Diagnosen oder trägt wesentlich dazu bei. Sodann verkündet er die Diagnose öffentlich in der Röntgenbesprechung, schreibt und unterzeichnet einen Bericht und bewahrt sowohl Bericht als auch die Entscheidungsgrundlage - die Bilder der Untersuchung - für mindestens 10 Jahre auf. Die Richtigkeit der Diagnose und die Qualität der Untersuchung sind in diesem Zeitraum durch jeden Kundigen überprüfbar. Die Entscheidungsfindung - und damit auch der Irrtum - ist in keiner anderen medizinischen Spezialität so unmittelbar nachvollziehbar. Weder der stationäre Entlassungsbrief des Internisten noch der OP-Bericht des Chirurgen sind in ähnlicher Weise zu hinterfragen.

Die Situation erzwingt auf der Seite der Radiologie ein aufgeklärtes und systematisches Herangehen. Zunächst einmal ist zu klären, wie schwerwiegend das Problem im Bereich der Radiologie ist. Sodann ist nach den Mechanismen und Gründen des diagnostischen Irrtums zu suchen. Schließlich stellt sich die Frage nach den Maßnahmen, die den diagnostischen Irrtum bzw. resultierende Patientenschäden minimieren können.

Das Ausmaß des diagnostischen Irrtums in der Radiologie lässt sich im Rahmen von radiologischen Reihenuntersuchungen bzw. anhand von häufiger untersuchten Personengruppen am besten erkennen. Frisch diagnostizierte Lungentumoren etwa waren in einer Erfassung amerikanischer Versicherungen in bis zu 70 % bereits auf Voraufnahmen zu erkennen [5]. Für Mammatumoren kamen Harvey et al. zu ähnlichen Ergebnissen: Bis zu 75 % der Karzinome waren auf Voraufnahmen schon nachweisbar [6]. Bei komplexen Diagnosen kommen zu dem primären Übersehen eines Befundes auch noch die Unterschiede in der Interpretation hinzu: Die Befundberichte zu Abdomenübersichten waren in einer Untersuchung von Markus et al. in nur 10 % in ihrer Aussage deckungsgleich [7].

Die Wege zum Irrtum sind vielfältig. Eine ganze Reihe von Phänomenen tragen alleine oder in Kombination miteinander zu der hohen Fehlerrate bei. Geht man von einer technisch einwandfreien Untersuchung aus, treten folgende Aspekte in den Vordergrund:

Über die Relevanz der Qualität der Betrachtung, sei es am Lichtkasten oder am Monitor, ist bereits alles gesagt und teilweise in DIN-Normen fixiert worden: Die Betrachtung sollte bei ausreichender Bildhelligkeit, unter Einblendung und angepasster Raumhelligkeit ohne Blendung erfolgen. Diese Grundbedingungen sollten nicht nur für die Basisbefundung gelten sondern auch für nachfolgende Befundpräsentationen eingehalten werden.

Fehlendes Wissen oder nicht ausreichende Erfahrung des einzelnen Arztes sind sicherlich wesentliche klassische Faktoren, die besonders in ausbildenden Abteilungen eine Rolle spielen - aber nicht nur dort. Eine unzureichende Supervision durch gut ausgebildete Fachärzte ist ein weiterer eindeutiger Faktor, der zu betrachten ist. Beide Probleme sind organisatorisch zu lösen. Einige Phänomene sind weniger offensichtlich, deshalb aber nicht von geringerer Bedeutung:

Die physiologische Müdigkeit der Diensttuenden besonders in den Stunden nach Mittemacht kann zu schweren Fehlinterpretationen führen. Die nochmalige Begutachtung der wesentlichen Untersuchungen der Nacht in den frühen Morgenstunden zusammen mit dem Hintergrundsdienst und anderen ausgeruhten Kollegen sollte man sich zur Regel machen.

Die „satisfaction of search” [9] [10] oder „vorzeitige Befriedigung des Suchinstinktes” ist vor allem für unerfahrene Kollegen eine große Gefahr. Ist man sich dieses Effektes bewusst, wird man nach Auflistung der wesentlichen Befunde der ersten Analyse die Untersuchung noch einmal in Ruhe und möglichst unvoreingenommen betrachten.

Die Gefahren einer fehlerhaften oder inkompletten Anamnese bei der radiologischen Detektion und Deutung sind ohne weiteres nachvollziehbar. Weniger bekannt sind Gefahren, die sich aus der Fixierung auf die Anamnese („Tunnel Vision”) ergeben können. Dazu hat es vor Jahren große Auseinandersetzungen zwischen Wahrnehmungsspezialisten gegeben. Auf der einen Seite wurde eine höhere Falschpositivrate durch klinische Angaben beobachtet [11] [12]. Auf der anderen Seite erhöhten klinische Angaben die diagnostische Trefferrate deutlich [13]. Einiges spricht aus heutiger Sicht dafür, eine Untersuchung zunächst einmal ohne Wissen der klinischen Angaben zu mustern, um dann die Deutung des Gesehenen und eine zweite zielgerichtete Analyse nach dem Studium der klinischen Angaben durchzuführen.

Der fehlende oder der nicht weit genug zurückreichende Vergleich mit verfügbaren Voraufnahmen kann zu wesentlichen Fehleinschätzungen führen. Die Wachstumsrate von Tumoren wird dabei häufig falsch eingeschätzt - ihre Größenkonstanz über mehrere Monate beweist nicht ihre Benignität. Fehler oder Diskrepanzen in der mündlichen und schriftlichen Übermittlung diagnostischer Befunde können zu Gefährdungen der Patienten führen. Hier ist es vor allem in der Klinik ratsam, von allen Kommunikationen über den Patienten kurze Notizen zu machen, die in den finalen Befundbericht einfließen können. Bei wesentlichen Befunden besonders im Nachtdienst sollte notiert werden, was wann wem mitgeteilt wurde.

Diese und andere Effekte der Physiologie und Psychologie der Wahrnehmung sowie der Organisation in der Radiologie werden in den meisten unserer Fachlehrbücher und Vorlesungsreihen ignoriert. Sie sind aber wesentliche Faktoren auf dem Weg zur Diagnosefindung und der Übermittlung. Millionen von Euro werden für bildgebende Modalitäten ausgegeben - ohne dass immer die Möglichkeit geschaffen wird, die resultierenden Untersuchungen auch unter optimalen Bedingungen zu begutachten bzw. die Befunde schnell zu übermitteln. Beides sollte sich ändern.

Was aber nun tun, wenn das Kind ins Wasser gefallen ist? Der häufigste Weg ist der einfachste: Der direkte „Schuldige” wird gesucht, identifiziert und zur Verantwortung gezogen. Als Gründe für den Fehler werden dann etwa fehlendes Wissen und Erfahrung, Vergesslichkeit, mangelnde Konzentration, ungenügende Motivation, Fahrlässigkeit, grobe Fahrlässigkeit oder Böswilligkeit angenommen. Auf das Individuum zugeschnittene Maßnahmen werden eingeleitet, von denen die Beschämung, die Schulung und Wiederholungsschulung noch die harmlosesten sind. Dieses Vorgehen hat den Vorteil, dass es einfach, schnell und für die Abteilungsleitung, die Verwaltung und Gerichte klar fassbar ist. Es hat den Nachteil, dass vor allem die aktiveren Mitarbeiter ins Fadenkreuz geraten - wer nichts tut, macht keine Fehler - und dass fehlerträchtige Situationen deshalb unerkannt bleiben, weil die Analyse von fehlerhaften Abläufen unterbleibt. Aus Fehlem kann also nicht gelernt werden. Das Vorgehen hat außerdem den Nachteil, dass es zu einer Unkultur des Verschweigens und Vertuschens kommt.

Der andere Weg ist die Analyse des Gesamtgeschehens. Diese geht davon aus, dass Personen allzeit fehlbar sind und das System dem Rechnung tragen muss. Die Organisationsabläufe müssen daher so ausgelegt sein, dass Fehlerquellen minimiert sind. Sicherheitsmargen müssen vorhanden und ausreichend sein. In diesem Zusammenhang sei das sogenannte „Schweizerkäse- Modell” erwähnt, das der Beschreibung von Entscheidungen in Hochrisikobereichen dient: Es geht davon aus, dass ein relativ konstanter Anteil von Erstentscheidungen fehlerhaft ist. Diese fehlerhaften Entscheidungen werden jedoch durch eine Abfolge von Sicherheitsschotten (Prozeduren, Personen) abgefangen, die allerdings jede für sich wiederum nicht fehlerfrei sind: Sie weisen - wie eine Scheibe Schweizerkäse - Löcher auf, die bei ungünstiger Konstellation Irrtümer zulassen. Je größer die Konsequenzen eines Irrtums sein können, desto dichter muss dieses System der Sicherheitsschotten ausgelegt sein. In der radiologischen Krankenhausroutine würde die primäre Entscheidung des Assistenten etwa durch den erfahreneren Co-Assistenten, den Oberarzt, den leitenden Arzt, den überweisenden Arzt und etwaige weitere Instanzen überprüft. Bei einem derartig funktionierenden System wird der Anteil von Irrtümern, die potentiell zu Patientenschäden führen könnten, minimiert.

Ein derartiges Modell besteht in Variationen in allen Abteilungen, die Ausbildung betreiben und in vielen, die dies nicht tun. Seine Leistungsfähigkeit sollte in Fehlerkonferenzen regelmäßig überprüft werden. Solche institutionalisierten Fehleranalysen der Verkettung von Vorkommnissen sind in den Streitkräften, der Flugzeug-, Kernkraft-, Ölindustrie gang und gäbe.

Um solche Konferenzen zu ermöglichen, ist allerdings ein Umdenken bei vielen Kollegen erforderlich: Das Bewusstsein der eigenen Fehlbarkeit ist nicht bei allen gleich verbreitet und doch die Grundvoraussetzung dafür, mit eigenen Fehlem und denen von Kollegen sachlich umzugehen. Andere Berufsgruppen in Hochrisikobereichen - etwa die Piloten - sind den Medizinern da ein Stück voraus [14].

Welche Schlussfolgerungen lassen sich für die Radiologie ziehen? Den radiologischen Irrtum werden wir auch weiterhin nicht verhindern können. Irren ist normaler Bestandteil des radiologischen Erkenntnisprozesses und keine „Straftat”. Die Konzentration auf den auslösenden Irrtum allein führt in die Irre - eine systematische, umfassende, „standardisierte” Fehleranalyse ist erforderlich.

Das individuelle Versagen sollte durch eine Ausbildung auf hohem Niveau sowie optimale Arbeitsbedingungen minimiert werden. Das Systemversagen sollte durch die Entwicklung einer Sicherheitskultur und gute Supervision verhindert werden.

Literatur

  • 1 Kohtz A. Behandlungsfehler in Berlin.  Berliner Ärzte. 2002;  7 25-26
  • 2 Donchin Y, Gopher D, Olin M, Badihi Y, Biesky M, Sprung C L, Pizov R, Cotev S. A look into the nature and causes of human errors in the intensive care unit.  Crit Care Med. 1995;  23 (2) 294-300
  • 3 Andrews L B, Stocking C, Krizek T, Gottlieb L, Krizek C, Vargish T, Siegler M. An alternative strategy for studying adverse eventsin medical care.  Lancet. 1997;  1 (349 (9048)) 309-313
  • 4 Brennan T A, Leape L L, Laird N M, Hebert L, Localio A R, Lawthers A G, Newhouse J P, Weiler P C, Hiatt H H. Incidence of adverse events and negligence in hispitalized patients. Results of the Harvard Medical Practice Study I.  N Engl J Med. 1991;  7; 324 (6) 370-376
  • 5 Physician Insurers Association of America .1992
  • 6 Harvey J A, Fajardo L L, Innis C A. Previous mammograms in patients with impalpable breast carcinoma: retrospective vs. blinded interpretation. 1993 ARRS president's Award.  Am J Roentgenol. 1993;  161 (6) 1167-1172
  • 7 Markus J B, Somers S, Franic S E, Moola C, Stevenson G W. Interobserver variation in the interpretation of abdominal radiographs.  Radiology. 1989;  171 (1) 69-71
  • 8 Brogdon B G, Kelsey C A, Moseley R D. Effect of fatigue and alcohol on observer perception.  Am J Roentgenol. 1978;  130 (5) 971-974
  • 9 Berbaum K S, Franken E A, Dorfman D D, Rooholamini S A, Kathol M H, Barloon T J, Behlke F M, Sato Y, Lu C H, el-Khoury G Y. et al . Satisfaction of search in diagnostic radiology.  Invest Radiol. 1990;  25 (2) 133-140
  • 10 Samuel S, Kundel H L, Nodine C F, Toto L C. Mechanism of satisfaction of search: eye position recordings in the reading of chest radiographs.  Radiology. 1995;  194 (3) 895-902
  • 11 Swensson R G, Hessel S J, Herman P G. The value of searching films without specific preconceptions.  Invest Radiol. 1985;  20 (1) 100-114
  • 12 Swensson R G. The effect sof clinical information on film interpretation. Another perspective.  Invest Radiol. 1988;  23 (1) 56-61
  • 13 Doubilet P, Herman P G. nterpretation of radiographs: effect of clinical history.  Am J Roentgenol. 1981;  137 (5) 1055-1058
  • 14 Sexton J B, Thomas E J, Helmreich R L. Error, stress and teamwork in medicine and aviation: cross sectional surveys.  Br Med J. 2000;  18 (320 (7237)) 745-759

Prof. Dr. Jörg W. Oestmann

Strahlenklinik der Charité Campus Virchow

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Email: joerg.oestmann@charite.de

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