Z Sex Forsch 2001; 14(4): 316-335
DOI: 10.1055/s-2001-19948
ORIGINALARBEIT

Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Tendenzen in der Behandlung der funktionellen Sexualstörungen des Mannes[1]

Trends in the Treatment of Functional Sexual Disorders in MalesWolfgang  Berner
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Publication Date:
06 February 2002 (online)

Übersicht: Der Autor stellt in seiner Übersicht die gegenwärtigen Tendenzen in der psychotherapeutischen und medikamentösen Behandlung der sexuellen Störungen des Mannes dar. Gleichzeitig reflektiert er anhand von Fallbeispielen den gesellschaftlichen Kontext, der in der Therapie der sexuellen Störungen beobachteten Verschiebung der Symptome. Bei den sexuellen Funktionsstörungen sei die Paartherapie nach wie vor die Behandlungsmöglichkeit erster Wahl. Dabei gehe es aber nicht mehr um eine Paartherapie, in der körperliche Trainingsaspekte im Zentrum stehen. Im Vordergrund stünden in den neueren Konzepten der Paartherapie Konflikte zwischen Verschmelzungswünschen und Autonomieerleben. In seiner Darstellung der medikamentösen Therapie der sexuellen Dysfunktionen des Mannes weist der Autor darauf hin, dass die Vielzahl der bereits jetzt auf dem Markt befindlichen Medikamente mit ihren unterschiedlichen Wirkmechanismen künftig eine differenzierte physiologische Diagnostik vor dem Beginn einer Psychotherapie oder Somatopsychotherapie erforderlich mache. Aufgenommen hat der Autor in seinen Überblick auch die Behandlung von Paraphilien (Perversionen). Aufmerksam machen möchte er damit auf einen bisher vernachlässigten Aspekt: die Nähe von Paraphilien zu den sexuellen Funktionsstörungen bzw. deren Überschneidung. Daran wird noch einmal deutlich gemacht, dass keine männliche Sexualstörung ohne das komplexe Zusammenspiel von Geschlechtsidentität, erotischer Selbstbestätigung und dem Wunsch, mit dem anderen zu verschmelzen, sowie der Angst vor Identitätsverlust angemessen verstanden werden kann.

1 Veränderte Fassung eines Vortrages, gehalten auf der 20. Wissenschaftlichen Tagung der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung vom 6. bis 8. Oktober 2000 in Frankfurt am Main

Literatur

1 Veränderte Fassung eines Vortrages, gehalten auf der 20. Wissenschaftlichen Tagung der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung vom 6. bis 8. Oktober 2000 in Frankfurt am Main

2 Auch in dem Überblick von Weiner und Rosen (1999) ist davon die Rede, dass Ejaculatio praecox heute nicht mehr der häufigste Anlass für Wünsche nach einer „Sextherapie” bei Männern ist.

3 Eine Steigerung von 6 % auf 9 % dieses Störungsbildes unter unseren männlichen funktionsgestörten Patienten bei gleichzeitiger Abnahme der Ejaculatio praecox von 31 % auf 18 % im Verlaufe von vier Jahren ist allerdings bestenfalls als eine mögliche Tendenz zu interpretieren.

4 Willi (1996) sieht zwar auch den Konflikt zwischen harmonischer Synchronizität einerseits und gegenseitiger Abgrenzung andererseits, er meint aber, dass Beziehungen und die Auseinandersetzung in ihnen eine wesentliche Voraussetzung für individuelle Entwicklung sei. Die Entwicklung ist bei ihm nicht so zwingend mit Differenzierung aneinander und damit immanenter Trennung verbunden wie bei Schnarch.

5 Es handelt sich hier keineswegs um eine beliebige Bezugnahme: Derrida hat sich gegen die starre Begrifflichkeit der Psychoanalyse gewandt, aber in ihrer Methodik als Prozess der dauernden Infragestellung ein besonderes Potenzial gesehen, das im Sinne einer Dekonstruktion genutzt werden kann (vgl. Gondek 1998).

6 Sie wurde nicht von mir selbst, sondern von einem Kollegen durchgeführt, den ich supervidierte und der aus Diskretionsgründen nicht genannt werden will.

7 Es handelt es sich bei dem Phosphodiesterase-Hemmer Typ 5 um ein Wirkungsprinzip, das die Erschlaffung der glatten Gefäßmuskulatur im Penis fördert und damit den Bluteinstrom in den Schwellkörper des Penis. Bei Erregung der vegetativen noradrenerg-norcholinergen (NANC) Nerven durch sexuelle Vorstellungen und/oder körperliche Berührungen kommt es zur Freisetzung von Stickoxyd, das bei Anwesenheit des Phosphodiesterase-Hemmers und damit eines erhöhten Anteiles nicht abgebauten zyklischen Guanosinmonophosphates (cGMP) zu rascher Entspannung (und Dehnung) der glatten Gefäßmuskulatur und damit zum Einströmen von Blut in die Schwellkörper und dementsprechend zu einer zunehmenden Erektion führt. Diese bleibt bestehen, wenn der Bluteinstrom so rasch erfolgt, dass er das gleichzeitige Abströmen von Blut deutlich überwiegt. Jede Art von leichten Gefäßschäden kann sich daher ungünstig auf die Erektion auswirken.

8 So kann z. B. auch nach einem Herzinfarkt Viagra verordnet werden, wenn dieser länger als ein Jahr zurückliegt und keine Zeichen einer Herzinsuffizienz erkennbar sind.

9 Wieder ist hier im Sinne Derridas die psychoanalytische Praxis von ihrer ideologisch starr gebliebenen Begriffswelt zu unterscheiden.

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Prof. Dr. Wolfgang Berner

Abteilung für Sexualforschung

Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie

Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf

Martinistr. 52

20246 Hamburg

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