PiD - Psychotherapie im Dialog 2001; 2(3): 347-352
DOI: 10.1055/s-2001-17185
Interview
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Die Medikalisierung von Sexualität -
Fluch oder Segen

Leonore  Tiefer[1] , Hartmut  Porst[2]
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Publication Date:
14 September 2001 (online)

PiD: Frau Tiefer, bezüglich der neuen Medikamente für männliche Sexualität, Viagra, Ixsense und all die anderen, die da noch kommen werden; glauben Sie, dass sie ein Segen oder ein Fluch sind?

L. Tiefer: Sie kommen zu früh, die Zeit ist nicht reif. Natürlich ist der kulturelle Entwicklungsstand, was Sexualität betrifft, weltweit sehr unterschiedlich. Ich glaube, dass diese Medikamente für die USA verfrüht sind, vielleicht sind sie weniger verfrüht für Deutschland. Auch was die Reklame für diese Drogen betrifft, haben wir einen Unterschied zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten. In den USA wird im Fernsehen und in Zeitschriften Reklame für diese Drogen gemacht. In Deutschland dagegen wird „Reklame” für erektile Dysfunktion gemacht, für die Drogen selbst aber nicht. In jedem Fall aber denke ich, dass die öffentliche Angst und die öffentliche Neugier steigen und damit auch die Erwartungen. Die Erwartungen wurden in die Höhe getrieben, ohne richtiges Wissen und ohne umfassende Sexualerziehung. Ob sie ein Fluch oder Segen sind, ich weiß nicht, ob das überhaupt Worte sind, mit denen ich diese Medikamente beschreiben würde, aber in jedem Fall kommen sie zu früh.

H. Porst: Aber mein Eindruck ist, und ich bin jedes Jahr mehrfach in den Staaten, dass die Menschen in den Vereinigten Staaten offener und freier sind, was das Diskutieren von sexuellen Themen betrifft als in Alt-Europa. Wie kommen Sie zu dieser Meinung?

L. Tiefer: Die Amerikaner erwecken schnell die Illusion von Offenheit und von Freiheit, aber in Wirklichkeit ist das persönliche Sprechen über Sexuelles derartig gehemmt und auch eingeengt, wie nirgendwo sonst. Die einzige Sache, die wirklich offen ist, ist die Kommerzialisierung von Sex auf allen Ebenen des öffentlichen Lebens.
Meinem Eindruck nach erhalten Europäer viel bessere Informationen zum Thema Sexualität, als wir, deren Sexualerziehung durch Religion enge Grenzen auferlegt sind. Insofern lehren wir etwas, was wir nennen würden, die „Nur-Enthaltsamkeit-Erziehung” in öffentlichen Schulen, was so viel bedeutet wie: Abtreibung und Verhütung dürfen nicht erwähnt werden. Und es darf nicht darüber gesprochen werden, wie ein Kondom benutzt wird. Es ist verrückt hier inmitten dieses religiösen Krieges.

PiD: Könnte man sagen, dass gerade deswegen der Mythos von Sexualität noch größer in den Vereinigten Staaten ist, und entsprechend auch die Erwartungen der Menschen, die sie mit Sexualität und auch mit diesen Medikamenten verbinden?

L. Tiefer: Ich weiß nicht, ich würde nicht von Mythos sprechen, aber ich würde sagen, dass die Angst sehr hoch ist, weil wir eine paradoxe Situation haben. Auf der einen Seite haben wir eine sehr kommerzialisierte Sexualität. Sex in Filmen, Sex in Musikvideos, Sex in der Werbung, Brüste und nackte Körperteile, die einen von überall her anhecheln. Gleichzeitig haben wir diese sehr peinlich berührte Öffentlichkeit, die zum einen kein Wissen und zum anderen auch kein Vertrauen darin hat, über Sex sprechen zu können, weil sie es als ein Ergebnis der oben beschriebenen pädagogischen Situation einfach für unmoralisch hält. Ich finde, dass dieses Paradoxon das Wichtigste ist, welches die amerikanische Situation beschreibt. Und ich glaube, dass dadurch Angst entsteht. So fragen z. B. junge Collegestudenten nach Viagra, weil sie Angst haben, eine schlechte Performance bei ihrem sexuellen Debüt abzugeben. Gleichzeitig haben sie überhaupt kein Wissen über und kein Vertrauen in ihre eigene Sexualität.

H. Porst: Ich glaube, das ist so nicht ganz korrekt. Was wir ja auch gelernt haben von dieser so genannten Medikalisierung von männlicher Impotenz ist, dass zum Beispiel in den Vereinigten Staaten eine deutlich höhere Akzeptanz besteht gegenüber dem Gebrauch dieser Medikamente. Und was sie erwähnen, Frau Tiefer, dass insbesondere junge Leute diese Pillen nehmen, das ist einfach nicht richtig, weil die Verschreibungsraten für Viagra deutlich zeigen, dass dies mehr als 80 % Männer über 45 Jahren betrifft.

L. Tiefer: Ja natürlich. Aber wenn irgendein 20 Jahre alter Student hereinkommt, dann wird ihm ja auch nicht unbedingt das Rezept gegeben. Der Punkt ist aber, dass sie kommen und danach fragen und das aus ihrer Unsicherheit heraus. Und wenn Sie sagen, dass wir in den Staaten eine höhere Akzeptanz bezüglich Viagra haben, dann bedeutet dies eben, dass Leute hier abhängiger von Medikamenten sind.

PiD: Glauben Sie, Herr Porst, dass Männer entsprechende Medikamente hauptsächlich deswegen nehmen, weil sie Angst haben, eine schlechte sexuelle Performance abzugeben?

H. Porst: Um es klarzustellen, was wir in all den Expertenrunden und über vielfältige klinische Studien bereits erfahren haben, das ist zum Beispiel, dass ca. 80 % der Männer, die nach Viagra oder jetzt Ubrima oder was auch immer fragen, dass das Männer sind, die unter einer erektilen Dysfunktion leiden. Die kann psychogen oder organogen sein. Völlig egal. Aber in ihrer Vorstellung leiden sie darunter. Sie haben Erfahrung gemacht damit, dass es sexuell nicht mehr so klappt, dass sie eine sexuelle Schwäche haben und entsprechend fragen sie nach Pillen dagegen.

L. Tiefer: Aber in ihrer Vorstellung leiden sie unter einer Erfahrung von Impotenz. Diese steht aber im Kontext mit einer sehr hohen Erwartung auf eine sichere Performance, auf eine genitale Performance und im Kontext mit der Vorstellung, dass Erektion sexuelle Zufriedenheit definiert. Ich glaube, dass es nicht das Problem selbst ist, welches die Angst wachsen lässt, sondern das Problem im Kontext der Definition von adäquater, also „richtiger” Sexualität. Zum Beispiel, nehmen wir doch die Pfizer-Werbekampagne in den USA, die da sagt: „Haben Sie eine gelegentliche erektile Dysfunktion? Gehen Sie zu Ihrem Doktor, möglicherweise sind Sie ein Kandidat für Viagra!”

H. Porst: Eine Menge Studien mit tausenden von Leuten, die daran teilgenommen haben. Und wenn ich mir die tausende von Leuten aus den Studien anschaue, dann muss man sagen, dass 90 bis 95 % von ihnen eine leichte bis schwere erektile Dysfunktion für mehr als 6 bis12 Monate hatten. Das wiederum bedeutet, dass diese Männer unter diesem Problem leiden und sich Sorgen machen. Und übrigens weit mehr als 50 % auch ihrer Partner sich Sorgen machen. Das ist das, was sie letztlich zu den Ärzten führt.

PiD: Herr Porst, gibt es seit Viagra eine Zunahme an erektiler Dysfunktion?

H. Porst: Nein. Definitiv nein. Ich arbeite in diesem Feld seit 18 Jahren und ich sehe in meiner Praxis nicht mehr Anfragen nach Rezepten zur Behandlung erektiler Dysfunktionen. Und wenn man mal die Verschreibungsraten in Deutschland anguckt, dann haben wir ungefähr 800 000 Männer, die Viagra nehmen. Nun, es stimmt, dass natürlich heute mehr Männer in die Praxen kommen, weil sie heute wissen, dass es eine gute Medikation zur Behandlung ihrer Problematik gibt.

L. Tiefer: Ich glaube, wir wissen eigentlich gar nicht genau, warum Männer kommen. Ich bin nicht sicher, ob der Höhepunkt der Performance-Erwartung überhaupt schon erreicht ist, ob er nicht noch steigt. Insofern wird den Männern, und ihren Partnerinnen, die sich altersentsprechenden Veränderungen angepasst haben, nun erzählt, dass sie sich nicht an diese altersentsprechenden Veränderungen anpassen sollen, sondern dass sie nun bitte genau dieselbe Art von sexueller Performance wollen sollen, als wenn sie 35 wären. So kommen sie also, um eine Droge zu erhalten, die ihnen helfen soll, in puncto sexueller Performance keinerlei Veränderungen erfahren zu müssen. Und dies geht einher mit einer weltweiten Werbekampagne von Pharma-Firmen, die die Realität des Alterns leugnet - ob jetzt in Bezug auf Haarwuchs, auf Gedächtnis oder auf andere altersbezogene Veränderungen.

H. Porst: Das ist ein anderes Thema, Altersprozesse zu tolerieren oder sich ihnen anzupassen. Aber gerade Ihr Land, die Vereinigen Staaten, ist Europa ja weit voraus, wenn man mal überlegt zum Beispiel, wie viele Männer und Frauen DHEA nehmen. Seit einigen Jahren schon kaufen sie es in Drogerien, weil die US-Population eben einfach offener ist, was Hilfestellung im Prozess gegen das Altern betrifft.

PiD: Nähern wir uns eigentlich einer Zeit, in der Sexualleben in einer Art designed wird, dass es vielleicht nicht mehr länger auf individuellen Entscheidungen beruht, sondern mehr auf Adaptation an den Main stream? Kann eigentlich ein impotenter Mann sich noch erlauben, gelegentlich - oder auch vielleicht überwiegend - impotent zu sein?

L. Tiefer: Die Antwort ist nein. Die Vorstellung, sich zu entfernen vom Script des 35-jährigen wird immer mehr bestraft und zwar in jeder möglichen Art und Weise. Was angeblich als normaler menschlicher sexueller Reaktionszyklus angesehen wird, wird jetzt erhoben zu einem universellen Bedarfsplan, so dass individuelle Variation immer weniger toleriert wird.

H. Porst: Ich habe etwas Probleme damit, Ihre Vorbehalte gegenüber dem Verhalten der Männer zu verstehen. Sie fühlen - und übrigens genauso ihre weiblichen Partner -, dass sie mit 65 nicht mehr gut funktionieren, und sie kennen etwas und wissen darüber, das ihnen helfen kann und das auch ihren Partnern helfen kann. Warum sollten sie denn diese Hilfe nicht annehmen?

L. Tiefer: Selbst wenn keine Bedingungen geknüpft wären an diese Hilfe, dann hätte ich eine andere Haltung und wäre kritisch. Wir sprechen über eine sehr machtvolle und einflussreiche Medizin. Viele dieser Männer über 65 nehmen auch andere Tabletten, und es ist nicht so, dass mit dieser Pille keinerlei Befürchtungen oder Sorgen verbunden sind. Es ist nicht so, dass wir auf Jahre von Forschung zurückblicken können. Wir wissen nicht, was passiert, wenn man diese Pillen über 10 oder 20 Jahre nimmt. Und sie sind nicht sehr wirksam, was wirklich schwere Dysfunktionen betrifft. Viele Männer, zum Beispiel mit einer Prostata-Operation, profitieren nicht davon. So ist das Versprechen manchmal viel größer als die Realität. Auch die Nebenwirkungen sind oft erheblicher, als Leute es sich klarmachen. Aus der Sicht der Frauen weiß ich nicht, wie Sie Evaluationen an Frauen durchführen. Ich habe Frauen immer unabhängig von ihren Männern evaluiert. Wenn man mit den Frauen allein ist, dann erzählen sie häufig ganz andere Geschichten, als sie erzählen würden zusammen mit ihren Männern. Mein Eindruck ist, dass Frauen zuallererst einmal wollen, dass ihr Ehemann glücklich ist und dass sie fürchten, er könne irgendwie Angst haben. Es geht ihnen dabei nicht um ihre eigene Befriedigung. Im Gegenteil, sie sind besorgt, dass er durchdrehen würde aus Angst vor seiner eigenen Impotenz. Das ist das Problem. Für sich selbst würden sie Romantik, Zärtlichkeit, Vorspiel, ein hohes Maß an technisch-erotischer Kultiviertheit usw. wünschen.

H. Porst: In vielen Studien haben wir das Ziel, auch die Frauen einzubeziehen. Wir haben Interviews mit mehr als 1000 Partnerinnen von betroffenen Männern durchgeführt. In einigen Fällen werden Sie recht haben. Aber wie Sie schon herausstellten, wollen einige Frauen die Behandlung ihrer Männer, um die Familienharmonie aufrecht zu erhalten. Ich würde sagen, das trifft für eine Minderheit der Paare zu. Ca. 40 bis 50 % der 1500 Männer, die ich sehe, kommen zu mir, weil sie Druck von ihren Partnerinnen bekommen haben. Es ist wahr, dass dieser Druck nicht ausgeübt wird auf sie, weil sie keine vaginale Penetration ausüben können, sondern weil sie durch ihre Gefühle in Bezug auf die erektile Dysfunktion, anders denken und sich anders verhalten. Sie küssen nicht mehr, sind nicht mehr zärtlich usw.. Wenn Männer das Gefühl haben, dass sie nicht mehr ordentlich funktionieren in Bezug auf Erektion, dann erlauben sie sich keinerlei andere Art von Sexualität mehr. Und das wiederum ist ein Problem für ihre weiblichen Partner.

L. Tiefer: Ich stimme Ihnen voll zu, aber was ist die Lösung? Ich denke, die Lösung ist Erziehung. Zuerst einmal muss man sagen, dass Küssen und Umarmen und Streicheln nicht unbedingt immer zu Geschlechtsverkehr führen muss und dass ein Mann sich diesen liebevollen und romantischen Aktivitäten hingeben kann, ohne automatisch fühlen zu müssen, dass er da heraus gezwungen ist. Was ist die richtige Lösung? Ist es, ihm eine Droge zu geben? Ich finde, dass mit Viagra diese romantischen Aktivitäten nicht unbedingt zurückkommen.

PiD: Frau Tiefer, Sie haben die Frau eines Paares interviewt, sie haben den Mann interviewt. Sie haben darüber gesprochen, welche Schwierigkeiten beide mit Sexualität oder mit romantischer Liebe haben, auch vielleicht bevor die Impotenzproblematik begann. Beide haben Kontakt aufgenommen mit ihrer Unfähigkeit oder ihrer Unsicherheit, über sexuelle Dinge zu sprechen, auch über ihren Mangel an Zärtlichkeit usw. Und dieses Paar ist zu der Entscheidung gekommen, Viagra ausprobieren zu wollen.

L. Tiefer: Wenn dieses Paar die Pille nur ein- oder zweimal ausprobiert, und die Pille diesen Effekt hat, wie lange hält dann dieser wohltuende Effekt an? Wenn Professor Porst sagt, dass er Männer sieht, die diese Pille für einige Monate nehmen und deren Frauen berichten, dass sie einen Vorteil, einen Gewinn bringt, dann geht mir immer noch durch den Kopf, dass wir letztlich nichts wissen über den Langzeiteffekt. In den USA werden viele Rezepte nicht erneuert und niemand weiß eigentlich, warum. Manche Leute entwickeln die Hypothese, dass es daran liegt, dass irgend etwas Gutes passiert, das sich fortsetzt. Mehr Leute allerdings haben die Hypothese, dass es Frustration kreiert. Okay, er hat einen harten Penis, aber vielleicht ist das nicht alles. Und vielleicht ist die Frau gar nicht so glücklich mit dieser Erektion, wer weiß das schon.

H. Porst: Es ist wahr, dass ca. 48 % der Rezepte nicht erneuert werden. Auf der anderen Seite muss man aber wissen, dass 30 % der Männer ja überhaupt nicht auf Viagra reagieren. Dann sind da weitere 20 %, bei denen wir in der Tat nicht wissen, warum sie sich kein neues Rezept holen. Für die mag es möglicherweise zutreffen, dass sie Probleme in ihrer Paarbeziehung bezüglich des Benutzens dieser Tabletten haben. Aber das ist nicht die Mehrheit.

PiD: Herr Porst und Frau Tiefer, was für einen Eindruck haben Sie bezüglich dieser männlichen Lustlosigkeit?

H. Porst: Was ich sehe, sind häufig Männer, die unter einer Kombination von erektiler Dysfunktion und Lustlosigkeit leiden. Die Männer, die primär unter einem Libidoverlust zu leiden, machen nur 5 % in meiner Praxis aus. Einen viel größeren Anteil machen diejenigen aus, die primär deswegen kommen, weil sie unter einem Verlust an erektiler Potenz leiden. Und wenn diese Männer darunter eine Reihe von Jahren leiden, dann kann es auch reaktiv einen Verlust von Libido bewirken.

L. Tiefer: Nun, wir wissen davon und verstehen noch nicht viel von dem, was Begehren betrifft. Es ist ein großes Wort: „Lustlosigkeit”. Wir nennen das in den USA auch gar nicht so. Die Frage ist, handelt es sich um einen Verlust oder eine Reduktion von Begehren für was? Ist es eine Abnahme des Begehrens dem Partner gegenüber? Ist es eine Abnahme von Begehren, was sexuelle Entspannung betrifft? Ich stelle in Sexualtherapien immer wieder fest, dass die Diskussion um das Begehren bzw. worauf es sich eigentlich richtet, eine immense Fülle an Diskussionspunkten eröffnet. Insofern denke ich, dass die Forschung zur Zeit nach wie vor sehr wenig weiß über Begehren und über Lust.

PiD: Wenn wir jetzt einmal über weibliche Sexualität sprechen. Ist es ein Segen oder ein Fluch, dass weibliche Sexualität seit Jahren mehr oder weniger gar nicht auftaucht, sowohl in der Literatur als auch in der Forschung?

H. Porst: Es ist nun an der Zeit, dass wir eine Menge über weibliche Sexualität zu lernen haben. Als Urologe betrachte ich diese Fragestellung zunächst einmal von dem organischen Standpunkt her. Es gibt eine Menge Details bezüglich der Organizität von weiblicher sexueller Funktion, die wir nicht kennen. Das ist ein Segen, ja so würde ich sagen. Segen der Medikalisierung, dass sie uns heranführt, mehr über die Physiologie von sowohl Männern als auch Frauen zu lernen.

L. Tiefer: Es ist es eine gute Idee, die Physiologie von weiblicher Sexualität mehr und intensiver zu studieren. Was ich hierbei höre, ist, dass es dabei ausschließlich um genitale Physiologie geht oder vielleicht um diese Medikamenteninteraktion, jedenfalls um ein sehr enges Feld. Nur wenige Frauen werden davon irgend einen Vorteil haben, aber Pharma-Firmen werden ihn haben. Das Problem wird sein, dass dennoch, selbst wenn viele Frauen sexuell unzufrieden sind, weil sie nicht imstande sind, über sich selbst zu bestimmen. Und weil sie auch nicht allzu viel wissen über ihre eigene Sexualität, sich aber irgendwie gehemmt fühlen bezüglich ihrer Selbstbestimmung, um sexuell zufriedener zu werden. Ich habe den Eindruck, dass diese Unzufriedenheit transformiert wird in einen organbezogenen Diskurs. Als wenn die meisten der Frauen, die keine Orgasmen haben oder nicht erregt werden oder den Sex nicht genießen, organische Probleme hätten. Ich glaube, dass nur ganz wenige von ihnen wirklich organische Probleme haben. Die pharmazeutischen Firmen jedoch wollen natürlich gerade diese große sexuell unzufriedene Population kapitalisieren, um so viele Pillen wie möglich zu verkaufen. Und weil Frauen peinlich berührt sind und auch ignorant und ihre Familienharmonie bewahren wollen und auch ihre Männer nicht kritisieren wollen, werden sie wie Schafe zum Doktor gehen und diese Drogen probieren. Darüber werden sie eine Menge an Zeit und an Geld verschwenden und dennoch keinerlei Vorteile mitnehmen.

H. Porst: Was liegt denn letztlich hinter dieser Unzufriedenheit? Ist es das Defizit an Sexualerziehung oder ist es die Unzufriedenheit mit ihrem männlichen Partner? Was ist der Hintergrund? Ich verstehe dieses Ausmaß an Unzufriedenheit bei Frauen einfach nicht, und ich bin sehr interessiert, darüber mehr zu lernen und zu erfahren.

L. Tiefer: Ich denke, zuerst einmal müssen wir darüber sprechen, mit welchem Teil der Welt wir uns gerade beschäftigen. Und mit welchen Gruppen Frauen um die 60 sind zum Teil in sehr anderen Kontexten groß geworden, verglichen mit denen, die jetzt in den Vierzigern oder Zwanzigern sind. Insofern glaube ich, dass Generalisierungen immer relativ gefährlich sind. Aber über welche auch immer spezifische Gruppe wir gerade sprechen, immer scheint es auch um eine Art von Sexismus oder Unterdrückung zu gehen oder um etwas, das weibliches Sexualwissen und Weiterentwicklung und Bewusstheit limitiert. In welches Land und in welche Generation wir auch schauen, Sex scheint immer mehr für Männer als für Frauen entwickelt zu sein. Und Frauen haben nicht dieselben Gelegenheiten, um auch eine Art von sexueller Vision für sich selbst zu entwickeln. Wäre Sexualität nur Reproduktion, dann wäre es sehr einfach und natürlich würde Sex Geschlechtsverkehr sein. Die Männer würden einen Orgasmus haben und die Frauen würden schwanger oder nicht schwanger werden usw. Aber Frauen brauchen es, eine Vision zu kreieren für sich selbst, die vielleicht Geschlechtsverkehr mit einbezieht, aber nicht ausschließlich darauf fokussiert, sondern mehr Wert legt auf sinnliches Vergnügen als auf Orgasmus.

PiD: Was denken Sie, werden wir diese Lustpille für die Frau bekommen? Würde diese Entwicklung gut sein und würde diese Pille von den Frauen akzeptiert werden?

L. Tiefer: Ich weiß es nicht. Wir haben sicherlich eine Menge Pillen, die in der Entwicklungsphase stehen, und diese werden irgendwann natürlich verfügbar sein. Werden Frauen sie versuchen? Vermutlich werden sie sie versuchen. Werden sie effektiv sein? Ich glaube es nicht.

H. Porst: Die Pille wird nicht das Problem dahinter lösen. Das grundsätzliche Problem dahinter ist, und das bespreche ich mit allen meinen Patienten, dass Sexualität Energie braucht. Und wir versprühen diese Energie in einer Menge von anderen Dingen. Und das ist auch der Grund, warum so viele Männer, und auch so viele Frauen, Lustprobleme und Probleme mit der Erregung haben. Aber wie können wir dieses Problem lösen in unserer Gesellschaft ...

L. Tiefer: Nun, in unserer Gesellschaft ist dies ein langfristiges Problem. Ich bespreche mit meinen Patienten, dass wir uns in einer Zeit des Wandels von Sexualität befinden. Nichts wird mehr während meiner Lebenszeit gelöst werden. Aber ich finde, dass Sie hundertprozentig Recht haben, wenn Sie sagen, dass Sexualität Energie benötigt. Die Analogie, die ich immer benutze: jeder kann zwei Noten auf dem Piano ohne Übung, Training oder Talent spielen. Wenn sie aber Rachmaninoffs 2. Klavierkonzert spielen wollen, dann müssen sie eine Menge Zeit und Übung hineinstecken. Das ist aber die Art von Sexualität, die die Leute wollen. Sie wollen leidenschaftlichen, erfüllenden, befriedigenden Sex. Sie wollen Sex in jeder Situation, ohne wirklich darin Zeit zu investieren. Und das ist völlig unrealistisch.

H. Porst: Aber sie haben ja alle keine Zeit. Das ist in meiner Praxis genauso das durchgängige Problem. Sowohl die Männer als auch die Frauen berichten mir, dass sie zwei oder drei Kinder und beide einen Job haben. Und beide sagen, dass sie keinerlei Zeit haben für alle diese Dinge, die wir unseren Patienten raten. Deswegen besteht ein Bedarf an Medikamenten und an all diesen Dingen.

L. Tiefer: Nun, das sehe ich anders. Ich glaube, dass man mit der Erklärung dieser Erwartungskrise eine Art von Einsicht bei den Patienten erzielen kann. Das wird dann deutlich, wenn Mann und Frau sich angucken und sagen: „Sie haben eigentlich recht, das ist lächerlich. Wir müssen Zeit bereit stellen.” So ist zum Beispiel dann manchmal ihre Schlussfolgerung, dass sie weniger Sex haben wollen, aber von besserer Qualität und dass sie Sex planen wollen. „Wir werden uns jeden 2. Samstagnachmittag Zeit nehmen, und wir wollen etwas Besonderes, wir wollen gute sexuelle Erfahrungen machen. Und das ist uns lieber, als damit fortzufahren, eine routinemäßige sexuelle Performance unter Pilleneinnahme zweimal wöchentlich zu exerzieren. Okay, wir haben einen Orgasmus, aber was soll‘s.”

PiD: Ich würde den Fokus gerne ein bisschen verändern. Sie haben ja schon DHEA erwähnt, Herr Porst. Dieses Medikament ist in Deutschland noch nicht erlaubt, aber viele Urologen rufen uns zum Beispiel derzeit an, weil Patienten sie danach fragen, weil sie derzeit so viel darüber gehört haben. Ich möchte Sie bitten, dazu etwas zu sagen, auch was Sie davon halten. Ist dieses Medikament auch Teil dieser Anti-Aging-Kampagne?

H. Porst: Wir wissen noch nicht genug über dieses Medikament, und das ist ein wirklicher Mangel. Was ich aber in meiner Praxis sehe und was ich insbesondere von Irwin Goldstein, einem guten Freund von mir lerne: Viele Frauen profitieren von dieser Pille, insbesondere wenn sie depressiv sind und wenn sie ein niedriges Androgen-Level haben. Insofern habe ich nur Einzelkasuistiken von Frauen, die DHEA nehmen. Ich behandle aber Hunderte von Männern, die DHEA nehmen und denen dieses Medikament sehr gut bekommt.

PiD: Wann nehmen denn Männer dieses Medikament?

H. Porst: Bei Androgenwerten von weniger als 1 µg/ml ist und zusätzlich Problemen mit der Erektion und auch ganz generell Problemen mit Aktivität und Libido, gebe ich Männern DHEA als einen ersten Behandlungsversuch, aber wirklich nur, wenn ein Defizit von DHEA in der Laboruntersuchung bestätigt ist. So ca. 50 bis 60 % dieser Männer profitieren von dieser Medikation. Manche brauchen nur dieses Medikament und kein Viagra oder Ähnliches. Bei Frauen habe ich nur einzelne Erfahrungswerte. Was ich aber von den Staaten weiß, ist dass es dort eine Bewegung gibt, zunehmend auch Frauen, die unter depressiven Schwankungen und unter einem Verlust von Libido leiden, mit DHEA zu behandeln, weil DHEA das Androgen bei Frauen erhöht.

L. Tiefer: Ich bin nahe daran, mich einer etwas unfreundlichen Sprache zu bedienen, um diese so genannte Bewegung zu beschreiben. Ich bin meinerseits auch sehr gut bekannt mit Irwin Goldstein, aber ich würde ihn in dieser Hinsicht einen der größten Übertreiber nennen.
Er gibt zu allererst einmal einen wesentlichen, ungelösten, seltsamen Unterschied zwischen den USA und dem Kontinent. Es gibt wohl eine Tradition von hormoneller Effektivität auf dem Kontinent, die in der Art in den USA nicht besteht. Wenn Sie sagen, dass 50 bis 60 % der Männer, denen Sie DHEA geben, weil sie borderlineartige Androgen-Level ausweisen, davon profitieren, so gibt es solch ein Ergebnis bei uns nicht. Hier in den Vereinigten Staaten finden wir, dass der Gewinn von Androgenbehandlung minimal ist. Und das ist immer wieder repliziert worden. Insofern handelt es sich wirklich um einen nicht verstehbaren Unterschied zwischen dem Kontinent und den USA.

H. Porst: Sie haben insofern Recht, als nur 5 % oder sogar nur 3 % der Männer, die DHEA wegen eines entsprechendes Defizits einnehmen, unter dieser Medikation potent werden. Die Mehrheit von ihnen braucht auch noch andere Medikamente. Auf der anderen Seite finden wir eine Zunahme von sexuellem Begehren, Energie und all diesen Dingen. Das ist ein anderes Thema.

L. Tiefer: Ich sage auch nicht, dass wir das nicht finden. Wir haben hier keinen vergleichbaren Diskurs, was sexuelle Energie betrifft. Wir gebrauchen diese Terminologie hier nicht, und es ist eher selten, eine „Energiebeilage” einzunehmen. Eine normale Person mittleren Alters nimmt Vitamine, versteht diese aber nicht wie Energie.

H. Porst: Aber Ihr Land glaubt doch an Hormone. Es gibt doch bei Ihnen eine Menge von Männern, die substituiert werden mit Wachstumshormonen, mit Androgenen, mit DHEA.

L. Tiefer: Ich glaube nicht, dass hier wirklich so viel hormonell behandelt wird, wie Sie das darstellen, weil Studien immer wieder zeigen, dass Hormonbehandlung hier nicht denselben Gewinn bringt wie auf dem Kontinent.
Aber lassen Sie uns noch einmal unsere Aufmerksamkeit auf die Frauen lenken. Ich sehe die Geschichte so: Nach der Genehmigung von Viagra für Männer wurde umgehend damit begonnen, es auch bei Frauen auszuprobieren, eigentlich sogar noch vorher. Es stellte sich heraus, dass es bei Frauen nicht annähernd so effektiv war. Ruckzuck beginnt die Industrie damit, sich nach einigen anderen Pillen umzugucken, die effektiv sein könnten. Somit hat sie nun ihre Aufmerksamkeit zumindest für diese Zwischenperiode, in der sie einige zentral wirksame Pillen entwickelt, auf Androgene konzentriert. Und es gibt natürlich eine lange Geschichte von Studien über Androgene und Frauen, die absolut keinerlei Effekt auf Orgasmus und sexuelles Begehren zeigen. Der einzige Effekt bezieht sich, wie man weiß, auf Akne und Hirsutismus und andere unerwünschte Phänomene, wie zum Beispiel eine Klitorishypertrophie. Das wiederum ist nun nicht unbedingt ein wünschenswertes Element im Rahmen von weiblichem sexuellen Begehren. Manchmal denke ich, die ganze Sache ist ein kompletter „Blöff”, bei dem die Leute im Grunde am liebsten die Geschichte dieser Forschung leugnen möchten.

PiD: Möchten Sie dazu Stellung nehmen, Herr Porst?

H. Porst: Frau Tiefer, Sie bemerken nur die negativen Folgen dieser Entwicklungen. Ich habe in meiner Praxis auch einige Frauen, die von all diesen Dingen sehr profitieren, z. B. von DHEA oder Viagra oder Ähnlichem. Ich habe z. B. Frauen mit multipler Sklerose und denen geht es seit Viagra recht gut. Insofern muss man sich auf sehr spezielle Gruppen konzentrieren. Was Sie herausstellen ist, dass die großen klinischen Untersuchungen mit Viagra an Frauen, in die ich auch involviert war, letztlich die falsche Population untersucht haben. Es wurden junge Frauen mit sexueller Lustlosigkeit oder sexuellen Erregungsstörungen und ältere Frauen, die nicht östrogensubsitutiert waren, untersucht. Beide Gruppen sind aber ungeeignet für PED-Inhibitoren. Insofern war ich nicht überrascht, dass diese großen Studien keine bemerkenswerten Ergebnisse erbracht haben.

L. Tiefer: Was auch immer die Erklärung ist, Fakt ist, dass wir keine guten Ergebnisse haben und die Population, die offenbar für diese Medikamente in Frage käme, mehr und mehr eingeschränkt wird. Und ich sehe bereits die pharmazeutische Industrie auf der Suche nach Medikamenten, die sie vermarkten kann für eine maximal große Population. So lässt zum Beispiel Irwin Goldstein - um ein bisschen frech zu sein - seine Frau öffentlich die Vorzüge von DHEA, in der Art beschreiben, wie sie sie selbst erfahren hat. Und ganz plötzlich, wie aus dem Nichts, multiplizieren sich all diese Anekdoten, und es entsteht ein größerer Markt.

H. Porst: Aber die Entscheidung darüber, wie viele Medikamente verkauft werden, diese Entscheidung wird vom Markt gemacht, und dabei gibt es einen großen Unterschied, was Männer und Frauen betrifft. Bei den Frauen gibt es tatsächlich nur wenige spezielle Gruppen, für die eine Verschreibung derartiger Medikamente tatsächlich einen Vorteil oder Segen bringt.

L. Tiefer: Ich stimme Ihnen nicht zu, dass die Entscheidung vom Markt gemacht wird. Die Firma macht den Markt. Und in Abwesenheit einer ordentlichen Sexualerziehung und in Gegenwart all der druckgeschwängerten Erwartungen an Sexualität ist die Bevölkerung, die da den Markt gestalten soll, sehr verletzlich, sehr unsicher und beeinflussbar. Insofern, einfach nur so zu tun, als ob der Markt alles regeln würde, als ob die Firmen auf den Markt gar keinen Einfluss hätten ...

H. Porst: Nein, sie haben einen Einfluss, allein schon, indem sie die Leute, die Männer und die Frauen, dazu bringen, in die ärztlichen Praxen zu gehen. Wenn diese Leute aber realisieren, dass diese Medikamente gar nicht wirken, kommen sie nicht wieder, um sich ein neues Rezept zu holen.

L. Tiefer: Und was passiert dann mit ihnen? Ärzte fühlen sich nicht verantwortlich für dieses Umgehen mit ihnen. Sie sagen: „Nun versuchen sie doch mal diese Pille. Nun, das klappt nicht, okay. Schön.” Seitdem der Markt emporgeschossen ist und damit eine Menge an Unzufriedenheit mobilisiert hat, seitdem haben wir hier eine ganze Population, die sehr demoralisiert ist, auch sehr bitter und deprimiert. Und wo ist die Verantwortlichkeit dafür?

H. Porst: Ich stimme Ihnen zu, aber ich habe auch keine Lösung dafür.

L. Tiefer: Genau deswegen sage ich, dass die Entwicklung dieser Medikamente verfrüht ist. So lange keine vertiefte Auseinandersetzungen darüber, was wir eigentlich mit weiblicher Befriedigung meinen, so lange ist es unverantwortlich, mit der Entwicklung dieser Medikamente zu beginnen.

H. Porst: Was meinen Sie damit verfrüht? Ich finde nicht, dass diese Medikamente verfrüht oder vorzeitig sind, weil diese Medikamente uns Ärzten Druck machen, uns mit allen möglichen Formen von sexuellen Problemen auseinanderzusetzen. Insofern ist es eine durchaus gewinnbringende Entwicklung für die Gesellschaft.

L. Tiefer: Ich glaube, das ist eine sehr ineffektive Art und Weise, von unseren Patienten zu lernen. Ich weiß aus meiner eigenen Lehrtätigkeit, dass die Menge an sexuologischer Weiterbildung, die junge Ärzte erhalten, ungefähr die Größe einer Teetasse hat, ca. 1 Stunde im ersten Jahr, 2 im zweiten Jahr. Und das ist alles, was sie erhalten.

PiD: Das ist in Deutschland eher noch weniger.

L. Tiefer: Und aufgrund der Gesundheitsversorgung werden die Leute zukünftig nicht zu den Spezialisten gehen, sie gehen zu ihrem Hausarzt. Der Hausarzt hat vielleicht 7 Minuten für jeden Patienten. Wie soll er also mit ihnen diskutieren? Er wird ihnen Rezepte schreiben. Nun, und insofern, denke ich, dass bevor wir ein größeres Verständnis darüber haben, wie und wovon menschliche Sexualität profitieren kann, profitieren in Wirklichkeit eigentlich nur die pharmazeutischen Formen.

H. Porst: Nun, der Punkt der sehr beschränkten Zeit in den medizinischen Praxen in USA genauso wie in Deutschland oder in anderen europäischen Ländern, den werden wir wahrscheinlich in diesem Leben nicht mehr lösen können. Insofern müssen wir andere Lösungen für unsere Patienten finden.

L. Tiefer: Nein! Und noch einmal: Sie glauben, weil wir ein großes soziales Problem haben, sollten wir Medikamente anbieten. Ich meine, weil wir ein großes soziales Problem haben, sollten wir nicht Medikamente anbieten.

PiD: Vielleicht ist es gut, diese Diskussion für die weitere Reflexion unserer Leserinnen und Leser von PiD am Ende offen zu lassen. Und ich würde gerne von Ihnen zum Schluss noch einen Gedanken wissen, der Ihren Wunsch für die Zukunft der Sexualität betrifft.

L. Tiefer: Ich glaube, dass Sexualität von vielen Menschen missverstanden wird und zwar wegen des langen Erbes von Religion und weil Leute ein mythologisches Verständnis von Sexualität haben. Sie glauben, dass Sexualität eine natürliche Funktion ist und dass es sich dabei primär um etwas Biologisches handelt. Und das ist ein Fehler. Sexualität ist ein kulturelles Phänomen, das den Körper in derselben Art und Weise nutzt, wie Musik ein kulturelles Phänomen ist und auch den Körper nutzt. Aber der Körper determiniert Sexualität nicht. Insofern ist mein Wunsch für die Zukunft, dass die allgemeine Öffentlichkeit dahin kommt, mehr und mehr zu verstehen, dass Sexualität eine Cafeteria der verschiedenen Möglichkeiten ist, wie Nahrung oder wie Musik. Und dass sie nicht nur einfach eine Sache von Gesundheit und auch nicht notwendigerweise mit Wohlbefinden verbunden ist, außer wenn Kultur das diktiert. Ich glaube, dass Menschen mehr Freiheit haben, sich umzuschauen und auszusuchen - und zwar nicht unter dem Diktat der Firmen oder des Markts -, wenn sie verstehen, dass Sex fundamental eine kulturelle und nicht eine natürliche oder biologische Sache ist.

H. Porst: Ich denke, Sex ist eine natürliche Sache und erfährt als solche Grenzen, sowohl durch kulturelle als auch durch religiöse Faktoren. Und meine persönliche Hoffnung bezüglich all dieser neuen Entwicklungen der pharmazeutischen Industrie ist, dass diese neuen Medikamente nicht allen Paaren, aber doch einer bemerkenswerten Anzahl von Paaren mit Konflikten mehr Freiheit und vielleicht auch mehr Möglichkeiten zur sexuellen Kommunikation eröffnen werden. Das ist meine persönliche Hoffnung, was diese Entwicklung betrifft. Insofern, muss ich sagen, bin ich eigentlich ganz glücklich mit dem, was wir haben und damit, dass wir möglicherweise in den nächsten paar Jahren einige Medikamente mehr entwickelt haben werden, die auch die zugrunde liegenden Strukturen, insbesondere des zentralen Nervensystems, betreffen werden.

PiD: Ich möchte Ihnen Beiden ganz herzlich für das durchaus kontroverse, aber auch faire Gespräch über die Medikalisierung von Sexualität danken.

1 Die Diskussion fand in Englisch und am Telefon statt.

2 Die vollständige englische Version des Interviews findet sich auf der Homepage www.thieme.de/pid

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