PiD - Psychotherapie im Dialog 2001; 2(3): 356-359
DOI: 10.1055/s-2001-17173
Interview
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Lügen die Sexualität
betreffend

Michael  Mary, Steffen  Fliegel
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Publication Date:
14 September 2001 (online)

PiD: Herr Mary, Sie haben in diesem Jahr mit zum Teil sehr provokanten Thesen viel Öffentlichkeitsarbeit gemacht. In Ihrem aktuellen Buch befassen Sie sich mit der Sexualität in Partnerschaften. Sexualität ist auch das Thema unserer Zeitschrift. Welche Lügen existieren denn Ihrer Meinung nach zum Sex in Beziehungen?

M. Mary: Also die Grundlegendste ist wahrscheinlich die Behauptung, dass Sexualität zu einer Lebenspartnerschaft unbedingt dazu gehört. Oder dass die Liebe zu ihrem Ausdruck die Sexualität braucht. Oder dass Leidenschaft auch in der Langzeitbeziehung nicht zurückgehen müsse. Werden Beziehungen derart sexualisiert, halten sie kürzer.

PiD: Heißt das denn, dass sich so viele Paare in ihren Wünschen irren? Dass die Sexualität vielleicht verherrlicht wird, oder dass sie sich zu stark an von außen vorgegebenen Werten orientiert und eine lang andauernde Ehe gar nicht mit sexueller Leidenschaft in Einklang zu bringen ist?

M. Mary: Zumindest nicht im Sinne einer glatten Verbindung. Viele Therapeutinnen und Therapeuten erklären Sexualität sogar zur Grundlage einer dauerhaften Partnerschaft, mit Aussagen wie „Glückliche Paare haben eine glückliche Sexualität”. Nun gibt es aber jede Menge Paare, die sehr glücklich miteinander sind, aber wenig oder gar keine Partnersexualität mehr haben. Darüber hinaus muss man unterscheiden zwischen Sexualität, die in der Ehe schließlich noch stattfindet und leidenschaftlichem Sex. Dabei wird leicht behauptet, in der Ehe bräuchte die Sexualität ja nicht mehr leidenschaftlich zu sein, es würde genügen, wenn sie einigermaßen befriedigend ist. Aber die Menschen wollen intensive Leidenschaft erleben, das heißt Selbstvergessenheit, Selbsttranszendenz erleben, und in einer kontrollierten Sexualität passiert das eben nicht mehr.

PiD: Nun sagen Sie ja, dass Paare eigentlich auch damit überfordert sind, immer diese leidenschaftliche Sexualität, ich sage mal so, einzuplanen und danach zu streben, sie aber eigentlich die Lust, wie sie am Anfang einer Beziehung bestand, gar nicht mehr erreichen können. Nun kommen diese Paare aber zur Beratung und sagen, „Uns geht es eigentlich in der Beziehung ganz gut, nur beim Sex, da stimmt es nicht mehr”. Was haben denn Ihre Überlegungen für die Beratung für Konsequenzen?

M. Mary: Man kann sehen, welche Arrangements, vor allem welche Kompromisse geschlossen worden sind und versuchen, dort anzusetzen. Aber ich würde mal sagen, in den meisten Fällen ist der Rückgang der Leidenschaft eben nicht auf Konflikte zurückzuführen oder auf ungelöste Themen, wie es behauptet wird. Konflikte entstehen oft, weil die Leidenschaft zurückgeht, das wird dann wahrscheinlich oft durcheinander geworfen. Es ist ein ganz natürlicher Vorgang, wenn die Leidenschaft zurückgeht, weil die Harmonie sich durchsetzt. Wenn man harmonisch miteinander lebt, dann geht der Abstand verloren, auch der psychische. Die Distanz, die erotische Spannung nimmt ab, und Erotik besteht ja in der Grenzüberwindung. Aber zwischen Ehepaaren existieren bald keine Grenzen mehr, auf jeden Fall zu wenige. Da ist nichts mehr zu überwinden, da verliert die Erotik ihren Auftrag und dann ist es wirklich eine Überforderung, sie von der Beziehung auch noch zu erwarten. Wenn die Harmonie die Priorität ist, dann wird dafür ein Preis gezahlt und der heißt in den meisten Fällen Leidenschaft.

PiD: Ich muss aber noch mal nachfragen: die Paare kommen, weil im Bett Langeweile eingekehrt ist, und sie haben das Bedürfnis, durch eine Sexualberatung gerne wieder diese Leidenschaft zurückzugewinnen.

M. Mary: Wenn dieses Bedürfnis als Wunsch schon da ist „Wir wollen das durch eine Sexualberatung zurückgewinnen”, dann schicke ich sie in eine Sexualberatung, die mache ich nicht selbst. Dafür gibt es Spezialisten, deren Adressen ich weitergeben kann. Aber es kommen ja auch viele, die sagen, wir waren in einer Sexualberatung, und wir haben jetzt ein- oder anderthalb Jahre Paarberatung hinter uns; aber es ändert sich nichts. Oder für ein paar Wochen ist die Leidenschaft mal wieder aufgeflackert, und nun ist alles wieder beim Alten. Das heißt, viele glauben entweder von vornherein oder nach solch einem Versuch nicht mehr an den Erfolg der Rekonstruktionsversuche. Und dann geht es um die Auseinandersetzung mit den eigenen Vorstellungen und Erwartungen und um die Wertschätzung der Beziehung. Noch einmal: Eine Beziehung kann sehr gut sein, auch ohne dass sie Sexualität enthält.

PiD: Sie kann auch sehr schlecht sein und hat eine befriedigende Sexualität ...

M. Mary: Das wäre oft sogar eine Voraussetzung dafür, dass es bei der Sexualität noch stimmt, weil die psychische Distanz da ist, die dann im Bett versucht wird zu überwinden. Man feiert Versöhnung im Bett oder die Nähe findet dann im Bett statt. Während bei dem harmonischen Dauerpaar die Distanz, die sie im Alltag nicht mehr einnehmen, vorwiegend auf körperlichem Gebiet stattfindet.

PiD: Sie haben vorhin gesagt, häufiger sind es keine, ich sage mal, tiefer liegenden Konflikte, die die Sexualität stören. Aber wir wissen aus der psychotherapeutischen Arbeit, dass oft genau solche Konflikte, entweder individuell, also psychodynamisch oder auch paardynamisch eine lustvolle befriedigende Sexualität behindern. Was aber tun, wenn diese Konflikte existieren? Für die Paare sind solche Bedingungen natürlich zunächst ursächlich nicht greifbar. Sie sagen einfach, unsere Sexualität soll besser werden.

M. Mary: Natürlich kann man auch hier ansetzen. Wenn aufgrund mangelnder Aufklärung oder durch die persönliche Geschichte die Einstellung zur Sexualität sehr verkrampft ist, dann kann hier bestimmt geholfen werden. Ob denn die Erfolge da so groß sind, muss sich zeigen.

PiD: Oder verborgene Ängste in Bezug auf Sexualität oder durch Gewalterfahrungen ...

M. Mary: Gewalt ist ein eigenes Thema. Aber auch bei Ängsten und Verklemmtheiten halte ich eine Therapie oft für begrenzt. Ein Beispiel: Eine Frau entdeckt nach etlichen Jahren männerdominiertem Sex ihr Begehren. Sie hat einen Mann kennen gelernt, der fünf Nächte neben ihr schläft und sie sexuell ignoriert. Zum ersten Mal in ihrem Leben ergreift das Begehren Besitz von ihr, sie verführt ihn und erlebt in der Situation ihren ersten Orgasmus. Hätte eine Sexualtherapie zu dem Ergebnis kommen können? Wie hätte sie einen Mann dazu gebracht, fünf Nächte still zu halten. Wäre es möglich gewesen, durch Übungen und Anforderungen ihr Begehren in ähnlicher Weise zu erwecken? Das muss bezweifelt werden. Ich bin aber kein Gegner der Paar- oder Sexualtherapie. Ich bin ein Gegner der Versprechen, die oft ausgesprochen oder unausgesprochen gemacht werden.

<$>raster(11%,p)="LOGO_PID"<$>Noch ein Beispiel?

M. Mary: Also, mir schreibt eine Frau ihre Geschichte, beschreibt über den Zeitraum von mehreren Jahren den Niedergang ihrer Sexualität, weil sie sich von ihrem Mann da nicht gewürdigt fühlt. Sie sagt „Er masturbiert im Grunde in mich hinein”, und sie hält es aus. Das Ganze geht über Jahre und landet im Vorwurf an sie „Du bist frigide”, und sie glaubt es fast selbst. Dann passiert ihr ein Seitensprung, und in diesem Seitensprung erlebt sie die Leidenschaft, die Zärtlichkeit, alles das, was sie sich gewünscht hat. Und sie kann nun mit Fug und Recht sagen „Von wegen frigide”. Jetzt betrachten wir diese Situation mal anders: Wären die beiden fünf Jahre früher in die Behandlung, in die Therapie gegangen, wäre es der Frau dann möglich gewesen, zum gleichen Ergebnis zu kommen? Hätte die Frau in gleich intensiver Art erfahren können, dass sie nicht frigide ist? Was hätte sie alles dafür ändern müssen: Mehr Selbstbewusstsein aufbauen, Kommunikationsfähigkeit aufbauen, Konfliktfähigkeit aufbauen, ein Zehnjahresprogramm. Ich vertrete eher die Auffassung, dass eine Paartherapie bestimmte Prozesse unterstützen kann, aber nicht ersetzen. Und in der Therapie und in der Literatur wird der Eindruck hervorgerufen, eine Paartherapie könnte diese Prozesse ersetzen. Sie könnte dem Paar die Sexualität erhalten, sie könnte verhindern, dass der Seitensprung passiert, sie könnte einen so genannten reifen Umgang mit der Sexualität hervorbringen, der immer tiefere und immer leidenschaftlichere Ergebnisse hervorbringt. Und das halte ich eben für viel zu große Machbarkeitsversprechen. Ich halte die Konflikte, die in der Partnerschaft passieren, für sehr viel wichtiger.

PiD: Also Konflikte als Chance für Veränderungen?

M. Mary: Genau, das hat sich ja in der Individualpsychologie durchgesetzt. Wenn jemand sagt, ich habe ein großes Problem, sagt der Psychologe innerlich, gratuliere, das ist ein Zeichen, dass Veränderung jetzt geschehen kann. In der Paartherapie hat sich diese Sicht noch nicht durchgesetzt. Da wird gleich vom Versagen gesprochen, bei Trennung sogar grundsätzlich.

PiD: Sie vertreten ja die These, dass das Paar sich selbst bestimmen muss, das heißt das Paar muss seine eigene Lösung finden, die ja ganz viele Facetten haben kann. Ob und wie es weiter zusammenleben oder ob es sich trennen will. Oder ob es sagt, wir leben zusammen, aber Sex woanders. Welchen Auftrag bekommen denn Ihrer Meinung nach dabei die Beraterinnen und Berater?

M. Mary: Der Auftrag wäre, die Partner in ihren Prozessen zu begleiten und nicht, ihnen eine Ideologie und Maßstäbe zu vermitteln. In der Paartherapie werden die Paare aber durchaus mit Ideologien konfrontiert, die man in entsprechenden Büchern nachlesen kann. Da werden Statements abgegeben zu Seitensprüngen, ob sie sein sollen oder nicht, ob Nebenbeziehungen möglich sind oder nicht, ob Treue wichtig ist. Sich selbst und ihre Ansichten können Therapeuten aus ihrer Beratung auch kaum heraushalten. Am krassesten ist das in der christlichen Eheberatung, da spielt der liebe Gott mit und der Arbeitgeber auch. Das heißt, wenn sich Paare darüber im Klaren sind, dass sie auch Ideologien begegnen, können sie schon prüfen, ob sich das mit ihrer eigenen Ideologie deckt oder nicht. Das wäre ein wichtiger Punkt.

PiD: Rosemarie Welter-Enderlin sagt, es gibt gute Geheimnisse und schlechte Geheimnisse. Soll ein Seitensprung immer besprochen werden?

M. Mary: Auf keinen Fall. Das hängt von den Regeln ab, die die Partner miteinander haben. Also, manche haben das ja vereinbart. Und manche nehmen intuitiv auf, dass sie sagen, ne, ne, das wäre eine zu große Verletzung, da schweigen wir mal lieber drüber. Und das ist dann gesünder als darüber zu sprechen.

PiD: Psychologie kann nicht alles, was sie verspricht, haben Sie gesagt. Was kann sie denn nicht?

M. Mary: Sie kann den Menschen die Lebensprozesse nicht abnehmen. Sie kann helfen, das Leid zu verarbeiten, aber sie kann ihnen nicht das Leid ersparen. In dem Sinne von „Wenn wir nur alles richtig machen, dann bleiben uns diese Prozesse erspart und wir sind für immer zusammen”. Sie können das wirklich regelrecht nachlesen: Die Aufgabe der Sexualität sei es, sich dem Anderen zu schenken usw. Da wird Sexualität auf die Langzeitbeziehung, auf die Ehe im Grunde genommen zurechtgetrimmt und alle orgastischen, alle selbstvergessenen, alle erotischen Komponenten werden geleugnet oder es wird versucht, sie in die Ehe zu zerren. Da hat sich die Therapie des Auftrags angenommen, die Ehe in der traditionellen Form zu erhalten. Ob das heute noch zeitgemäß ist, wird nicht nachgefragt.

PiD: Nun streben aber, wie gesagt, Männer, Frauen und Paare diese leidenschaftliche Sexualität auch in langen Partnerschaften an. Sollte man die Menschen nicht frühzeitig vor solchen Illusionen warnen, dass sich dieser Mythos von der lebenslangen leidenschaftlichen sexuellen Beziehung nicht in die Köpfe einpflanzt? Oder aus den Köpfen verschwindet ... wie kann das gehen?

M. Mary: Was man dazu beitragen kann, dass das aus den Köpfen geht?

PiD: Ja.

M. Mary: Zum Beispiel mein Buch lesen.

PiD: Aber es hört sich so resignierend an. Man sagt den Leuten im Prinzip dann, dass das, was sie wollen, nicht geht. Wie kann denn die positive Botschaft lauten?

M. Mary: Resignierend in Bezug auf ein überzogenes Ideal, das wäre gesund und befreiend. Im Grunde genommen ist der heutige Beziehungsentwurf doch die Verlängerung der Verliebtheit. Und dann wird den Leuten gesagt, ihr müsst daran arbeiten, ja, das ist der liebste Begriff, die „Arbeit an der Beziehung” und die „Arbeit an der Sexualität”, dann ist das alles machbar, und dafür braucht ihr eben uns Experten und uns Spezialisten, und wir sagen euch, wie das gelingt.

PiD: Das heißt, auch die Experten müssen Ihrer Meinung nach aufhören, Beziehungsentwürfe vorzulegen, die dieser Realität nicht entsprechen. Das heißt, das Handwerkszeug auch entsprechend zusammenstutzen und sagen, die Möglichkeit besteht darin, einen individuellen Weg in der Beziehung zu finden. Aber eben nicht alles erreichen zu wollen, Zusammenleben, Kinder, Freizeit und auch noch glückliche Sexualität.

M. Mary: Also ich glaube schon, dass man sagen kann, dass die Paartherapie sich auf die Seite der, Dannecker nennt das auf die Seite der Kontinuität geschlagen hat. Sie versucht, die harmonische Seite der Beziehung zu unterstützen und nicht die leidenschaftliche. Die frühe Sexualtherapie nutzte die Masturbation oder bezog auch mal Prostituierte mit ein, entlieh sich also ein paar Werkzeuge und Mittel von der außerehelichen Sexualität und versucht so, Bedingungen der Leidenschaft zu berücksichtigen. In der Paartherapie aber werden die Bedingungen der Harmonie unterstützt, die Bedingungen der Leidenschaft, die ja zum großen Teil in der Distanz bestehen, in der psychischen Distanz auch, werden nicht unterstützt. Das ist ein Problem. Therapeuten sollten, bevor sie allzu viel versprechen, sich im eigenen Kreise mal umschauen und sich fragen, ob sie es selber besser hinkriegen. Und dann werden sie entdecken, dass sie genauso oft geschieden sind, dass die Leidenschaft genauso oft zurückgeht und dass Wege heute wirklich individuell gesucht werden müssen. Nehmen Sie Schmidbauer, der sagt zum Beispiel, er kennt Nebenbeziehungen, die mehrere Ehen überdauert haben. Das ist für mich eine wirklichkeitsnahe Betrachtung und nicht der Versuch, das wegzutherapieren, wegmachen zu wollen, sondern zu sagen, o. k. das gehört eben auch zu den Möglichkeiten und Lösungen, die Paare für sich gefunden haben. Und das sind für mich die interessantesten: Was machen eigentlich Partner, welche Wege finden sie völlig unabhängig von Therapie und Expertentum. Solche könnten natürlich von der Therapie auch unterstützt werden.

PiD: Die Forderung verstehe ich so, in die Beratung und Therapie durchaus das breite Spektrum der Sexualität mit aufzunehmen, dass Sexualität halt nicht nur in der Zweierbeziehung stattfindet, sondern auch durch Selbstbefriedigung oder im Fantasieerleben oder in anderen Beziehungen, das heißt also ...

M. Mary: Dass das möglicherweise völlig o. k. ist, heimliche oder offene Nebenbeziehungen zu führen und dass die auch genauso Gegenstand therapeutischer Unterstützung sein können wie die Ehe es auch ist.

PiD: Trotzdem noch mal mein Wunsch für eine positive Formulierung: Wenn die These falsch wäre, zu einer gesunden Beziehung gehöre ein gesunder oder befriedigender Sex, würde das ja erst einmal negativ formuliert heißen, dass eine gute Beziehung nicht unbedingt mit gutem Sex einhergehen muss. Aber wie kann dies Mut machend und nicht resignativ formuliert werden?

M. Mary: Die These „Eine Beziehung kann auch ohne Sexualität äußerst wertvoll sein und gut” finde ich sehr Mut machend, für Langzeitpaare allemal.

PiD: Können Sie eine Definition für „Sexuelle Störung” nennen?

M. Mary: Es gibt sie natürlich, aber es wird allzu leichtfertig mit dem Begriff umgegangen. Es wird schon oft von einer sexuellen Störung der Beziehung gesprochen, wenn die Wünsche eines oder beider Partner entweder phasenweise oder auch längerfristig nicht erfüllt sind.

PiD: Das heißt, diese Unzufriedenheit muss auch nicht gleich als Krankheit bezeichnet werden?

M. Mary: Genau. Wer zum Beispiel zu Beginn der Beziehung eine funktionierende Sexualität hatte und stellt nach einigen Jahren fest, dass die Lust zurückgeht, bei dem liegt bestimmt keine sexuelle Störung vor. Da zieht sich die Sexualität wohl eher aus der Beziehung zurück.

PiD: Die Veränderung der Sexualität ist also eine Normalität und keine Störung?

M. Mary: Und bezogen auf die Partnerschaft kann es eine ganz gesunde Entwicklung sein, die Sexualität sogar teilweise oder ganz zu tabuisieren. Sie ist für die Beziehung dann nicht mehr gefährlich. Die Dramen der Leidenschaft, all das belastet die Beziehung nicht mehr und sie kann harmonischer und länger dauern. Man muss sich einfach klar machen, dass diese westliche Kultur die einzige ist, die die Leidenschaft für die Ehe fordert. Die einzige weltweit, und man muss sich klar machen, dass man noch vor 200 Jahren dafür ausgelacht worden wäre, wenn man die Leidenschaft für die Ehe gefordert hätte. Im Mittelalter wurde Leidenschaft in der Ehe als Sünde betrachtet. Das verliert sich schnell aus den Augen und wird von diesem Ideal überdeckt. Aber die Mechanismen, die dahinter stehen, haben ihre Wirksamkeit ja nicht verloren. Also alle anderen Kulturen wissen, dass, wenn sie die Leidenschaft in einer Ehe haben, dass die Ehe dadurch gefährdet wird.

PiD: Welche Konsequenz hat das für die Paartherapie?

M. Mary: Paare zur partnerschaftlichen und partnersexuellen Normalität zu therapieren und das Störende sozusagen zu eliminieren, würde jede weitere Entwicklung von Beziehungsformen blockieren. Das heißt, das Störende, das Nichttherapierbare ist ja auch nötig, damit sich Beziehungsformen weiterentwickeln können. Und die Beziehungsformen entwickeln sich weiter und werden sich auch weiterentwickeln, trotz Paartherapie.

PiD: Wenn ich noch einmal das, was diesen therapeutischen Auftrag aus Ihrer Sicht ausmacht, zusammenfasse: Sie sind nicht gegen Paartherapie und auch nicht gegen Paarberatung. Sie möchten aber deutlich machen, dass sich Paartherapeuten nicht irgendwelcher Standardprogramme bedienen, die dann eine vermeintlich lustvolle Sexualität fördern sollen. Sondern es ist Ihnen wichtig, die Individualität jedes einzelnen Paares zu sehen und sich freizumachen von den vorherrschenden Normen über diese lebenslange lustvolle Sexualität und sich auch nicht anstecken zu lassen von diesen Zielsetzungen, mit denen die Paare oder Männer und Frauen in die Beratung kommen.

M. Mary: Vieles von dem, was gewünscht und was versprochen wird, ist nicht machbar und schafft Belastung und Selbstverurteilung. Es liegt letzlich nicht in den Händen von Partnern und Therapeuten, eine Beziehung zu lenken. Oft geht es darum, die Möglichkeiten und Grenzen einer Beziehung anzuerkennen, statt sie willkürlich verändern zu wollen. Dann können die Partner selbst herausfinden, welchen Wert diese Beziehung für sie hat und ihre eigenen Konsequenzen ziehen.

PiD: Vielen Dank für das Gespräch, Herr Mary. Ihre provozierenden Thesen sollten Fachleute zumindest zur Diskussion veranlassen.

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