PiD - Psychotherapie im Dialog 2001; 2(3): 313-321
DOI: 10.1055/s-2001-17171
Aus der Praxis
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Psychosomatik II:
Rückenbeschwerden und sexuelle Probleme

Hartmut  G.  Berwald
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Publication Date:
14 September 2001 (online)

Abstract

Anhaltende Kreuz- und Rückenschmerzen führen häufig zu einem sozialen Rückzug, im engeren Sinne auch zu Einbußen des sexuellen Erlebens und zu einem veränderten Sexualverhalten gegenüber dem Partner. Patienten mit persistierenden Rückenschmerzen im Sinne einer„somatoformen Schmerzstörung” beklagen allerdings Auswirkungen auf das sexuelle Verhalten in geringerem Umfang als Patienten mit einer chronischen Polyarthritis. Patienten mit entzündlichem Rheuma sind - ähnlich wie auch hüftoperierte
Patienten - wiederum gegenüber einer Sexualberatung des behandelnden Arztes aufgeschlossener und dankbarer als Patienten mit unklarem Kreuzschmerz. Patienten mit einer Endoprothese begrüßen sogar eine Sexualberatung, um die Kohabitation angstfreier erleben zu können. Einige klassische Studien betonen nun, dass Störungen des sexuellen Erlebens mit zur Pathogenese des Kreuzschmerzes dann beitragen können, wenn die partnerschaftliche Beziehung konfliktbeladen im Sinne einer Zwickmühlensituation (Dilemma) erlebt wird. Wird in solchen Fällen innerpsychisch wie auch interpersonell eine Aussprache unmöglich, so können Schmerz und auch sexuelle Dysfunktion als Kommunikationsstörung resultieren. Diese Befunde fördern Hypothesen, die die unterschiedliche Einstellung von so genannten Schmerzpatienten zur Sexualberatung (Polyarthritis vs. somatoforme Störung) zu erklären versuchen.

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1 Burton, Robert (1577 - 1640): ,The Anatomy of Melancholy’ (dt. Schwermut der Liebe; 1621). In den Ausführungen zum Liebesschmerz wird auf das Zipperlein im Kreuz angespielt, wenn man in der Figur des lächerlichen Alten hinter einer jungen Frau her ist. Ähnlich ist die Figur des Pantalone in der Commedia del Arte gestaltet: szenisch und auch gestisch.

2 Zuletzt hat noch Josef Beuys („Die Kreuzschmerzen der Frau”; 1973) in Anlehnung an die berühmte Monographie von Martius die Implikationen des Themas aufgegriffen und eine Wachsarbeit gestaltet.

3 Auch körpersprachlich auf die Haltung bezogen: Entsprechende Anspielungen wechseln mit Anzüglichkeiten, wenn man das nach hinten gedrückte Becken einer sehr frommen Frau in hyperlordotischer Haltung glaubt kommentieren zu müssen.

4 Z. B. spekulativ gegenüber H. Heines Krankheitsverlauf (Montanus 1995). Siehe auch weiter oben der Hinweis von A. Sorbas in der Rolle des auktorialen Erzählers auf die Spätfolgen von Zeus Ausschweifungen: die Paralyse (d. i. im Allgemeinen die Lähmung, der Schlaganfall; auch: Bewegungslähmung; spezieller: die Auflösung bzw. fortschreitende Gehirnerweichung als Spätfolge der venerischen Erkrankung Syphilis).

5 Schirren (1977) hat in einem kasuistischen Beleg darauf aufmerksam gemacht, dass der ständig praktizierte Coitus interruptus Kreuzschmerzen bewirken kann - ohne auf die Psychodynamik einzugehen.

6 Im ,Zauberberg‘ von Th. Mann fungiert die gewagte These des vortragenden Dr. Krokowski als explanatives Konstrukt des euktorialen Erzählers für die jahrelange Aufenthaltsdauer des in Clawdia Chauchat verliebten Hans Castorp im Lungensanatorium.

Adresse des Autors

Dipl. Psych. Dr. phil. Hartmut G. Berwald

Psychosomatische Schmerz-Sprechstunde
Klinik und Poliklinik für Allgemeine Orthopädie
(Dir.: Prof. Dr. med. W. Winkelmann)
Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Albert-Schweitzer-Strasse 33

48129 Münster/Westf.

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